Inferno 02 / 088-090

dante inferno 02

Temer si dee di sole quelle cose
c'hanno potenza di fare altrui male;
de l'altre no, ché non son paurose.

wörtlich-nüchtern
Man soll sich nur vor jenen Dingen fürchten,
die wirklich Macht besitzen, anderen zu schaden;
vor den übrigen nicht, denn sie sind nicht furchtbar.

poetisch-eleviert
Nur was dem Menschen wahrlich schaden kann,
verdient, dass wir in Furcht vor ihm erbeben;
was sonst uns schreckt, hat keine Macht dazu.

freiere, psychologisch betont
Fürchte nur, was dich verletzen kann –
alles andere ist Trugbild der Angst,
nicht wert, dass man sich vor ihm beugt.

Kontext des Canto II

In diesem Canto zögert Dante noch, die Reise durch die Hölle anzutreten. Vergil, sein Führer, berichtet davon, dass Beatrice (die Gnade oder göttliche Liebe) ihn zu Dante gesandt hat. Die zitierten Verse stammen aus Vergils Rede, mit der er Dante beruhigt: Wenn Beatrice selbst (aus dem Himmel!) gekommen ist, um ihn zu retten, dann gibt es keinen Grund zur Furcht.
Diese Verse bilden das Argument der Vernunft gegen eine lähmende, irrationale Angst: Nur das, was realen Schaden anrichten kann, ist ein legitimer Grund zur Furcht – alles andere ist Schein.

Philosophische Grundlage: Stoizismus & christliche Vernunft

Dantes Zeilen sind von stoischer Denkweise durchdrungen – insbesondere von Seneca und Cicero beeinflusst. Im Zentrum steht die Idee, dass Angst eine Sache des Urteils ist: Nur das, was das moralische Wohl oder die Seele bedroht, verdient es, gefürchtet zu werden. Alles, was nur äußere Umstände betrifft (z. B. Armut, Schmerz, gesellschaftliche Schande), sollte nicht gefürchtet werden, weil es keinen Einfluss auf die Tugend hat.
Dieser Gedanke wird durch die christliche Eschatologie überhöht: Wahre Furcht ist die "timor Dei", die Gottesfurcht. Alles andere ist nur seelische Schwäche oder mangelndes Vertrauen in die göttliche Ordnung.

Sprachliche Feinheiten

»Temer si dee« ist eine Umkehrung der üblichen Wortstellung: »Man soll fürchten« – mit modaler Konnotation, also nicht emotional (»man fürchtet«), sondern normativ.
»hanno potenza di fare altrui male«: Es geht nicht um subjektive Bedrohung, sondern um reale Macht, anderen zu schaden.
»de l'altre no« – elliptisch, aber deutlich: von den anderen (Dingen) nicht, da sie »non son paurose« – nicht furchteinflößend sind.
Die Logik ist syllogistisch aufgebaut, fast scholastisch:
1. Nur Dinge, die objektiv schaden können, sind zu fürchten.
2. Die übrigen Dinge besitzen keine solche Macht.
3. Also sind sie nicht zu fürchten.

Psychologische Lesart

Vergil spricht hier zur Angst des Menschen vor dem Ungewissen, vor der Reise ins Jenseits. Die Verse sind ein Appell an den Mut zur Erkenntnis – man darf sich von bloßen Schatten, Vorstellungen, Einbildungen nicht abhalten lassen. Die Angst vor der Hölle selbst muss überwindbar sein, wenn man in der Führung der Gnade unterwegs ist.
Dante stilisiert seine eigene Furcht als universale menschliche Erfahrung. Vergil wirkt wie ein Vertreter der Vernunft, die den Menschen in seine höhere Bestimmung zurückruft.

Theologische Perspektive

Die Aussage entspricht auch einem zentralen christlichen Lehrsatz: Die eigentliche Gefahr liegt nicht im Körperlichen, sondern im Verlust der Seele. Dies erinnert an Matthäus 10:28:
»Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können.«
Ein direkter ideengeschichtlicher Zusammenhang ist wahrscheinlich.

Spiegelung in Dantes eigener Situation

Dante steht am Anfang seines Erkenntnisweges. Er ist hin- und hergerissen zwischen Angst und Berufung. Die Verse ermutigen ihn (und den Leser), dass der Weg durch die Nacht der Hölle notwendig ist, um das wahre Licht zu erkennen. Die Reise in die Tiefe ist gefährlich – aber nur dort, wo reale geistige Gefahr droht.
Dantes Verse formulieren eine Unterscheidung zwischen echter und eingebildeter Furcht: Nur Dinge, die realen Schaden zufügen können, verdienen es, gefürchtet zu werden.

Boethius – Consolatio Philosophiae

Boethius' Philosophie der inneren Freiheit stimmt mit Dantes Haltung überein. In Buch II erklärt Lady Philosophy:
> »Non est miser nisi reus; beatus autem nemo nisi innocens.«
> Nur wer schuldig ist, ist wirklich unglücklich – äußeres Unglück (oder Gefahr) ist irrelevant, wenn es die Seele nicht beschädigt.
Hier wird, ähnlich wie bei Dante, eine klare Trennung zwischen äußerem Leid und innerem Schaden gezogen. Furcht ist demnach nur vor dem moralischen Verfall oder der Sünde angebracht.

Jesus im Matthäusevangelium (10,28)

> »Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können. Fürchtet vielmehr den, der Seele und Leib ins Verderben der Hölle stürzen kann.«
Diese Aussage aus dem Neuen Testament ist thematisch fast identisch mit Dante: Wahre Furcht gebührt dem, was die unsterbliche Seele schädigt – nicht dem bloß Physischen.

Seneca – Epistulae Morales ad Lucilium

In Brief 13 schreibt Seneca über die Furcht:
> »Nihil mali est in rebus nisi ipse timor.«
> Es gibt nichts Schlimmes in den Dingen selbst – nur die Angst macht sie schlimm.
Diese stoische Haltung entkräftet die Macht äußerer Dinge über den Menschen und macht ihn dadurch frei – analog zu Dantes Argument: Was nicht wirklich schadet, ist nicht furchtbar.

Meister Eckhart

Der Mystiker sagt:
> »Der Mensch soll so frei sein, dass ihn weder Lob noch Schande berühren.«
Furcht entsteht laut Eckhart aus Bindung an das Ich. Wer mit Gott eins ist, fürchtet nicht mehr das Weltliche – auch hier ist die wirkliche Gefahr nur der Verlust des göttlichen Bezugs, nicht äußeres Leid.

Islamischer Sufismus – Rumi

Rumi schreibt:
> »Don't grieve. Anything you lose comes round in another form.«
Und an anderer Stelle:
> »Why should I fear? I am from Him. I will return to Him.«
Auch hier: Was dem Ego Angst macht, ist illusionär – die Rückkehr zu Gott ist das Einzige, was zählt, und das ist keine Bedrohung, sondern Erlösung. Furcht ist nur da sinnvoll, wo sie auf Entfremdung von Gott verweist.

William Shakespeare – Julius Caesar

> »Cowards die many times before their deaths; / The valiant never taste of death but once.«
Auch Shakespeare betont, dass Furcht nicht auf objektiven Gefahren beruht, sondern auf innerer Schwäche – der Tapfere kennt keine eingebildeten Tode.
Dantes Unterscheidung zwischen echter und falscher Furcht steht somit in einer langen Reihe spirituell-philosophischer Einsichten, die auf innere Klarheit, moralische Unterscheidungskraft und seelische Freiheit zielen. Seine Zeilen haben also eine weite Resonanz, von der Antike über die Bibel bis zur Mystik.

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