Inferno 02 / 082-084

dante inferno 02

Ma dimmi la cagion che non ti guardi
de lo scender qua giuso in questo centro
de l'ampio loco ove tornar tu ardi”.

wörtlich-nahe Version
Doch sage mir den Grund, warum du nicht scheust,
hinabzusteigen in dies Zentrum hier,
fort aus dem weiten Ort, nach dem dein Herz verlangt.

poetisch-freie Version
Doch sprich: Was treibt dich an, hinabzusteigen
in diese Tiefe, diesen dunklen Kern –
fort aus dem Reich, zu dem dein Sehnen fliegt?

mittlere Version
Doch sag, was hält dich nicht zurück davor,
hinabzusteigen in dies finstre Herz
aus jenem weiten Ort, nach dem du dürstest?

Kontext

Diese Verse sprechen Vergil zu Dante, nachdem dieser ihm berichtet hat, dass Beatrice ihn aus dem Himmel herabgesandt hat, um ihm beizustehen. Vergil hat Dantes Zweifel entkräftet und erklärt, dass er selbst von der Gnade Beatrices bewegt wurde. Nun aber fragt Dante seinerseits erstaunt, warum ein erhabener Geist wie Vergil überhaupt bereit ist, in die Inferno-Region hinabzusteigen.

Sprachliche Mittel

a. Rhetorische Frage (»Ma dimmi la cagion…«)
Die Formulierung mit "dimmi la cagion" ist direkt und vertraulich. Dante stellt Vergil eine existenzielle Frage: »Was ist der Grund?« – dahinter steckt ein ehrfürchtiges Staunen, vielleicht auch ein impliziter Zweifel an der Ordnung der Dinge.
b. Kontraststruktur:
»scender qua giuso in questo centro« (hinabsteigen hierher in dieses Zentrum): Die mehrfach gestaffelte Herabbewegung (scender, qua giuso, questo centro) betont die Tiefe und Unheimlichkeit der Hölle.
»de l'ampio loco ove tornar tu ardi«: Das ampio loco (der »weite Ort«) ist das Gegenteil dieses »Zentrums«. Es steht metonymisch für das Paradies oder zumindest den Himmelssphärenbereich, zu dem Vergil, als Edler der Antike, nur durch Vermittlung zugelassen wird.
c. Metapher: »tornar tu ardi«
"du brennst darauf zurückzukehren": Diese Wendung verleiht Vergil emotionale Tiefe – seine Sehnsucht nach dem »weiten Ort« (als Bild des göttlichen Ursprungs) wird fast wie eine mystische Glut dargestellt.

Theologische und philosophische Dimension

Vergils Status als »pagano virtuoso«:
Vergil ist ein tugendhafter Heide, dessen Platz im Jenseits nicht im Himmel liegt. Seine Anwesenheit im Inferno ist also keine Strafe, sondern Teil der göttlichen Ordnung. Trotzdem deutet Dante hier an, dass auch ein solch edler Geist wie Vergil einen inneren Drang («ardi”) zum Licht hat.
Das Zentrum als Ort der Gottesferne:
Das »Zentrum« (der Mittelpunkt der Erde) ist bei Dante auch der fernste Punkt von Gott – Luzifers Sitz. Vergils Bereitschaft, sich dorthin zu begeben, hebt seine Güte hervor und unterstreicht das Ausmaß seiner Hilfeleistung.
Anspielung auf das aristotelische Weltbild:
Die Vorstellung, dass Gott das »äußerste« Prinzip (Empyreum) und das Böse im Erdmittelpunkt lokalisiert ist, ist hier präsent. Dante bedient sich dieser kosmologischen Topographie, um ethische Orientierung zu veranschaulichen.

Innerer Konflikt Dantes

Dante fragt aus Staunen, aber auch aus Schuldgefühl: Warum setzt sich ein edler, reiner Geist wie Vergil dieser Dunkelheit aus – nur um ihn zu retten? Die Frage enthält ein Echo von Dantes eigener Unsicherheit über seine Rettungswürdigkeit. Dies ist ein zentrales Thema im gesamten Inferno.

Stilistische Besonderheit

Dante verwendet hier keine überladene Rhetorik, sondern hält die Formulierung schlicht. Dadurch kommt die emotionale Intensität umso stärker zur Geltung: Staunen, Angst, Demut – alles in einem einfachen, dreigliedrigen Satzgefüge.
Diese Zeilen spricht Dante zu Vergil. Er fragt ihn, warum er sich nicht davor fürchtet, in die Tiefe der Hölle hinabzusteigen, aus jenem "weiten Ort", nach dem er so sehr verlangt zurückzukehren – also aus dem Limbo oder der metaphysischen Heimat der edlen Geister.
Augustinus – Confessiones und das Seelenverlangen
Dantes Formulierung »de l'ampio loco ove tornar tu ardi« erinnert an die augustinische Vorstellung von der amor Dei, dem sehnsuchtsvollen Streben der Seele nach Gott bzw. nach ihrer wahren Heimat. In den Confessiones (I,1) heißt es:
»fecisti nos ad te, et inquietum est cor nostrum donec requiescat in te.«
(»Du hast uns auf dich hin geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.«)
Vergils »Ardore« nach dem »weiten Ort« lässt sich als Spiegel dieser augustinischen Unruhe lesen – eine allegorische Projektion der menschlichen Sehnsucht nach metaphysischem Ursprung, obwohl Vergil als Heidengeist diesen Ort selbst nicht erreichen kann. Dante setzt Vergil somit in den Kontext der augustinischen Anthropologie, in der das Herz trotz Getrenntheit von Gott ein Wissen und Sehnen nach der Quelle bewahrt.
Thomas von Aquin – Mut, Vernunft und göttlicher Auftrag:
Vergils Furchtlosigkeit, die Dante hier verwundert, verweist auf die thomanische Tugendlehre. Nach Thomas ist fortitudo (Tapferkeit) die Tugend, die Angst in rechten Bahnen hält, besonders angesichts des Todes oder größter Gefahr (STh II-II q.123). Doch Thomas macht auch deutlich: Wahre Tapferkeit ergibt sich nicht nur aus innerer Stärke, sondern aus Orientierung an der ratio recta (der rechten Vernunft) und göttlichem Willen.
Vergil handelt aus einem göttlichen Auftrag (über Beatrice vermittelt), also in Übereinstimmung mit der höchsten ratio divina. Seine »Angstfreiheit« steht im Dienst einer höheren Ordnung, was thomanisch als vollkommen tugendhaft gewertet würde. Dante fragt nach dem Grund dieser Furchtlosigkeit – implizit geht es hier also um ein Nachdenken über Gnade, Vernunft und göttlich legitimiertes Handeln.
Mittelalterliche Visionsliteratur – Reise ins Jenseits mit göttlicher Legitimation:
Die Szene erinnert in ihrer Dramaturgie stark an die mittelalterliche Tradition der Visionsliteratur (z. B. die Visio Pauli, die Visio Tnugdali, oder die Revelatio Sancti Fursei). In diesen Texten gibt es häufig einen Engel oder Seelenführer, der eine ängstliche Seele durch die Orte des Jenseits leitet. Typisch ist dabei der Moment der Vergewisserung: Der Reisende fragt, warum der Führer nicht zögert oder Angst hat.
Dantes Frage an Vergil greift dieses Motiv auf, evoziert zugleich aber auch eine theologisch-philosophische Reflexion: Die Reise in das Zentrum des Bösen wird nicht aus Neugier oder Strafe unternommen, sondern aus einem höheren, transzendent motivierten Zweck – wie auch in den Visionen die Erlebnisse dem Seelenheil dienen sollen. Damit reiht sich Dantes Werk bewusst in diese Tradition ein, überbietet sie aber zugleich literarisch und intellektuell.

Fazit

Die Verse 82–84 führen ein Scharniermoment ein: Dante hinterfragt das Verhältnis zwischen göttlichem Auftrag, persönlicher Furcht und metaphysischer Ordnung. In diesem Dialog verdichtet sich ein zentrales Motiv der Commedia – das Paradox des Heilshandelns durch einen "nicht Erlösten". Die Stelle oszilliert zwischen augustinischem Sehnen, thomanischer Tugendethik und dem erzählerischen Muster der mittelalterlichen Visionsliteratur – ein tief codierter Moment, der Dantes dichterisch-theologisches Programm sichtbar macht.

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