Inferno 02 / 079-081

dante inferno 02

tanto m'aggrada il tuo comandamento,
che l'ubidir, se già fosse, m'è tardi;
più non t'è uo' ch'aprirmi il tuo talento.

wörtlich-nah und klassisch-feierlich
So sehr gefällt mir dein Gebot,
dass's schon zu spät scheint, dir zu gehorchen;
nur noch musst du mir deinen Willen offenbaren.

poetisch-fließend und emotional
Dein Befehl erfreut mein Herz so sehr,
dass ich schon zögre, nicht gehorcht zu haben;
sag mir nur noch, was du beabsichtigst.

modern und dialogisch
Dein Wunsch ist mir so lieb,
dass ich das Gefühl habe, ich hätte längst gehorchen sollen;
sag mir nur noch, was genau du willst.

Analyse

Diese drei Verse gehören zu einer Schlüsselszene in Canto II, in der Vergil dem zögernden Dante Mut zuspricht, die Reise durch die Unterwelt anzutreten. Dantes Antwort auf Vergils Worte markiert den Moment seiner inneren Entscheidung, seiner »conversione del cuore« (Herzensumkehr), im klassischen Sinne der mittelalterlichen Bekehrungsliteratur.

Vers 79: »tanto m'aggrada il tuo comandamento,«

»comandamento« – wörtlich »Gebot« oder »Befehl«, hat biblische Konnotationen (vgl. die Zehn Gebote).
»m'aggrada« – bedeutet nicht bloß »gefällt mir«, sondern drückt intensive Zustimmung aus, eine innere Angleichung an den Willen des anderen.
Der Vers deutet an, dass Vergils Worte nicht nur logisch überzeugen, sondern auf emotionaler und spiritueller Ebene Zustimmung finden.
→ Interpretation: Dante empfindet Vergils »Auftrag« nicht als Last, sondern als beglückende Fügung, als göttlich vermitteltes Gebot.

Vers 80: »che l'ubidir, se già fosse, m'è tardi;«

Wörtlich: »dass (mir) das Gehorchen, wenn es schon geschehen wäre, zu spät wäre«.
Die paradoxe Formulierung (»se già fosse« – »wenn es schon geschehen wäre«) drückt eine tiefe innere Bewegung aus: Dante wünscht sich rückwirkend, bereits gehorcht zu haben.
»m'è tardi« – nicht im Sinne von »zu spät«, sondern: »es erscheint mir zu spät, es nicht schon getan zu haben«.
Interpretation: Der Wunsch, dem Wort Vergils zu folgen, ist so stark, dass er beinahe Reue empfindet, es nicht schon intuitiv getan zu haben. Dies ist Ausdruck totaler Willensübereinstimmung – eine »praeparatio animi«, wie man sie aus der mystischen Literatur kennt.

Vers 81: »più non t'è uo' ch'aprirmi il tuo talento.«

»più non t'è uo'« – veraltet für »non hai più bisogno« – »du brauchst nichts weiter«.
»talento« – im mittelalterlichen Italienisch: Wille, Neigung, Absicht (nicht: »Begabung« im modernen Sinne).
»aprirmi il tuo talento« – »mir deinen Willen offenbaren«.
Interpretation: Dante hat keine weiteren Bedenken. Er bittet nur noch um Klarheit über den konkreten Plan – er ist nun bereit, im vollen Vertrauen zu handeln.
Thematische Kontexte:
Anselm von Canterbury: Die Spannung zwischen »credere per intelligere« und »intelligere per credere«: Dante entscheidet sich, zuerst zu glauben und dann zu verstehen.
Augustinus: Die Bewegung des Willens als Motor der Seele zur Wahrheit – hier verdichtet im Satz »m'è tardi«: der Wille eilt der Handlung voraus.
Thomas von Aquin: Der »actus voluntatis« als Weg zur Glückseligkeit; Dante ergreift diesen Akt im Vertrauen auf die Autorität Vergils (und damit Beatrices).

Funktion im Canto

Diese Passage markiert den entscheidenden Wendepunkt vom Zweifel zur Zustimmung.
Sie ist auch eine rhetorisch geschliffene Geste der Demut: Dante stellt sich ganz unter die Führung.
Gleichzeitig signalisiert sie das poetische Selbstbewusstsein Dantes: Er zeigt, dass wahrhafte Erkenntnis und poetischer Ausdruck eine Einheit bilden können – im Dienst der Transzendenz.
In diesen Worten spricht Dante, nachdem Vergil ihn zur Rettung aufgerufen hat. Er bekennt, dass ihm der Auftrag so sehr gefällt, dass es ihm fast zu spät scheint, ihn noch nicht erfüllt zu haben: Das Ausführen wäre mir schon fast zu spät — so gern folge ich deinem Befehl. Die Bereitschaft zur Hingabe ist total. In dieser Haltung klingt eine tiefgehende spirituelle Dynamik an, die mit verschiedenen mystischen Traditionen in Beziehung gesetzt werden kann:
1. Bonaventura: Das affectus-Prinzip
Der heilige Bonaventura, der eine theologische Synthese aus augustinischer Innerlichkeit und franziskanischer Liebesmystik entwickelt, legt starkes Gewicht auf die conversio cordis — die Umkehr des Herzens — als Voraussetzung für die Gotteserkenntnis. In seiner Itinerarium mentis in Deum (Aufstieg der Seele zu Gott) beschreibt er eine Bewegung der Seele, die von bloßem Wissen zu einem glühenden Verlangen nach Gott führt:
> »Non est igitur nisi excitare desiderium \[...]«
> (Itin. prol.4)
Die Bereitschaft Dantes, sofort zu handeln, weil das Verlangen (desiderium) bereits entzündet ist, spiegelt diese Dynamik wider: Nicht bloße Einsicht, sondern der affektive Impuls (wie Bonaventura sagen würde: affectus) drängt ihn voran.
2. Johannes vom Kreuz: Der Liebesdrang zur Einigung
Johannes vom Kreuz beschreibt in seiner Aufstieg zum Berge Karmel und im Lied der geistlichen Liebe (Cántico espiritual) eine völlige Hingabe der Seele an den göttlichen Geliebten. Besonders im Cántico B artikuliert sich ein ähnliches Motiv:
> »All meine Anmut ist nur für ihn da, und alle seine Schönheit gehört mir allein.«
> (Cántico, Strophe 12)
Auch Johannes betont, dass in dem Moment, in dem der Ruf Gottes vernommen wird, das Herz nicht zögert, sondern sich ganz hingibt — in einer Art überstürzender Eile, fast mit Reue über das bisherige Zögern:
> »Schon wäre ich aufgebrochen, hätte ich ihn nur früher gehört!«
Dieser Impuls entspricht Dantes Aussage, dass er beinahe schon zu spät mit dem Gehorsam kommt — weil seine Liebe zur göttlich vermittelten Aufgabe (durch Vergil) so unmittelbar ist.
3. Sufismus: Hadithe und das »schnelle Gehen« Gottes
In der islamischen Mystik (Tasawwuf) gibt es einen bekannten Hadith qudsi (ein Ausspruch, in dem Gott selbst spricht, übermittelt durch den Propheten), der lautet:
> »Wenn Mein Diener Mir eine Spanne entgegenkommt, komme Ich ihm eine Elle entgegen; wenn er zu Mir geht, eile Ich zu ihm.«
> (Sahih al-Bukhari, Nr. 7405)
Dieser Hadith betont die sofortige und überreiche Antwort Gottes auf den kleinsten Impuls des Menschen zur Hingabe. Die Eile, mit der Dante dem göttlichen Befehl begegnen will (»se già fosse, m'è tardi«) spiegelt diesen Impuls wider: das mystische Bewusstsein, dass jede Verzögerung inakzeptabel ist, wenn das Herz zum Höchsten aufbricht.
Auch bei Rūmī findet sich eine verwandte Idee in seinem Masnavi:
> »Die Liebe ist ein Tau, den Gott herablässt, damit wir an ihm aufsteigen.«
Dantes Bereitschaft, sich dem talento (dem Willen Gottes, wie er ihn durch Vergil vernimmt) zu öffnen, entspricht dem Vertrauen des Sufis, dass der göttliche Wille durch unmittelbare Bewegung und Affekt begegnet wird, nicht durch Zaudern oder Vernunftabwägung.

Fazit

Dantes Verse 79–81 zeigen eine mystische Sofortbereitschaft, die in mehreren Traditionen anklingt:
bei Bonaventura als affektive Umkehr,
bei Johannes vom Kreuz als leidenschaftliche Hingabe an den Geliebten,
und im Sufismus als eilige Bewegung Gottes auf den, der sich ihm nur leicht zuneigt.
Dantes Haltung ist keine rationale Entscheidung, sondern ein überwältigter innerer Impuls — Ausdruck einer Seele, die bereits vom Licht berührt ist.

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