Inferno 02 / 070-072

dante inferno 02

I' son Beatrice che ti faccio andare;
vegno del loco ove tornar disio;
amor mi mosse, che mi fa parlare.

poetisch-hochsprachlich
Ich bin Beatrice, die dich weiterführt;
ich komme aus jenem Ort, nach dem mein Sehnen strebt;
die Liebe trieb mich an, sie lässt mich sprechen.

wörtlich und klar
Ich bin Beatrice, die dich gehen lässt;
ich komme von dem Ort, zu dem ich zurückverlangen habe;
die Liebe bewegte mich, sie bringt mich zum Sprechen.

frei und emotional
Ich bin Beatrice, und ich schicke dich auf deinen Weg.
Ich komme von dort, wohin mein Herz zurückverlangt.
Es war die Liebe, die mich antrieb und durch mich spricht.

Vers 70: "I' son Beatrice che ti faccio andare"

"I' son Beatrice" – Die direkte Selbstvorstellung stellt ihre Identität klar und markiert zugleich den Höhepunkt einer dramatischen Enthüllung. Sie ist keine Allegorie, keine bloße Idee – sie ist Beatrice selbst, eine lebendige, sprechende Macht.
"che ti faccio andare" – Wörtlich »die dich gehen lässt« oder »die dich fortschickt«. Das Verb far andare trägt die Bedeutung von "jemanden in Bewegung setzen", aber auch von »den Weg ermöglichen«. Sie ist die Ursache und Initiatorin von Dantes Reise – in mehrfacher Hinsicht:
real (sie schickt Vergil zu ihm),
psychologisch (sie ist der Grund seines inneren Strebens),
theologisch (sie ist die Verkörperung der göttlichen Gnade und Liebe).

Vers 71: "vegno del loco ove tornar disio"

"del loco" – Das »der Ort«, von dem sie kommt, ist der Himmel – genauer: der Paradiesbereich, in dem sie nach dem Tod weilt. Sie verlässt ihn vorübergehend aus Barmherzigkeit.
"ove tornar disio" – »wohin ich zurückverlange«: Ihr eigentliches Sehnen gilt nicht dieser Welt, sondern dem Himmel. Dieses Motiv hat tiefe Wurzeln in der mittelalterlichen Mystik und in Augustinus' berühmter Formel: "Unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir."
Ihre freiwillige Entfernung vom göttlichen Ort aus Mitleid verweist auf ein christologisch-gnadenhaftes Motiv: die Herabneigung Gottes zu den Menschen – ein conatus descendendi, wie man sagen könnte.

Vers 72: "amor mi mosse, che mi fa parlare"

"Amor" – Amor steht hier nicht für ein abstraktes Gefühl, sondern für eine göttlich motivierte, durch und durch theologisch geladene Kraft: die caritas. Es ist dieselbe Liebe, die in der Commedia »die Sonne und die anderen Sterne bewegt« (Paradiso XXXIII, 145).
"mi mosse" – Der Impuls zur Handlung kommt nicht aus Pflicht, sondern aus Liebe. Diese Liebe steht über dem Intellekt, sie bringt Beatrice nicht nur in Bewegung, sondern befähigt sie auch zur Sprache.
"che mi fa parlare" – Die Sprache selbst wird zum Medium der Liebe. Die Liebe ist Ursprung der Mitteilung, Beatrice wird zur prophetischen Stimme – ganz im Sinne der augustinischen inneren Lehrerin.

Theologische und literarische Bezüge

1. Augustinus' Confessiones:
Die Bewegung der Seele zu Gott ist immer eine Bewegung der Liebe.
Beatrices Herkunft und ihr Sehnen zurück zum "Ort" erinnern an die nostalgia Dei, das Grundthema der Confessiones.
2. Thomas von Aquin:
Beatrice handelt aus caritas, nicht aus reinem Mitgefühl. In thomistischer Perspektive ist caritas die höchste Tugend, weil sie den Menschen mit Gott vereint.
Auch der Gedanke, dass das Erkennen des Guten zur Bewegung führt, spiegelt sich hier: Sie erkennt Dantes Not – und wird durch Liebe zur Tat und zur Rede bewegt.
3. Mittelalterliche Visionsliteratur:
Wie viele Seher im Mittelalter wird Dante von einer übernatürlichen Gestalt begleitet, doch hier ist es nicht ein Engel oder ein abstrakter Führer, sondern eine konkrete Person, die zugleich Allegorie und transzendierte Realität ist.
Der »Besuch« aus dem Jenseits, um einen lebenden Menschen zu einer inneren Wandlung zu führen, ist ein typisches Motiv mittelalterlicher Visionsliteratur – aber Dante verleiht ihm durch Beatrices Persönlichkeit emotionale und existentielle Tiefe.

Im Zusammenhang des gesamten Canto II

Canto II des Inferno ist das sogenannte canto proemiale dell'azione, das vorbereitende Gesang, in dem Dante sich weigert weiterzugehen, da ihn Zweifel und Angst überkommen. Er fragt sich, ob er der Reise durch die jenseitigen Reiche würdig sei, und vergleicht sich mit Aeneas und Paulus – beide mythologisch oder theologisch legitimierte Jenseitsreisende.
Die Selbstzweifel Dantes fordern Vergils ausführliche Reaktion heraus: Er erzählt, dass Beatrice – eine gesandte aus dem Himmel – ihn aufgesucht habe, um Dante zu retten. In dieser Szene ist Beatrices Identität und ihr Antrieb von zentraler Bedeutung. Die erwähnten Verse enthüllen drei entscheidende Aspekte:
Beatrices Identität wird in klarer, direkter Weise offenbart: »I' son Beatrice« – ihr Name allein genügt als Autorität.
Ihr Ursprung ist das Paradies (»del loco ove tornar disio«), also ein Ort vollkommener Glückseligkeit – sie kehrt freiwillig daraus zurück.
Ihr Motiv ist Amor – die göttliche Liebe, die zugleich emotional und metaphysisch motiviert ist. Diese Liebe gibt ihr die Kraft zu sprechen und aktiv zu handeln.
Somit wird Beatrice zur Verkörperung einer christlich-neuplatonischen Idee: Die Seele wird durch Liebe (caritas) zur Bewegung gebracht – eine Liebe, die aus Gott stammt und zum Heil führt.

Im Hinblick auf Vergils Reaktion im Folgevers

Unmittelbar nach diesen Versen reagiert Vergil tief bewegt.
Emotionale Ergriffenheit: Er weint, als er von Beatrices Worten spricht – ein bemerkenswerter Akt für die Figur Vergils, der klassisch als Vertreter der Vernunft gilt. Seine Tränen deuten an, dass er von der Reinheit und Stärke der göttlichen Liebe tief bewegt ist.
Licht in den Augen (»occhi lucenti«) verweist auf eine Art erleuchtete oder durch göttliche Präsenz verklärte Emotion. Vielleicht spiegeln sich hier die Ausstrahlung Beatrices oder ihre himmlische Herkunft.
Handlungsimpuls: Diese Worte bewegen Vergil zur Eile – er zögert nicht, sondern eilt zu Dante, um ihn zu retten.
Hier ergibt sich ein subtiles Zusammenspiel zwischen Ratio (Vergil) und Grazia (Beatrice): Die Vernunft allein hätte Dante wohl nicht retten können – aber wenn sie sich von der göttlichen Liebe bewegen lässt, wird sie zur wirksamen Vermittlerin des Heils.

Fazit:

Beatrices Worte markieren einen Wendepunkt im Canto II: Sie begründen das Eingreifen des Himmels, legitimieren die Reise Dantes und zeigen, dass göttliche Liebe selbst in der Hölle wirksam wird. Vergils Tränen und sein sofortiges Handeln zeigen, dass auch die menschliche Vernunft – wenn sie sich der Liebe beugt – Werkzeuge des Heils sein kann. Damit ist die Bühne bereitet für den Beginn der eigentlichen Reise.

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