Inferno 02 / 067-069

dante inferno 02

Or movi, e con la tua parola ornata
e con ciò c'ha mestieri al suo campare,
l'aiuta, sì ch'i' ne sia consolata.

wörtlich-nah, poetisch
»Nun geh, und mit deinem geschmückten Wort
und mit dem, was er braucht zu seinem Bestehen,
hilf ihm, dass ich dadurch getröstet werde.«

sinnentsprechend, stilistisch elegant
»Nun mache dich auf und unterstütze ihn mit deiner kunstvollen Rede
und mit allem, was nötig ist, um ihn zu retten,
damit ich im Herzen Trost finde.«

frei-interpretierend, betont emotional
»So geh nun los – sprich zu ihm in schöner Sprache
und gib ihm, was er braucht, um heil hindurchzukommen.
Hilf ihm – damit auch ich Erleichterung finde.«

Analyse

Diese Verse spricht Beatrice zu Vergil, den sie darum bittet, Dante in der Unterwelt zu geleiten. Der Kontext ist der berühmte zweite Gesang des Inferno, in dem die Szene hinter Dantes Rettung ins Licht tritt: Eine himmlische Kette der Fürsprache, initiiert durch die Jungfrau Maria, dann Lucia, dann Beatrice – und schließlich der Dichter Vergil, der Beatrices Bitte Folge leisten soll.
Vers 67: »Or movi, e con la tua parola ornata«
»Or movi«: Aufforderung zur Bewegung – sowohl physisch (»geh«) als auch rhetorisch (»handle«). Die Dringlichkeit und Autorität Beatrices wird hier spürbar.
»parola ornata«: Das »geschmückte Wort«, ein Ausdruck für die stilistisch erhabene, kunstvolle Sprache Vergils. Es verweist auf sein dichterisches Können – das hier zum Mittel der Rettung wird.
Auch eine Anspielung auf die ars rhetorica: Sprache hat hier nicht nur ästhetische, sondern wirkmächtige Funktion.
Vers 68: »e con ciò c'ha mestieri al suo campare«
»ciò ch'ha mestieri«: Archaisch für »was nötig ist« – hier gemeint sind sowohl Worte als auch Weisheit, Mut, psychologische Führung.
»al suo campare«: Wörtlich: »zu seinem Überleben«, »damit er sich durchschlägt« – in diesem Kontext bedeutet das geistiges, moralisches und seelisches Fortkommen.
»Campare« ist ein alltagsnahes Wort, das in Spannung zur erhabenen »parola ornata« steht – ein bewusster Stilbruch, der Beatrices tiefe Sorge um das konkrete Heil Dantes unterstreicht.
Vers 69: »l'aiuta, sì ch'i' ne sia consolata«
Der Fokus verschiebt sich: Nicht nur Dante soll gerettet werden, auch Beatrice sehnt sich nach Trost durch Dantes Rettung.
»i’ ne sia consolata«: Ihre Anteilnahme ist nicht distanziert, sondern tief emotional. Ihre eigene »consolazione« hängt an Dantes Wohlergehen.
Diese Wendung gibt ihrer Bitte eine zarte, persönliche Note – Beatrice ist nicht bloß Engel oder Allegorie, sondern eine von Liebe bewegte Gestalt.

Thematische Tiefenstruktur

1. Retterin mit weiblicher Stimme:
Beatrice, Symbol der göttlichen Liebe und Theologie, spricht hier mit einer ganz menschlichen Dringlichkeit. Sie bittet, fleht fast – ihre Stimme hat Zärtlichkeit und Kraft. Dante hebt so die Bedeutung der Gnade hervor: Die Erlösung beginnt nicht mit göttlicher Strafe, sondern mit liebender Initiative.
2. Sprache als Rettungsmittel:
Das »geschmückte Wort« (parola ornata) ist mehr als Zierde – es ist das Werkzeug des Dichters, um zu retten, zu führen, zu trösten. Hier offenbart sich eine zentrale Überzeugung Dantes: Poesie als Heilsweg.
3. Zwischen Himmel und Erde:
Beatrices Sprache vermittelt zwischen den Sphären: Sie ist himmlisch inspiriert, aber zutiefst auf das menschliche Leiden bezogen. Sie stellt sich in den Dienst eines Menschen in Gefahr – überwindet so die Trennung zwischen Transzendenz und Immanenz.

Augustinus – Confessiones

Beatrices Rolle als Fürsprecherin und Mittlerin erinnert stark an das augustinische Verständnis der göttlichen Gnade und der Vermittlung durch Heilige. Besonders auffällig ist die Parallele zu Augustinus’ Darstellung seiner Mutter Monika, die für seine Bekehrung betet (z. B. Confessiones, III,11; VI,1). Beatrice bittet Vergil, Dante mit seiner «parola ornata” und mit allem, was nötig ist («ciò c'ha mestieri”), zu helfen – analog zur Bitte Monikas an Gott (vermittelt durch Ambrosius), ihren Sohn auf den Weg der Wahrheit zu führen.
Zudem verweist das Motiv des Trostes («sì ch'i' ne sia consolata”) auf das zentrale Thema der göttlichen Barmherzigkeit in den Confessiones: Nicht der Mensch rettet sich selbst, sondern durch Gottes Gnade und die Fürsprache der Heiligen wird er gerettet – ein Gedanke, der hier literarisch durch die Figur Beatrices verkörpert wird.

Thomas von Aquin – Summa Theologiae

Thomas spricht im Summa Theologiae (z. B. STh I-II, q.109–114) über die gratia praeveniens und die Rolle der Vernunft im Prozess der Erlösung. Beatrice ist das Symbol der Gnade (sie kommt vom Himmel), und sie bittet die menschliche Vernunft (symbolisiert durch Vergil), Dante zu helfen. Diese Kooperation zwischen Gnade und Vernunft ist thomanisch: Die Gnade bewegt den Menschen zur Erkenntnis und zum Handeln, aber sie wirkt durch die natürlichen Kräfte – hier: durch die ornata parola des Vernunftführers Vergil.
Dass Beatrice Vergil nicht nur zum Reden, sondern zur aktiven Hilfe auffordert («l’aiuta”), entspricht dem thomanischen Gedanken, dass göttliche Gnade zwar erste Ursache ist, aber durch geschaffene Mittel (instrumental causa) wirkt.

Mittelalterliche Visionsliteratur

In der mittelalterlichen Visionsliteratur – etwa in der Visio Tnugdali oder Visio Baronti – tritt häufig eine himmlische Gestalt auf, die einen himmlischen Boten darum bittet, eine Seele durch das Jenseits zu führen. Die dabei oft beschworene Barmherzigkeit Gottes und die Bitte um Schutz erinnert stark an Beatrices Rede. Sie ist eine visionäre Gestalt, die wie ein Engel oder eine Heilige interveniert und das Heil der Seele bewirken will. Ihr Anliegen ist seelenheilbezogen – ein klassisches Motiv dieser Literatur.
Beispielhaft ist auch, dass sie eine hierarchisch übergeordnete Instanz (Maria und Lucia) zitiert und selbst nur vermittelnd wirkt. Dieses Vermittlungsmodell findet sich sehr häufig in Visionsberichten, in denen Heilige oder Engel im Namen Gottes oder Marias sprechen und handeln.
Beatrices Bitte an Vergil steht exemplarisch in einer theologischen und literarischen Tradition, die von Augustinus’ Gnadenverständnis über Thomas von Aquins Lehre von der Kooperation von Gnade und Vernunft bis hin zu klassischen Mustern mittelalterlicher Jenseitsvisionen reicht. Ihre Rede ist nicht nur poetisch «ornata”, sondern theologisch vielschichtig, indem sie das Ineinandergreifen von göttlicher Gnade, menschlicher Vermittlung und himmlischem Trost inszeniert.

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