e temo che non sia già sì smarrito,
ch'io mi sia tardi al soccorso levata,
per quel ch'i' ho di lui nel cielo udito.
poetisch-getreu
Und ich fürchte, dass er schon so verirrt ist,
dass ich zu spät zum Helfen mich erhob,
nach dem, was ich von ihm im Himmel hörte.
mit klarem Ausdruck
Ich fürchte, er ist bereits so verloren,
dass ich zu spät kam, ihm beizustehen –
nach dem, was ich über ihn im Himmel vernahm.
freier, dramatischer Ton
Ich fürchte, er hat sich so verirrt,
dass meine Hilfe nun zu spät kommt,
so wie der Himmel selbst mir von ihm sprach.
Kontextualisierung
Diese Verse werden von Beatrice gesprochen, als sie Vergil erklärt, warum sie Dante auf seiner Reise durch die drei Reiche des Jenseits unterstützen will. Sie hat sich in Sorge um Dante aus dem Himmel aufgemacht. Die Rede ist Teil des bedeutenden Dialogs im zweiten Canto, der die göttliche Initiative der Commedia offenbart: Die Rettung der Seele durch Gnade, Fürsprache und Liebe.
Sprachliche Analyse
Vers 64: »e temo che non sia già sì smarrito,«
»temo« – Ein starkes Verb, das Beatrices göttliche Sorge menschlich erscheinen lässt: Auch im Paradies gibt es Mitgefühl.
»non sia già sì smarrito« – ein klassisches Beispiel für das Stilmittel der Litotes: »non sia« (»dass er nicht sei«) bedeutet in diesem Kontext affirmativ »dass er ist«, also: »dass er vielleicht schon verloren ist«.
»smarrito« – suggeriert sowohl die räumliche Orientierungslosigkeit als auch den geistig-seelischen Zustand – Dante ist existentiell verloren.
Vers 65: »ch'io mi sia tardi al soccorso levata,«
»mi sia tardi… levata« – Ausdruck einer inneren Dringlichkeit. Beatrice hat das Gefühl, vielleicht zu spät zu kommen, obwohl sie aus himmlischer Sicht jenseits der Zeit steht.
»soccorso« – nicht nur »Hilfe«, sondern Heil, Rettung, eine fast christologisch konnotierte Interventionsform.
Vers 66: »per quel ch'i' ho di lui nel cielo udito.«
»per quel ch'i' ho... udito« – Hinweis auf göttliches Wissen, das sie von einer höheren Warte aus empfangen hat.
»nel cielo« – Diese himmlische Quelle legitimiert ihre Sorge: Beatrice handelt auf Grundlage göttlicher Eingebung.
Sie stellt sich damit in die Tradition der seligen Fürsprecher, etwa wie Maria oder die Heiligen – eine bedeutende theologische Setzung in Dantes Werk.
Theologische und poetische Tiefe
Diese Verse sind nicht nur Teil der narrativen Motivation für Dantes Reise, sondern führen zentrale Themen des gesamten Werks ein:
Göttliche Gnade: Obwohl Dante »verloren« scheint, macht sich Beatrice als Gnadenmittlerin auf den Weg – ähnlich der Funktion der Maria in der katholischen Heilsgeschichte.
Frau als Heilsträgerin: Beatrice verkörpert die donna angelicata, ein Ideal der Liebe, das nicht nur erotisch, sondern geistlich-heilsgeschichtlich ist.
Zeit und Ewigkeit: Obwohl aus dem Himmel kommend (also zeitlos), äußert Beatrice die Sorge, sie sei »zu spät« – das zeigt Dantes feines Spiel mit theologischen und poetischen Ebenen.
Vergleich mit Augustinus und Thomas von Aquin
Augustinus (Confessiones): Wie bei Augustinus ist das menschliche Leben ein peregrinatio, eine Irrfahrt, in der der Mensch sich »verliert« (smarrito) und nur durch göttliches Eingreifen zurückgeführt wird.
Thomas von Aquin: In thomistischer Tradition wird die gratia preveniens (vorlaufende Gnade) durch Beatrices Eingreifen verkörpert – sie ist Werkzeug göttlicher Vorsehung.