Inferno 02 / 055-057

dante inferno 02

Lucevan li occhi suoi più che la stella;
e cominciommi a dir soave e piana,
con angelica voce, in sua favella:

poetisch-elegisch
Ihre Augen leuchteten heller als ein Stern;
und sie begann, mir sanft und klar zu sagen,
mit engelsgleicher Stimme, in ihrer Sprache.

literarisch-genau
Ihre Augen strahlten stärker als ein Stern;
und sie begann zu mir zu sprechen, sanft und ruhig,
mit engelhaftem Klang, in ihrer eigenen Sprache.

ausdrucksstark, dramatisch
Heller als jeder Stern glänzten ihre Augen.
Dann sprach sie zu mir – sanft und ebenmäßig –
mit engelsgleicher Stimme, in ihrer Muttersprache.

Kontext

Im zweiten Gesang der Commedia, als Vergil erzählt, wie Beatrice ihn im Himmel aufsucht und bittet, Dante in der Unterwelt zu führen. Es ist der erste Auftritt Beatrices in der Commedia – nicht real, sondern vermittelt durch Vergils Bericht.

Vers 55: "Lucevan li occhi suoi più che la stella"

Wortwahl und Bildsprache:
Lucevan(leuchteten): Das Präteritum hebt das Licht als etwas gegenwärtig Strahlendes hervor.
li occhi suoi(ihre Augen): Augen als Spiegel der Seele – Beatrices innere Reinheit wird äußerlich sichtbar.
più che la stella(mehr als der Stern): »La stella« ist unbestimmt – es geht nicht um eine konkrete Himmelskörper, sondern um das archetypische, transzendente Licht der Sterne.
Symbolik:
Das Lichtmotiv verweist auf Beatrices göttliche Herkunft und ihre Rolle als Lichtträgerin (Licht → Erkenntnis → Gnade).
Ihre Augen sind keine weltlichen Augen mehr – sie leuchten überirdisch, fast wie himmlisches Licht.

Vers 56: "e cominciommi a dir soave e piana"

Grammatik:
cominciommi= »sie begann mir zu sagen«, archaisch-verschmolzene Form. Personalisiert – Beatrice richtet sich ganz Dante zu.
soave e piana: »sanft und ebenmäßig / ruhig« – beschreibt nicht nur den Tonfall, sondern auch die Haltung: ohne Pathos, aber mit liebevoller Autorität.
Wirkung:
Ihre Redeweise ist beruhigend, fast mütterlich.
Das Adjektivpaar evoziert eine Ordnung jenseits irdischer Aufregung – typisch für göttliche Rede.

Vers 57: "con angelica voce, in sua favella"

»con angelica voce«:
Die Stimme wird mit der eines Engels verglichen. Das betont sowohl die Reinheit als auch die geistige Autorität Beatrices.
In der Scholastik war die Stimme der Engel nicht wörtlich gedacht, sondern als unmittelbarer geistiger Ausdruck – Beatrices Stimme nähert sich diesem Ideal.
»in sua favella«:
Favella = »Sprache, Redeweise«, veraltet poetisch für lingua.
Sua weist auf Beatrices eigene Sprache hin – wahrscheinlich Latein oder ein himmlischer Idiolekt, im übertragenen Sinn aber einfach: »in der Sprache, die mir heilig ist«.
Es betont auch, dass die Kommunikation zwischen Beatrice und Vergil nicht zufällig oder verweltlicht ist, sondern Teil der göttlichen Ordnung.

Poetische Funktion im Gesamtwerk

Erhöht Beatrices Status:
Sie erscheint gleich beim ersten Auftritt als lichtvolle Mittlerin göttlicher Gnade – ganz im Gegensatz zu den dunklen Regionen der Hölle, in die Dante bald hinabsteigen wird.
Bruch mit der Antike:
Anders als antike Musen ist Beatrice keine bloße Inspiration, sondern eine theologisch begründete, personale Macht.
Sprachlich-musikalischer Effekt:
Die weichen Konsonanten (v, l, s) in diesen Versen schaffen einen fast melodischen Klangfluss.
Der Rhythmus verlangsamt sich – wie die Erscheinung eines Wunders.

Stilistische Gegenüberstellung mit Paradiso XXX

Im 30. Gesang des Paradiso beschreibt Dante das himmlische Licht der Rose und das Antlitz Beatrices zum letzten Mal:
Licht- und Sprachmotivik
In beiden Cantos ist Beatrice Trägerin einer transzendenten Erscheinung:
In Inferno II leuchten ihre Augen »mehr als ein Stern«, die Stimme ist »engelhaft« und »soave e piana«. Ihre Sprache ist noch dem Irdischen nah, aber durch göttliche Anmut verklärt.
In Paradiso XXX ist Beatrice selbst nicht mehr individuell wahrnehmbar (»una sola parvenza«) – sie geht auf im »vivo lume«, im lebendigen Licht. Ihre Form bleibt gleich, aber Dantes veränderte Sichtweise verwandelt die Erscheinung.
Stilistische Mittel
Vergleich und Lichtmetaphorik: Beide Stellen arbeiten mit stark leuchtenden Bildern. Während in Inferno der Vergleich mit einem Stern noch romantisch-erhaben ist, wird in Paradiso das Licht zur alles durchdringenden Präsenz Gottes.
Sprechart: In Inferno ist Beatrices Rede »soave e piana« – weich und ruhig –, was auf Trost und Vertrauen zielt. In Paradiso verschmilzt sie mit dem Licht, sie spricht nicht mehr direkt, sondern vermittelt Erkenntnis durch Schau (visio), nicht mehr durch Worte.
Funktional
Die stilistische Entwicklung von Beatrices Erscheinung zwischen Inferno II und Paradiso XXX spiegelt Dantes poetische und theologische Bewegung vom Symbol zum Sakrament, vom Bild zur Schau, von der irdisch inspirierten Anmut zur überirdischen Lichtgestalt.
In Inferno ist Beatrice Mittlerin der Gnade: ihre Schönheit und Stimme motivieren Vergil zur Hilfeleistung.
In Paradiso ist sie Wegbereiterin der mystischen Schau: ihre Schönheit führt zu einer Aufhebung der Sinne und schließlich zum »trasumanar«.

Dieser Beitrag wurde unter Inferno abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert