Da questa tema acciò che tu ti solve,
dirò perché venni e quel ch'io 'ntesi
nel primo punto che di te mi dolve.
nah am Original, leicht poetisch
Damit du dich von dieser Furcht befreist,
will ich dir sagen, warum ich kam
und was ich hörte, als mir dein Leid erschien.
freier, modern-literarisch
Um dich von deiner Angst zu erlösen,
will ich dir sagen, was mich hergeführt hat
und was ich erfuhr, als ich zuerst dein Elend empfand.
wortgetreu, formnah
Damit du dich löst aus dieser Angst,
will ich dir sagen, warum ich kam
und was ich vernahm, als dein Schmerz mich traf.
Kontext
Diese Verse erscheinen im zweiten Gesang des Inferno, wo Vergil auf Dantes Zweifel und Angst reagiert. Dante fürchtet sich vor der Reise durch die Hölle, da er sich für unwürdig und schwach hält. Vergil versucht ihn zu beruhigen und zu motivieren, indem er erklärt, wie und warum er überhaupt als Führer zu Dante gesandt wurde – im Auftrag einer himmlischen Macht (Beatrice, Lucia, Maria).
Sie zeigen exemplarisch Dantes Fähigkeit, Philosophie, Theologie, Psychologie und Poesie in eine dichte dramatische Sprache zu gießen. Sie markieren eine Schwelle: Die rationale und spirituelle Motivation der Commedia wird erstmals direkt ausgesprochen – und zwar nicht durch den Dichter selbst, sondern durch seine allegorische Vernunft (Vergil). Das gibt der Reise ihre erste »objektive« Legitimation und öffnet das Tor zur eigentlichen Abstiegserzählung.
Vers 49: »Da questa tema acciò che tu ti solve«
»Da questa tema« – »Von dieser Furcht« oder »aus dieser Angst«: Das Wort tema bedeutet »Furcht« oder »Scheu«.
»acciò che tu ti solve« – »damit du dich davon löst«: solvere bedeutet »lösen«, ti solve ist reflexiv, also »dich befreist«.
Es geht darum, Dantes Angst aufzulösen, indem man sie mit Wissen (Erkenntnis) begegnet. Die rationale Erklärung wird zur Medizin gegen emotionale Lähmung.
Vers 50: »dirò perché venni«
»dirò« – »ich werde sagen«: Futur, was die Entschlossenheit und Unmittelbarkeit betont.
»perché venni« – »warum ich gekommen bin«: Die Reise Vergils hat einen klaren göttlichen Ursprung, der nun erklärt werden soll.
Vergil stellt sich hier nicht als eigensinnig Handelnder dar, sondern als Werkzeug eines höheren Willens. Das entlastet Dante moralisch: Die Reise ist nicht seine eigene Hybris, sondern Teil eines göttlichen Plans.
Vers 51: »e quel ch’io ’ntesi nel primo punto che di te mi dolve«
»quel ch’io ’ntesi« – »was ich hörte / erfuhr«: Intendere bedeutet »vernehmen« oder »verstehen«, in diesem Kontext eher ein inneres Hören – ein Ruf.
»nel primo punto« – »im ersten Moment« oder »im ersten Augenblick«: Zeigt Spontaneität, Dringlichkeit.
»che di te mi dolve« – »als ich Schmerz um dich empfand«: Wörtlich »was mich schmerzte von dir«, also »als mir dein Zustand Leid tat«.
Dieses »dolere« (Schmerz empfinden) verweist auf Mitleid und Mitgefühl. Vergil zeigt sich als einer, der Anteil nimmt – ein Humanist vor der Zeit. Das »dolve« hat zugleich eine theologische Dimension: die göttliche Ordnung empfindet Leid über die Seelenverwirrung des Dichters.
Stilistische und poetologische Bemerkungen
Rhythmus und Struktur: Die drei Verse sind eng miteinander verschränkt. Das »dirò« leitet zwei Objekte ein (»perché venni« und »quel ch’io ’ntesi...«), was syntaktische Spannung erzeugt und den inhaltlichen Bogen zwischen Ursache und Wirkung spannt.
Psychologischer Aufbau: Der emotionale Zustand Dantes (Angst) wird nicht einfach widerlegt, sondern umarmt und aufgelöst durch Zuwendung, Erklärung und Anteilnahme.
Dramaturgie: Dies ist der Beginn einer längeren Rede Vergils, in der sich eine kaskadierende Rettungskette offenbart: Maria – Lucia – Beatrice – Vergil – Dante. Diese Verse fungieren als Türöffner zur Theophanie des Erbarmens.