la qual molte fïate l'omo ingombra
sì che d'onrata impresa lo rivolve,
come falso veder bestia quand'ombra.
poetisch-metaphorisch
die oft den Menschen schwer bedrückt
und ihn von ehrenvollem Werk zurückruft,
wie einer, der im Dunkel Scheingestalt für Bestie hält.
wörtlich-nah
Sie (die Furcht) bedrängt den Menschen viele Male,
sodass er sich von ehrenvollem Tun abwendet,
wie wenn man in der Dunkelheit ein Trugbild für ein Tier hält.
stilistisch erhöht
die oft den Geist des Menschen niederdrückt
und ihn von ehrenvoller Tat abbringt,
gleich dem, der in Schatten ein Ungeheuer wähnt.
Analyse
Diese drei Verse gehören zu den schönsten psychologischen Miniaturen der Divina Commedia. Dante fasst hier das Wesen der lähmenden Angst zusammen – nicht als reale Gefahr, sondern als geistige Illusion, die nur durch Mut, Erkenntnis und Führung überwunden werden kann.
Kontext des Canto II
Der zweite Gesang des Inferno spielt vor dem eigentlichen Höllengang. Dante, als Pilger und Erzähler zugleich, zögert. Die Reise ins Jenseits ist furchterregend. In einem inneren Monolog schildert er seine Zweifel und Ängste. Vergil, sein Führer, muss ihn erst überzeugen, weiterzugehen. Die Verse 46–48 erscheinen im Rahmen einer Reflexion über Angst als hemmende Kraft.
Semantische Analyse der Verse
V. 46: la qual molte fïate l’omo ingombra
»Die (Angst), die oft den Menschen bedrängt.«
la qual: bezieht sich auf paura (»Furcht«), in V. 44 genannt.
molte fïate: »viele Male«, Betonung auf Wiederholung und Alltäglichkeit dieser Erfahrung.
l’omo ingombra: »den Menschen belastet, bedrückt, hemmt« – ingombrare bedeutet wörtlich »verstellen«, »blockieren«. Hier wird die Angst als Hindernis verstanden.
🡒 Angst wird nicht pathologisiert, sondern als universale menschliche Erfahrung dargestellt, die aktiv blockiert.
V. 47: sì che d’onrata impresa lo rivolve
»sodass sie ihn von ehrenvollem Werk abbringt.«
d’onrata impresa: »ehrenvolle Unternehmung/Tat«. Bedeutet etwas Großes, Schwieriges, aber Würdiges.
lo rivolve: wörtlich »wendet ihn ab« oder »kehrt ihn um« – ein starker Ausdruck innerer Umkehr, fast eine Flucht.
🡒 Angst lässt den Menschen vom rechten, mutigen Weg abweichen – nicht durch Erkenntnis, sondern durch ein lähmendes Gefühl.
V. 48: come falso veder bestia quand’ombra
»wie einer, der im Dunkel ein Tier wähnt, wo nur ein Schatten ist.«
falso veder: »falsches Sehen«, also eine Täuschung der Sinne, die sich auf Angst gründet.
bestia: ein Tier, das Gefahr symbolisiert – hier Sinnbild der eingebildeten Bedrohung.
quand’ombra: »wenn (es nur) ein Schatten ist« – also ein Irrtum, verursacht durch Dunkelheit.
🡒 Die Metapher ist zentral: Angst entsteht durch Unwissenheit und Projektion. Der Mensch fürchtet nicht das, was da ist, sondern das, was er zu sehen glaubt.
Bildstruktur und Bedeutungsebene
Die Verse greifen auf ein archetypisches Bild zurück:
Der Mensch in der Dunkelheit,
das trügerische Sehen,
die Imagination, die zur Realität wird –
eine uralte psychologische Konstellation.
Vergil argumentiert hier rational gegen Dantes Angst: Sie sei wie ein Schatten, den man für eine Bestie hält – eine Projektion. Angst erscheint real, ist es aber nicht.
Philosophische Dimension
Die Stelle zeigt eine Ethik des Handelns gegen die Angst. Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst, sondern die Fähigkeit, sich von ihr nicht bestimmen zu lassen. Dante steht für das Streben nach einer »onrata impresa« – das ist auch ein Bild des spirituellen Wegs insgesamt.
Vergleich mit weiteren Stellen
Ein ähnliches Motiv kehrt an anderen Stellen wieder:
In Inferno IX, als Dante vor den Dämonen zögert.
In Purgatorio, wo die Angst vor Läuterung thematisiert wird.
In Paradiso, wo die »Furcht« durch das überwältigende Licht ersetzt wird – eine transfigurierte Form der Ehrfurcht.