«S'i' ho ben la tua parola intesa»,
rispuose del magnanimo quell'ombra,
«l'anima tua è da viltade offesa;
wörtlich und treu
»Wenn ich dein Wort recht verstanden habe«,
antwortete jener edelmütige Schatten,
»so ist deine Seele von Feigheit verletzt.«
poetisch-literarisch
»Versteh ich recht, was du gesprochen hast«,
entgegnete die große Seele im Schatten,
»so hat die Feigheit dein Herz verwundet.«
frei und psychologisch
»Wenn ich dich richtig verstehe«,
sprach der edle Geist in dunkler Gestalt,
»dann nagt die Kleinmut an deiner Seele.«
Kontext
Diese Zeilen stammen aus dem zweiten Gesang der Commedia, wo Dante sich vor Beginn seiner Reise durch die Hölle von Zweifeln und Angst überwältigt fühlt. Er ist sich nicht sicher, ob er der Reise würdig ist. Er spricht mit Vergil, der von Beatrice gesandt wurde, um ihn zu führen.
Die Worte stehen im Zentrum eines dramatischen Moments innerer Krise: Dante hat gezögert, seine Reise anzutreten, von Zweifeln gequält, ob er dieser Aufgabe würdig oder gewachsen sei. Vergil antwortet mit einer psychologisch wie metaphysisch gewichtigen Diagnose: Dantes Seele ist "von Feigheit (viltade) verletzt".
Vers 43: »S'i' ho ben la tua parola intesa«
– Dies ist Vergils Antwort an Dante. Er beginnt vorsichtig: »Wenn ich dich richtig verstanden habe …«
– Die Konstruktion S'i' ho ben… deutet auf ein sorgfältiges Abwägen hin. Vergil nimmt Dantes Angst ernst, aber bereitet sich auf eine Widerrede vor.
– La tua parola ist mehr als nur »deine Worte« – es meint die ganze Aussage, das Bekenntnis Dantes, das von Unsicherheit und Selbstzweifel geprägt ist.
Vers 44: »rispuose del magnanimo quell'ombra«
– Der Ausdruck del magnanimo quell'ombra ist charakteristisch für Dantes Ausdrucksweise: »der edelmütige Schatten« steht für Vergil, eine Seele der Antike, würdig und großherzig.
– Ombra bezeichnet hier nicht bloß ein Gespenst, sondern eine ehrwürdige Seele im Schattenreich der Toten.
– Magnanimo (von magnus animus) bedeutet nicht nur »edel«, sondern »von großem Geiste«, jemand, der über persönlichen Ängsten steht – ein Kontrast zu Dantes Zustand.
Vers 45: »l'anima tua è da viltade offesa«
– Dies ist der zentrale Vorwurf, den Vergil formuliert: Dantes anima, seine Seele, ist »von Feigheit verletzt« (offesa).
– Viltade (heute »viltà«) meint nicht bloß Feigheit im heutigen Sinne, sondern eine moralische Schwäche: Mangel an Tugend, ein Sich-Zurückziehen vor dem Wahren und dem Guten.
– Offesa ist stark: Die Seele ist regelrecht »beleidigt« oder »verwundet« durch diese Schwäche – es ist also nicht nur ein Zustand, sondern ein Schaden an der geistigen Würde Dantes.
Thematische Bedeutung
1. Konflikt zwischen Berufung und Angst:
Dante ist dazu berufen, eine göttlich inspirierte Reise zu unternehmen – aber er zögert. Die Zeile benennt genau diesen Zwiespalt zwischen göttlicher Bestimmung und menschlicher Schwäche.
2. Feigheit als moralisches Versagen:
In der mittelalterlichen Ethik ist »viltade« nicht einfach ein emotionaler Zustand, sondern ein moralisches Versagen – ein Verstoß gegen die Tugend der fortitudo (Tapferkeit). Dante steht hier also in Gefahr, sein Seelenheil zu gefährden.
3. Vergils Rolle als Seelenführer:
Indem Vergil dies ausspricht, erfüllt er seine Funktion als psychopompos – der seelische Führer, der nicht nur leitet, sondern auch konfrontiert. Er stellt Dante vor eine Entscheidung: bleibst du im Schatten deiner Angst, oder folgst du dem Ruf zur Selbsterkenntnis?
Beziehung zu anderen Stellen in der Commedia
Diese Verse markieren die erste explizite Thematisierung eines Grundmotivs, das sich durch das gesamte Werk zieht: die Notwendigkeit der Überwindung existenzieller Lähmung durch göttlich inspirierte Führung.
Purgatorio I, 121–129: Auch dort wird die »viltade« als das erste Hindernis auf dem Läuterungsweg beschrieben. Cato fordert die Seelen auf, sich mutig in die Buße zu begeben: »Libertà va cercando, ch'è sì cara…«
Inferno IX, 46–48: Wieder zögert Dante, als sie vor die Mauern von Dis treten. Vergil muss göttliche Hilfe anfordern. Auch hier ist die Ursache Furcht und Selbstzweifel.
Paradiso XVII, 127–142: Im Gespräch mit Cacciaguida wird rückblickend Dantes Mut gewürdigt, in der Wahrheit zu beharren, selbst wenn sie unbequem ist. Was hier »virtù« ist, war am Anfang gefährdete »virtù« durch »viltade«.
Verbindung zu theologischen und mystischen Traditionen
Die Rede von der »viltade« (Feigheit) ist mehr als ein persönlicher Vorwurf: Sie steht im Zusammenhang mit einem zentralen Thema der mittelalterlichen Theologie und Mystik – der Würde und Freiheit der menschlichen Seele, besonders im Hinblick auf ihre Antwort auf göttlichen Ruf (vocatio divina).
Thomas von Aquin (Summa Theologiae, IIa-IIae, q. 123): Feigheit (timiditas) ist eine Sünde gegen die Tugend der Tapferkeit (fortitudo) und wird als Mangel an Vertrauen in die göttliche Hilfe gedeutet. Das korrespondiert mit Dantes Zögern, trotz der himmlischen Auftraggeberin Beatrice.
Meister Eckhart: Auch in seiner mystischen Theologie ist die Seele oft zu träge, sich in Gott zu versenken, aus Angst, sich selbst zu verlieren. Die »viltade« bei Dante könnte mit dieser Trägheit der »Gelassenheit« kontrastiert werden.
Augustinus (Confessiones VIII, 11): Die Szene der inneren Lähmung vor der Bekehrung ist ein Schlüsselbild. Wie Augustinus zögert Dante nicht aus intellektuellem Zweifel, sondern weil seine »anima« von einer lähmenden »viltade« befallen ist – einer Mischung aus Angst, Selbstzweifel und sündhafter Trägheit.
Fazit
Dantes viltade ist ein poetisch verdichteter Ausdruck für einen theologischen und existenziellen Zustand: Der Mensch erkennt den Ruf zum Guten, aber die Freiheit ist durch Furcht oder Trägheit blockiert. Vergils Rede zielt nicht auf psychologische Aufmunterung, sondern auf eine tiefere Diagnose: Nur durch Gnade (Beatrices Intervention) und den Mut zur transzendenten Orientierung kann die Seele geheilt werden. Die Szene ist somit ein Spiegel sowohl persönlicher Krise als auch universeller conditio humana, eingebettet in mittelalterliche Ethik und Mystik.