Inferno 02 / 028-030

dante inferno 02

Andovvi poi lo Vas d'elezïone,
per recarne conforto a quella fede
ch'è principio a la via di salvazione.

wörtlich-poetisch
Dort stieg hinab das auserwählte Gefäß,
um Trost zu bringen jener Glaubenswahrheit,
die Anfang ist der Straße des Heils.

theologisch-klar
Dorthin begab sich einst das erwählte Gefäß,
um die Glaubenslehre zu bestärken,
die den Beginn der Erlösung bildet.

poetisch-bildhaft
Dorthin ging das Gefäß der göttlichen Wahl,
den Glauben zu stärken, der den Weg eröffnet
zur rettenden Fahrt der Seele.

Analyse

1. Kontext innerhalb des Canto II
Der zweite Gesang (canto di esitazione) dient als Übergang zwischen Einleitung und eigentlicher Höllenreise. Dante zögert, da er sich unwürdig für solch eine göttliche Mission empfindet. Vergil berichtet ihm, dass Beatrice aus dem Himmel kam, um ihn zu retten – und erwähnt dabei Paulus als Beispiel dafür, dass ein Mensch den jenseitigen Bereich zu Lebzeiten betreten kann. Diese Verse gehören zu Vergils Rede.
Vers 28 – »Andovvi poi lo Vas d'elezïone«
Lateinischer Ursprung und biblische Quelle:
»Vas electionis est mihi iste...« (Apg 9,15) – »Dieser ist mir ein auserwähltes Gefäß.«
Paulus wird in der Apostelgeschichte so von Gott selbst bezeichnet, als dieser Ananias offenbart, dass Saulus (der spätere Paulus) berufen sei, sein Wort zu den Heiden zu tragen. Dante bezieht sich auf diese Formulierung mit »lo Vas d'elezïone«.
Interpretation:
»Vas« (Gefäß): Sinnbild für die innere Aufnahme göttlicher Gnade und Offenbarung.
»d'elezïone« (der Erwählung): Betonung der göttlichen Initiative – Paulus ist nicht aus eigener Kraft dorthin gegangen, sondern wurde erwählt.
Paulus dient hier als typologisches Vorbild für Dante: Auch er betrat als Lebender symbolisch den jenseitigen Bereich (z. B. in 2 Kor 12,2–4: Vision des dritten Himmels).
Vers 29 – »per recarne conforto a quella fede«
Analyse:
»per recarne conforto« – »um davon Trost zu bringen«: Gemeint ist, dass Paulus' Vision das Christentum stärkt, insbesondere dessen übernatürliche Grundlagen.
»a quella fede« – »jenem Glauben«: Die katholische Glaubenswahrheit, in der der Glaube nicht auf Vernunft allein beruht, sondern Offenbarung, Vision und Zeugnis benötigt.
Dantes Theologie (Augustinus, Thomas von Aquin) betont: Paulus' Vision hat die veritas fidei gestützt, sie durch Erfahrung bestätigt.
Vers 30 – »ch'è principio a la via di salvazione«
Analyse:
»principio« – »Anfang«: Glaube ist der erste Schritt auf dem Weg der Erlösung (via salutis), vor Tugend, Hoffnung und Liebe.
»via di salvazione« – Begriff aus der scholastischen Theologie: Der Weg zur Erlösung beginnt mit der fides informis (unvollkommener, aber echter Glaube), die später durch caritas vollendet wird.
Dante bezieht sich hier auf ein soteriologisches Modell, das durch Theologie des Hochmittelalters (besonders Thomas von Aquin, Summa Theologiae) geprägt ist: Ohne Glauben kein Zugang zur rettenden Gnade.
Zusammenschau und tiefergehende Deutung
1. Poetische Funktion
Dante legitimiert seine eigene Jenseitsreise durch Berufung auf biblische Autorität: Wenn Paulus dorthin gehen konnte, ist seine Reise nicht gänzlich vermessen. Gleichzeitig kontrastiert er seine eigene Niedrigkeit mit der Erhabenheit des Apostels – ein Akt literarischer Demut und theologischer Selbsteinordnung.
2. Theologische Bedeutung
Der Glaube ist nicht bloß eine private Überzeugung, sondern der Eingang zur transzendenten Wirklichkeit.
Paulus' Erlebnis bezeugt, dass die göttliche Ordnung erfahrbar ist – ein Schlüsselgedanke auch für Die Göttliche Komödie: Jenseitsreise als erkenntnistheologischer Prozess.
3. Philosophisch-spirituelle Perspektive
Der Vers »per recarne conforto a quella fede« lässt sich auch als Reflexion über den Zusammenhang von Erfahrung und Glauben lesen. Paulus wird zu einer Figur, die das Unsichtbare sichtbar macht – genau das, was Dante mit seinem Werk poetisch zu leisten beansprucht: eine Vision des Jenseits, die den Leser »trösten« und zur Wahrheit führen soll.

Bezüge zu Augustinus' Confessiones

Augustinus, insbesondere in den Confessiones, beschreibt seine eigene Bekehrung als einen Weg der inneren Erleuchtung und göttlichen Gnade. Die in Vers 30 erwähnte »fede« (»Glaube«) als »principio a la via di salvazione« (Anfang des Weges der Erlösung) erinnert stark an Augustinus' Betonung, dass der Glaube der erste Schritt zur Wahrheit sei (fides quaerens intellectum).
Augustinus und Paulus: In den Confessiones wird Paulus mehrfach als Schlüsselgestalt der Bekehrung beschrieben. Insbesondere Conf. VIII,12, die berühmte Szene unter dem Feigenbaum, ist durch ein Paulus-Zitat (Röm 13,13f) geprägt.
Funktion des Glaubens: Augustinus betont im De Trinitate (XIII,3) wie in den Confessiones, dass Glaube notwendig ist, um den Weg zu Gott zu betreten, was der Formulierung bei Dante nahekommt: »fides est via ad salutem«.
Visionsmoment: Auch Augustinus berichtet in den Confessiones (VII,10) von einer intellektuellen Schau Gottes – vergleichbar mit Paulus' mystischer Entrückung.
Fazit: Dante integriert hier eine augustinische Anthropologie des inneren Aufstiegs, wobei der Glaube als göttlich initiierter Anfang der Erlösung erscheint – im Sinne Augustins sowohl existentiell als auch gnadenhaft.

Bezüge zu Thomas von Aquin

In Dantes theologisch durchdachtem Werk ist Thomas von Aquin ein zentraler Hintergrundautor. Gerade der Verweis auf Paulus als vas electionis stammt aus der Vulgata-Version von Apostelgeschichte 9,15, einer von Thomas häufig zitierten Stelle.
Fides als via salutis: Thomas definiert den Glauben in der Summa Theologiae (II-II, q. 4, a. 1) explizit als initium humanae salutis (»Anfang des menschlichen Heils«), was fast wörtlich Dantes Formulierung entspricht.
Autorität des Paulus: In der Summa contra Gentiles (I,6), unterstreicht Thomas Paulus als zuverlässigen Zeugen für göttliche Offenbarung, insbesondere durch seine Himmelsreise (2 Kor 12,2).
Paulus' visio: In Summa Theologiae (II-II, q. 175, a. 3), analysiert Thomas die Visionen von Paulus und unterscheidet zwischen imaginativer, intellektueller und extatischer Schau – ein Schema, das Dante aufgreift, um zwischen den verschiedenen Arten himmlischer Erkenntnis zu differenzieren.
Fazit: Dante verarbeitet thomanische Glaubens- und Erkenntnistheorie und bindet sie eng an Paulus als »Instrument der Offenbarung«, wobei der Glaube als epistemologisches wie soteriologisches Fundament dargestellt wird.

Bezüge zur mittelalterlichen Visionsliteratur

Die Formulierung verweist auf einen Topos der mittelalterlichen Visionsliteratur: die Entrückung zur Stärkung des Glaubens der Gemeinschaft.
Visio Pauli(Apokryphe Paulus-Apokalypse): In dieser populären Texttradition wird geschildert, wie Paulus in Himmel und Hölle geführt wird – ein klarer Vorläufer von Dantes Commedia. Die Reise dient der moralischen Erbauung der Lebenden, genau wie Vergils Aussage: »per recarne conforto a quella fede«.
Vision als auctoritas: Mittelalterliche Visionen (z. B. Visio Tnugdali, Visio Baronti) berufen sich auf himmlische Erfahrungen, um kirchliche Glaubenssätze zu bestätigen. Das Ziel ist stets die Stärkung der fides communis, also des kollektiven Glaubens – ein direktes Echo in Dantes Vers.
Zweck der Vision: Der Zweck der Reise ist nicht individuelles Wissen, sondern Rückkehr und Bestätigung der Wahrheit des Glaubens für andere – wie auch Paulus »zurückkehrt«, um Trost und Bestätigung für die irdische Gemeinschaft zu geben.
Fazit: Dantes Darstellung steht in der Tradition einer didaktisch-soteriologischen Vision: Paulus wird nicht nur als Autorität, sondern als Vorbild des »visionären Trostes« für die Gemeinschaft eingesetzt – ein Narrativschema, das Dante auf seine eigene Commedia überträgt.

Zusammenfassendes Bild

Dante konstruiert in diesen drei Versen eine mehrdimensionale Autorisierung seiner eigenen Reise durch die jenseitigen Reiche. Der Verweis auf Paulus als vas electionis aktiviert:
bei Augustinus1. : das Bild des Glaubens als erster Schritt zur göttlichen Wahrheit, in Gnade initiiert;
bei Thomas von Aquin2. : die systematische Bestimmung des Glaubens als Weg zur Erlösung und die Vision als Erkenntnismittel;
in der Visionsliteratur3. : die narrative Struktur heiliger Entrückungen als legitimatorischer Rahmen für Dantes eigene Reise.
Dantes dichterischer Anspruch ist somit zugleich theologisch, literarisch und mystisch fundiert. Seine Vision wird als Fortsetzung jener göttlich gestifteten Traditionslinie präsentiert, die bei Paulus beginnt und über die patristische und scholastische Theologie bis zu ihm selbst reicht.

Inferno Gesang 02 Verse 025-027 | Inferno Gesang 02 Verse 031-033

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