la quale e 'l quale, a voler dir lo vero,
fu stabilita per lo loco santo
u' siede il successor del maggior Piero.
klassisch-eleviert
Die eine wie der andre, treu bezeugt,
sind festgesetzt im heil’gen Ort der Ehre,
wo Petri größrer Erbe thronend zeugt.
romantisch-symbolistisch
Denn sie, wie er — so spricht das wahre Wort —
sind fest gegründet, tief in heil’gen Gründen,
wo Petri großer Thron bewahrt den Hort.
nüchtern-allegorisch
Sie beide – das sei offen ausgesprochen –
sind festgesetzt am heil'gen Ort der Weihe,
wo Petri Erbe sitzt auf festem Brocken.
Analyse
Diese drei Verse bilden einen Schlüsselpunkt im Aufbau des zweiten Gesangs: Sie legitimieren das Eingreifen der himmlischen Welt in Dantes Reise durch göttlich gesetzte Ordnung – durch Gnade (Beatrice), durch den ordo ecclesiae (Rom), durch die cathedra Petri.
Dante errichtet hier ein poetisches Fundament, auf dem die ganze Commedia ruht: göttliche Wahrheit, kirchliche Ordnung, persönliche Berufung.
Die Verse 22–24 in Canto II verbinden auf raffinierte Weise theologische Legitimation, dramatische Motivbegründung und kritische Distanz zur realen Kirche. Sie sind ein Beispiel für Dantes Fähigkeit, in dichterischer Sprache Ambivalenz zu erzeugen: einerseits Verankerung in der göttlichen Ordnung, andererseits kritische Reflexion der kirchlichen Realität seiner Zeit. Diese Spannung ist typisch für die Commedia und spiegelt Dantes Haltung als reformorientierter Christ, der das Heil der Kirche nicht in deren institutioneller Macht, sondern in ihrer geistlichen Reinheit sucht.
Kontext im Canto
Dante zögert noch immer vor seiner Reise durch das Jenseits. Vergil berichtet, dass drei selige Frauen — Maria, Lucia und Beatrice — im Himmel für Dante Fürsprache eingelegt haben. Beatrice bittet Vergil, Dante zu retten. In den zitierten Versen beschreibt Vergil die göttliche Herkunft und Autorität dieser Sendung.
2. Vers 22: "la quale e 'l quale, a voler dir lo vero,"
Grammatikalisch:
»la quale« (diejenige – Beatrice) und »'l quale« (derjenige – Vergil selbst) sind Relativpronomina, die sich auf die zwei Akteure der Sendung beziehen.
Semantik:
Beide — Beatrice und Vergil — handeln nicht aus eigener Initiative, sondern im göttlichen Auftrag. Das betont »a voler dir lo vero«: »wenn man die Wahrheit sagen will« — ein rhetorisches Mittel, das die folgende Aussage als unbestreitbare Wahrheit qualifiziert.
Stilistisch:
Die Doppelformulierung »la quale e 'l quale« spiegelt Gleichrangigkeit wider: Beatrice als Mittlerin, Vergil als Vollstrecker. Die Wahrheit ist hier nicht subjektiv, sondern eine göttliche Konstante.
3. Vers 23: "fu stabilita per lo loco santo"
»fu stabilita« (wurde bestimmt / festgelegt):
Die Sendung wird nicht durch menschlichen Willen verursacht, sondern ist Ausdruck göttlicher Vorsehung.
»per lo loco santo« (durch den heiligen Ort):
Gemeint ist Rom, speziell der apostolische Stuhl, also der Papststuhl, der die göttliche Autorität auf Erden repräsentiert. Rom wird hier zur Metonymie für die göttliche Ordnung.
Allegorie:
Der "heilige Ort" steht nicht nur für Rom als Stadt, sondern für das geistige Zentrum der Heilsgeschichte. Damit ist Dante nicht nur persönlich gemeint, sondern seine Reise ist theologisch begründet.
4. Vers 24: "u' siede il successor del maggior Piero."
»il successor del maggior Piero«:
Wörtlich: »der Nachfolger des größeren Petrus«. Gemeint ist der Papst, der als Nachfolger des Apostelfürsten Petrus auf dem Bischofsstuhl von Rom sitzt. Dante nennt ihn »maggiore«, um die Vorrangstellung Petri unter den Aposteln zu betonen.
»u' siede« (wo sitzt):
Ein Ausdruck fest etablierter, institutioneller Macht. Der Sitz symbolisiert Herrschaft und Legitimität. Dieser Ausdruck hat auch eine sakrale Qualität – der Papst sitzt nicht einfach nur, sondern regiert im göttlichen Auftrag.
Politische Implikation:
Dante, obwohl oft päpstliche Korruption kritisierend, erkennt hier die ursprüngliche, gottgewollte Autorität des Papsttums an. Es ist ein Rückverweis auf das Ideal, nicht die Realität des päpstlichen Amtes seiner Zeit.
Theologische und allegorische Dimension
Diese Verse machen klar: Dantes Reise ist nicht nur ein persönlicher spiritueller Weg, sondern sie erfolgt im Rahmen der göttlichen Ordnung, wie sie sich durch die Institutionen der Heilsgeschichte manifestiert — in diesem Fall durch:
• Maria (Gnade)
• Lucia (Erkenntnis)
• Beatrice (göttliche Liebe / Theologie)
• Vergil (Vernunft / Philosophie)
All diese Mittlerfiguren wirken in Einklang mit dem göttlichen Willen, »stabilita per lo loco santo«, also im Einklang mit der göttlich legitimierten Autorität auf Erden — ein starkes Zeichen dafür, dass Dantes Erkenntnisweg nicht subjektiv ist, sondern eingebettet in die Ordnung der Schöpfung und Erlösung.
Historischer und kirchenpolitischer Hintergrund
Zur Zeit Dantes war das Papsttum in einer Krise: Korruption, Simonie, politischer Machtmissbrauch. Dennoch hält Dante an der sakramentalen Heilsordnung fest, die ihren Ursprung in der Apostolischen Sukzession hat. Selbst wenn die irdischen Vertreter unwürdig sind, bleibt die Idee göttlich.
Hier bekennt sich Dante also zur theologischen Legitimität des Papsttums — nicht unbedingt zu dessen aktueller Ausführung. Der »successor del maggior Piero« steht für ein Ideal, das auch Dantes eigenes dichterisches Projekt legitimiert.
Philologisch-theologische Kommentierung
Vers 22: »la quale e 'l quale, a voler dir lo vero«
Grammatikalisch-syntaktische Struktur:
Dante verwendet hier einen doppelten Relativsatz – »la quale« (fem.) und »'l quale« (mask.), vermutlich rückbezüglich auf zwei zuvor genannte Begriffe. Im Kontext bezieht sich »la quale« auf la donna (Beatrice) und »'l quale« auf consiglio (Beistand, Rat) oder aiuto (Hilfe), also auf das Wirken der himmlischen Instanz, die Dante unterstützen will.
»a voler dir lo vero«:
Diese Parenthese (»wenn man die Wahrheit sagen will«) unterstreicht den Wahrheitsanspruch des Autors. Theologisch verweist das auf Dantes Anspruch, divinitus inspirata veritas (göttlich inspirierte Wahrheit) zu vermitteln – eine Haltung, die an biblische Prophetie erinnert (vgl. Jer 1,9: »Ich lege dir meine Worte in den Mund«).
Vers 23: »fu stabilita per lo loco santo«
»fu stabilita« (wurde festgesetzt / bestimmt / eingesetzt):
Das Prädikat ist in der Passivform, was göttliche Autorität impliziert. Wer die Entscheidung getroffen hat, bleibt unausgesprochen – doch der theologische Subtext verweist klar auf die providentia divina, den göttlichen Heilsplan.
»per lo loco santo« (vom heiligen Ort aus / wegen des heiligen Ortes):
Gemeint ist Rom, und hier insbesondere der Apostolische Stuhl. Es handelt sich um einen topos der Sakralgeographie: Rom als Zentrum der Christenheit, der Sitz des Papstes als Nachfolger Petri.
Theologisch verweist das auf das Petrusamt, wie es in Matthäus 16,18–19 begründet ist: »Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen... ich werde dir die Schlüssel des Himmelreiches geben«. Dante übernimmt hier diese Deutung der römischen Kirche als von Christus eingesetzte Institution.
Vers 24: »u' siede il successor del maggior Piero«
»u'« = verkürztes »ove« (wo): dichterische Elision, typisch für Dantes Ökonomie der Sprache.
»siede il successor del maggior Piero«:
Wörtlich: »wo der Nachfolger des größeren Petrus sitzt«.
»il maggior Piero« ist Simon Petrus, »der größte Peter« – Apostelfürst und Begründer des Papsttums. Der Ausdruck betont den Rang Petri über alle anderen Apostel.
Die Bezeichnung des Papstes als »successor« betont eine apostolische Sukzession, was theologisch zentral für die Legitimität des römischen Stuhles ist.
Bemerkenswert ist, dass Dante den Papst indirekt erwähnt, ohne Namen – aus Ehrfurcht oder aus poetischem Prinzip, möglicherweise aber auch mit latenter Ironie, wenn man bedenkt, dass Dante in späteren Canti durchaus Kritik an der Kurie übt.
Stilistische Analyse
Relativsatzstruktur (Vers 22)
Die Formulierung mit »la quale e 'l quale« ist symmetrisch und elegant gebaut. Diese syntaktische Parallelität trägt zur rhythmischen Ausgewogenheit bei und erzeugt einen quasi-liturgischen Klang.
Der Einschub »a voler dir lo vero« durchbricht leicht das syntaktische Gefüge und bringt eine autobiographische Metaebene hinein. Der Erzähler betont hier seine Wahrhaftigkeit und die Authentizität seines Berichtes – ein poetischer Akt der Selbstautorisierung.
a voler dir lo veroFeierlicher Tonfall (Vv. 23–24)
Die Verwendung von »fu stabilita« und »loco santo« verleiht der Passage eine sakrale Erhabenheit, die durch den latinisierenden Stil verstärkt wird. Der Ausdruck ist fast wie eine Formel aus einem päpstlichen Dokument.
Die Alliteration in siede il successor und die Assonanz in maggior Piero verstärken die Musikalität.
Symbolischer Aufbau
Die drei Verse bilden eine trinitarische Struktur: drei Zeilen, drei zentrale Elemente (Beatrice → Rom → Papsttum), drei theologische Ebenen (individuelle Gnade, kirchliche Institution, apostolische Sukzession).
Damit wird der poetische Kosmos Dantes durch eine theologisch-stilistische Dreieinigkeit strukturiert.
Bezug zur Gesamtstruktur von Canto II
Canto II der Inferno bildet eine psychologisch-dramatische Schwelle: Dante zögert vor dem Beginn der eigentlichen Höllenreise. Der Dichter zeigt sich nicht als kühner Held, sondern als unsicherer Pilger, der sich seiner eigenen Unwürdigkeit bewusst wird. Die Verse 22–24 stehen in einem entscheidenden Argumentationsmoment:
Kontext: Vergil berichtet Dante, dass die Reise durch die Hölle nicht auf seinen eigenen Wunsch oder auf weltliche Willkür zurückgeht, sondern auf einen göttlichen Rettungsplan. Drei Frauen aus dem Himmel (Maria, Lucia, Beatrice) intervenieren, um Dante zu retten.
»la quale e 'l quale«: Bezieht sich auf den Ort und den Entschluss zur Rettung Dantes – konkret auf den Auftrag, den Beatrice Vergil erteilt hat. Das »luogo santo« (»heiliger Ort«) meint den Himmel oder genauer den »Empyreum«, wo Gott und die Seligen wohnen.
»u' siede il successor del maggior Piero«: Wörtlich: »wo der Nachfolger des größeren Petrus sitzt« – eine Umschreibung für den Papst als Nachfolger des Apostels Petrus. Die Formulierung betont nicht den konkreten Amtsinhaber, sondern das Amt als solches.
Funktion im Canto:
Die Erwähnung des Papsttums hier legitimiert Dantes Reise religiös-institutionell: Seine Rettung erfolgt im Einklang mit der göttlichen Ordnung, die auch durch die (eigentlich gottgewollte) Kirche repräsentiert wird. Das ist wichtig, weil Dante sich nicht selbst ermächtigt, sondern zeigt, dass seine Reise »von oben« gerechtfertigt ist. Die Theodramatik (himmlischer Erlass → Beatrice → Vergil → Dante) wird hier auf ein festes Fundament gestellt.
Bezug zur mittelalterlichen Kirchen- und Papstkritik
Gleichzeitig schwingt in der Formulierung eine latente Kritik an der zeitgenössischen Amtskirche mit:
»successor del maggior Piero«: Petrus war arm, demütig und Märtyrer – seine Größe liegt in seiner Heiligkeit. Der »Nachfolger« ist in der realgeschichtlichen Erfahrung Dantes ein oft korrupter, machtpolitisch agierender Papst.
Dante schreibt »successor del maggior Piero«, nicht einfach »di Pietro« – der Zusatz »maggior« hebt Petrus deutlich über seine Nachfolger hinaus. Damit entsteht ein Kontrast zwischen dem Ideal und der realen Institution.
Zur Zeit Dantes war Papst Bonifatius VIII. (gest. 1303) besonders umstritten. Er war ein Inbegriff päpstlicher Machtpolitik, stand im Konflikt mit dem französischen König Philipp IV. und wird im Inferno mehrfach indirekt und später direkt (z.B. Inf. XIX, 52–57) angeklagt.
Auch wenn Bonifatius hier nicht genannt wird, könnte die Formulierung »u' siede« (wörtlich: »wo sitzt«) ironisch gelesen werden: Der Sitz ist göttlich legitimiert, aber der Sitzende ist es nicht zwangsläufig.
Kirchenkritik durch Ambivalenz:
Dante bleibt formal der kirchlichen Hierarchie verpflichtet, nutzt aber indirekt Sprache und Formulierungen, um Missstände anzuprangern. Die Idee eines transzendent legitimierten Papsttums wird nicht verworfen, aber implizit davon getrennt, wie dieses Papsttum aktuell verwaltet wird.