non pare indegno ad omo d'intelletto;
ch'e' fu de l'alma Roma e di suo impero
ne l'empireo ciel per padre eletto:
frei übertragen 1
"Denn keinem Mann von Geist erscheint es unziemlich,
da er der hehren Roma und ihres Reiches
im höchsten Himmel zum Vater ward erwählt."
frei übertragen 2
"Denn dem verständigen Mann scheint's nicht unwürdig:
Er war der Vater des römischen Imperiums,
erwählt im himmlischen Reich, im Reich der Seligen."
frei übertragen 3
"Es dünkt den klugen Geist nicht unverdient,
dass jener, der Rom und seine Macht begründet,
im höchsten Himmel zum Vater ward erkoren.
Wörtlicher und syntaktischer Befund
Die Verse 19–21 des 2. Inferno-Gesangs fügen sich nahtlos in Dantes übergeordnetes Welt- und Heilsbild ein. Aeneas erscheint als "heiliger" Gründer Roms, nicht durch Macht, sondern durch Vorsehung legitimiert. Der Verweis auf den "empireo ciel" erhebt die profane Geschichte in den Bereich der Transzendenz – ein programmatischer Schritt Dantes, um sowohl das Römertum als auch seine eigene dichterische Mission zu rechtfertigen. Seine Commedia steht so in der Nachfolge nicht nur biblischer Offenbarung, sondern auch vergilischer Prophetie.
Die Verse stehen in einem längeren Abschnitt, in dem Vergil auf Dantes Zweifel an seiner eigenen Reiseberechtigung reagiert. Dante hatte sich gefragt, ob er denn ebenso wie Paulus oder Aeneas in die jenseitige Welt vordringen dürfe. Vergil verteidigt hier Aeneas als würdigen Vorläufer.
"non pare indegno ad omo d'intelletto"
("Es scheint dem Menschen mit Verstand nicht unangebracht")
→ Betonung auf Vernunft und intellektueller Einsicht (vgl. später den intelletto d'amore in Paradiso)
"ch'e' fu de l'alma Roma e di suo impero"
("der er war von der erhabenen Roma und von ihrem Imperium")
→ Aeneas wird als Urvater des Imperiums gezeichnet, mit stark idealisierter Sicht auf Rom (alma = "beseelt", "edel").
"ne l'empireo ciel per padre eletto"
("im himmlischen Paradies zum Vater erwählt")
→ Starke Theologisierung des römischen Reichs: Das Imperium ist nicht nur irdisch, sondern hat himmlische Legitimation.
Theologische Deutung
Die Passage bezieht sich auf die Legende, dass Aeneas, nach Trojas Fall, zum Stammvater Roms wurde — was sich in der Aeneis Vergils mythisch entfaltet. Dante folgt dieser Sicht und führt sie weiter:
→ Aeneas ist nicht bloß ein Held, sondern Werkzeug der Providenz, der göttlichen Vorsehung.
Der "empireo ciel" ist bei Dante der höchste Bereich des Himmels, wo Gott und die Seligen wohnen. Dass Aeneas dort "zum Vater erwählt" wurde, bedeutet, dass sein Tun göttlich vorbestimmt war.
→ Das römische Reich ist somit Teil des göttlichen Plans zur Heilsgeschichte: Es bereitet durch seine Ordnung und Pax Romana das Kommen Christi und der Kirche vor.
Dante folgt hier Augustinus' Idee in De Civitate Dei, dass das Imperium Romanum eine Vorstufe zur Civitas Dei (Gottesstaat) war, trotz seiner heidnischen Ursprünge.
Politisch-historische Dimension
Die Verbindung von Rom als "alma" (die edle, seelenvolle Stadt) und ihrem Imperium als etwas von Gott Gewolltem ist eine wichtige ideologische Grundlage für Dantes politische Vision, etwa in seiner Schrift Monarchia.
Dante idealisiert Rom als Zentrum von Gerechtigkeit, Einheit und Frieden, und das Reich als notwendige irdische Instanz zur Verwirklichung des universalen Heilsplans.
Aeneas' Erwählung zum "Vater" des Imperiums legitimiert in Dantes Augen auch die Notwendigkeit des Kaisertums: Der Kaiser ist als Nachfolger Aeneas' eine von Gott eingesetzte Autorität.
Poetisch-literarische Aspekte
Ironische Tiefe: Dante stellt hier eine mythische Figur (Aeneas) über sich selbst – ein Akt der Demut, aber zugleich bereitet Vergil (und Dante) das Argument vor, warum auch Dante (als Dichter!) diese Reise machen darf.
Die Sprache ("alma", "eletto", "empireo") ist hochstilisiert und trägt eine sakrale Semantik: Die Dichtung hebt das historische Rom in den Bereich des Numinosen.
Die Stelle verweist auf die Tradition der translatio imperii et studii: Die Weitergabe von Reich und Bildung von Troja über Rom nach Europa (und schließlich zu Dante, dem Dichter selbst).
Allegorische Ebene
Allegorisch steht Aeneas für die vernunftgeleitete, heroische Seele, die sich aus dem Chaos (Troja, Leid) erhebt, um eine neue Ordnung zu begründen — das Bild eines von Gott geführten "zivilisatorischen Pilgers".
Die Reise Aeneas' in die Unterwelt ist ein Bild für den Weg der Seele zur Erkenntnis ihrer Berufung; Dante übernimmt dies, steigert es aber im christlichen Sinn:
→ Wo Aeneas ein irdisches Reich gründet, sucht Dante das ewige Heil.