Tu dici che di Silvio il parente,
corruttibile ancora, ad immortale
secolo andò, e fu sensibilmente.
wörtlich-treue Neuübersetzung
„Du sagst, dass der Vater des Silvius,
noch sterblich, ins unvergängliche Reich ging
und dort mit leiblichen Sinnen weilte.“
poetisch-rhythmisch
„Du sagst, Silvius’ Vater sei gegangen
noch sterblich hin zur ew’gen Welt
und habe sie mit Sinnen wahrgenommen.“
theologisch akzentuiert
„Du sprichst, der leiblich noch vergängliche Vater Silvius'
sei eingetreten in das Reich der Unsterblichkeit
und habe es mit irdischer Wahrnehmung geschaut.“
Analyse
Diese drei Verse stehen im Kontext von Dantes Zweifel, ob er – als sündiger, lebender Mensch – geeignet sei, die jenseitige Reise anzutreten. Er bezieht sich auf Aeneas, den „Vater des Silvius“ (di Silvio il parente), der in Vergils Aeneis (Buch 6) die Unterwelt besucht.
Philologische Analyse
di Silvio il parente: Gemeint ist Aeneas, der Vater des Silvius. Dante verwendet eine Umschreibung statt des Eigennamens, was dem mittelalterlichen Geschmack an Umständlichkeit und Ehrerbietung entspricht.
ancora: Wörtlich „noch der Vergänglichkeit unterworfen“, d. h. Aeneas war zu dieser Zeit sterblich und hatte noch einen physischen Körper.
immortale secolo: Wörtlich „zum unsterblichen Zeitalter“ – secolo im Sinne einer ewigen Ordnung, nicht einer historischen Epoche. Gemeint ist das Jenseits, das Reich der Ewigkeit.
sensibilmente: Bedeutet, er war dort mit Sinnen anwesend – also nicht in einer Vision oder geistigen Ekstase, sondern leiblich und konkret.
Theologische Bedeutung
Dante bringt hier die Frage auf, ob ein lebender, sündiger Mensch das Recht habe, in göttliche Sphären einzudringen. Aeneas war zwar sterblich, aber seine Reise war von göttlicher Vorsehung bestimmt, da er Rom gründen sollte – eine politische und göttliche Mission.
Der Ausdruck „fu sensibilmente“ betont, dass Aeneas diese Reise mit seinem physischen Leib vollzog. Das impliziert, dass er trotz seiner Leiblichkeit für ein solches Unterfangen auserwählt war – was Dante an seinem eigenen Berufungsstatus zweifeln lässt.
Literarische Struktur und Funktion
Dante setzt hier ein rhetorisches Argument ein: Er nennt berühmte Vorgänger (Aeneas, später Paulus), um darzulegen, dass er sich im Vergleich unwürdig fühlt. Das ist nicht nur Ausdruck von Demut, sondern auch ein Kunstgriff, um die Größe seiner eigenen Reise zu steigern – durch den Kontrast zur mythisch-heroischen Vergangenheit.
Diese Verse stellen damit die erste Stufe seines psychologischen Widerstands gegen das Abenteuer dar, das ihm bevorsteht. Die Erinnerung an Aeneas dient also nicht nur als literarischer Bezug, sondern auch als innerer Prüfstein.
Historischer und kultureller Kontext
Im Mittelalter galt Aeneas als pius (fromm) und als Instrument der göttlichen Vorsehung, der durch seine Reise in die Unterwelt nicht nur Vergils Dichtung adelte, sondern auch die spätere translatio imperii (Übergabe des Reiches von Troja auf Rom) ermöglichte. Dante sieht in dieser Erzählung ein frühes Modell der göttlichen Führung.
Der Bezug zu Aeneas dient damit auch der Legitimierung des Imperiums und der Verbindung zwischen paganer und christlicher Heilsordnung – ein zentrales Anliegen der gesamten Commedia.
Zusammenfassung der Bedeutung
Die Verse II, 13–15 artikulieren:
• Dantes Zweifel an seiner eigenen Berufung zur Jenseitsreise
• den Verweis auf Aeneas als präfiguratives Vorbild für geistliche und weltgeschichtliche Mission
• die Spannung zwischen Leiblichkeit (corruttibile ancora, sensibilmente) und der geistigen Welt (immortale secolo)
• einen Akt der Demut, der zugleich das literarische Vorbild aufruft, um die Größe des bevorstehenden Weges zu unterstreichen
Theologische und poetische Auswertung
In Inferno Canto II, Verse 13–15 spricht Dante in der Vorbereitung auf seine Reise durch das Jenseits von der Himmelfahrt eines „Silvios Verwandten“, womit er klar den Apostel Paulus meint.
Diese Stelle bezieht sich auf Paulus’ Himmelfahrt, wie sie in 2 Korinther 12,2–4 beschrieben ist. Dort heißt es:
> „Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren – ob im Leib, weiß ich nicht, oder außerhalb des Leibes, weiß ich auch nicht: Gott weiß es –, da wurde dieser bis in den dritten Himmel entrückt. Und ich weiß von dem Menschen – ob im Leib oder außerhalb des Leibes, weiß ich nicht: Gott weiß es –, dass er in das Paradies entrückt wurde und unaussprechliche Worte hörte, die kein Mensch sagen darf.“
1. „Silvios Verwandter“:
Dante nennt Paulus indirekt über eine genealogische Umkehrung: Silvius, der Sohn des Aeneas (aus der römischen Mythologie), ist hier der jüngere – doch Dante spricht von Paulus als dessen „Verwandtem“, um eine parallele Berufung und Legitimation herzustellen. Im Canto II rechtfertigt Dante seine Reise, indem er sie mit drei paradigmatischen Jenseitsreisen vergleicht:
Aeneas (Buch VI der Aeneis)
Paulus (2 Kor 12)
später auch Beatrice.
2. „corruttibile ancora“:
Das bedeutet: Paulus war bei seiner Himmelfahrt noch sterblich, also nicht auferstanden oder vergeistigt wie nach dem Tod. Diese Betonung stellt die Ausnahmehaftigkeit seines Erlebnisses heraus: er betrat das immortale secolo, das ewige Jenseits, obwohl er noch dem Verfall des irdischen Lebens unterworfen war.
3. „fu sensibilmente“:
Paulus erlebte das Jenseits „mit den Sinnen“, also nicht nur geistlich oder visionär, sondern (so Dante) leiblich erfahrbar. Dies deutet eine mögliche Verkörperlichung der Vision an – für Dante wichtig, da seine Commedia ebenfalls nicht rein allegorisch, sondern konkret und erlebbar sein soll.
Dantes poetisch-theologisches Anliegen
Dante steht zu Beginn seiner Reise vor Zweifeln: Wer ist er, dass er wie Aeneas oder Paulus das Jenseits betreten dürfe? Die Berufung dieser beiden „Vorgänger“ dient ihm zur Legitimation seines eigenen Wegs. Doch es ist auffällig, dass er besonders Paulus hervorhebt, nicht nur wegen der Schriftautorität, sondern weil dessen Vision direkt aus der christlichen Offenbarung stammt. Der Bezug auf 2 Kor 12 hebt die folgende theologische Tiefe hervor:
Ein Mensch (Paulus) konnte entrückt werden, auch ohne den Tod erlebt zu haben → mögliches Vorbild für Dante.
Göttliche Gnade als Ermöglichungsgrund: Auch Dante betont immer wieder, dass er diese Reise nicht aus eigener Kraft antritt, sondern durch Gnade (vgl. Beatrices Sendung, Virgils Hilfe etc.).
Erfahrbarkeit des Jenseits mit den Sinnen: Die Commedia will mehr als eine abstrakte Allegorie sein; sie soll sinnlich-konkrete Theologie bieten.
Fazit:
Die Verse 13–15 von Inferno II verknüpfen Dantes poetisches Vorhaben mit der paulinischen Entrückung aus 2 Kor 12,2–4. Diese Referenz dient nicht nur der Legitimation, sondern stellt zugleich eine hermeneutische Brücke dar: So wie Paulus das Paradies „unaussprechlich“ erfahren hat, so will Dante nun das Unsagbare sagen – in poetischer Sprache, die nicht weniger real ist als die Offenbarung selbst.
Vergilischer Bezug – Aeneas’ Katabasis
Die Wendung „di Silvio il parente“ bezeichnet Aeneas, den Sohn des Anchises und „Vorfahren“ des Silvius. Dante vermeidet den direkten Namen Aeneas und nennt ihn stattdessen „der Verwandte des Silvius“, was eine gewisse Distanzierung ausdrückt.
corruttibile ancora„“: Aeneas war noch sterblich (also „verweslich“), als er in die Unterwelt hinabstieg.
ad immortale secolo andò„“: Er ging in das Reich der Unsterblichen (also ins Jenseits).
fu sensibilmente„“: Und das in physischer, sinnlich wahrnehmbarer Weise – ein reales Ereignis, nicht nur visionär oder geistig.
Inhaltlicher Bezug: Dante argumentiert hier gegen sich selbst: Wenn selbst Aeneas, ein bloßer Mensch, eine solche Reise antreten durfte, erscheint Dantes eigenes Vorhaben (noch) fragwürdiger.
Relevanz
Aeneas’ Gang in die Unterwelt hatte eine imperiale und heilsgeschichtliche Legitimation: Er war Stammvater des römischen Reichs, das laut mittelalterlicher Theologie Teil des göttlichen Heilsplans war.
Vergil, Dantes Führer, schrieb über Aeneas, wodurch Dante eine doppelte Legitimation aufbauen muss: sowohl poetisch (durch Vergils Autorität) als auch theologisch.
Theologische Tiefenschicht – Beatrice als Gnade in Person
Während Aeneas als Träger des irdisch-politischen Heils gilt, stellt Dante sich selbst als geistlich-moralisch weniger würdig dar. Die Rettung kommt nicht durch eigene Kraft, sondern durch eine Gnadeninitiative, verkörpert durch Beatrice.
Beatrices Rolle:
Sie ist Mittlerin der göttlichen Gnade, die Dante durch Lucia (die Gnade Gottes) und Maria (die Barmherzigkeit) erreicht.
Ihre Intervention motiviert Vergil zum Handeln. Vergil fungiert zwar als Führer, aber Beatrice ist der eigentliche Ausgangspunkt von Dantes Heilsgeschichte.
Sie steht daher in Kontrast zu Aeneas, der durch eigene Tatkraft und imperiale Bestimmung handelt.
Theologisch:
Während Aeneas' Weg aus politisch-prophetischer Perspektive legitimiert wird, wird Dantes Weg durch das Prinzip der Gratia preveniens (die vorausgehende Gnade) legitimiert.
Beatrice wird zur personifizierten Theologie, wie sie in Paradiso XXXIII ganz eins wird mit dem Licht Gottes („l’amor che move il sole e l’altre stelle“).
Dante verhandelt in diesem Abschnitt nicht nur Heilsfragen, sondern auch Fragen dichterischer Autorität:
Poetologische Reflexion
Darf ein „nicht-berufener“ Dichter sich in die Sphären Vergils oder der Bibel vorwagen?
Der Verweis auf Aeneas zeigt: auch „Menschliches“ kann göttliche Sendung tragen.
Doch Dante geht weiter – nicht nur als Dichter, sondern als Prophet eines neuen Weges, den nur Gnade eröffnen kann.
Die Verse II, 13–15 stellen eine doppelte Verbindung her
• Poetisch | Aeneas: Held der Aeneis, vergilisches Vorbild | Dante: Schüler Vergils, Nachfolger
• Ontologisch | Aeneas: Noch „corruttibile“ | Dante: Ebenfalls sterblich
• legitim | Aeneas: durch politische Providenz | Dante: durch göttliche Gnade via Beatrice
• Modus | Aeneas: „sensibilmente“ (körperlich) | Dante: seelisch-geistlich geführt durch himmlische Instanz
Beatrice wird so zur notwendigen theologischen Ergänzung zur literarischen Autorität Vergils. Während Aeneas’ Gang Ausdruck des fatum romanum ist, wird Dantes viaggio durch eine theologisch-personale Gnade getragen – eine Gnade mit Namen und Gesicht: Beatrice.
Hier ist gemeint: Aeneas, „der Verwandte des Silvius“ (gemeint ist Silvius, Sohn des Aeneas), habe als sterblicher Mensch das Jenseits betreten („ad immortale secolo“), und zwar mit leiblichen Sinnen („sensibilmente“).
Diese Stelle ist in mehrfacher Hinsicht mit der Entrückung des Paulus (2 Kor 12,2–4) sowie mit der Rolle der Lucia im Inferno zu vergleichen.
Parallele zu 2 Korinther 12,2–4: Die Entrückung des Paulus
In 2 Kor 12,2–4 schreibt Paulus:
> „Ich weiß von einem Menschen in Christus, der vor vierzehn Jahren bis in den dritten Himmel entrückt wurde \[...] ob im Leib oder außerhalb des Leibes, ich weiß es nicht – Gott weiß es. \[...] ins Paradies entrückt, und hörte unaussprechliche Worte, die ein Mensch nicht aussprechen darf.“
Gemeinsamkeiten mit Dante:
Jenseitige Reise eines Lebenden: Sowohl Paulus als auch Dante berichten von einer Reise in überirdische Sphären, obwohl sie noch im Leben sind.
Unklarheit des Zustandes (bei Paulus): Während Dante eindeutig leiblich aufbricht („fu sensibilmente“), betont Paulus gerade, dass er nicht wisse, ob leiblich oder geistlich entrückt – was eine tiefere Demut und Zurückhaltung im Umgang mit dem Mysterium andeutet.
Paradigmenfall: In beiden Fällen wird eine außergewöhnliche Gnade Gottes zur Rechtfertigung des Jenseitserlebnisses vorausgesetzt. Paulus möchte seine Erfahrung nicht als Ruhm ausstellen (vgl. 2 Kor 12,5), Dante hingegen ringt um Legitimation – in Inferno II fürchtet er sich, weil er eben nicht Aeneas oder Paulus ist.
Jenseits als unaussprechlich / übernatürlich: Paulus darf das Gehörte nicht aussprechen; Dante erkennt in Aeneas ein übernatürliches Vorbild, das ihn überfordert.
Unterschied:
Dante nennt ausdrücklich Aeneas und Paulus als Vorbilder. Seine Reise ist theologisch gesehen eine Synthese aus dem klassischen Mythos und der christlichen Offenbarung – wobei Paulus' Entrückung als das genuin christliche Vorbild gilt (er wird kurz darauf, V. 28–30, auch erwähnt).
Die Rolle der heiligen Lucia in Dantes Reise
Die heilige Lucia erscheint indirekt in diesem Canto – nicht in den Versen 13–15 selbst, aber unmittelbar später (V. 97 ff), als Beatrice schildert, wie Lucia sie zur Hilfe für Dante drängte:
> „Luci’a nimica di ciascun crudele
> si mosse, e venne al loco dov’i’ era,
> che mi sedea con l’antica Rachele.“
Bezug zu Vv. 13–15:
Dantes Unwürdigkeit vs. göttlicher Beistand: Während V. 13–15 Dantes Zweifel und seine Angst formulieren, dass er als „Nicht-Aeneas“ oder „Nicht-Paulus“ nicht würdig sei, ins Jenseits zu reisen, bildet Lucia (neben Maria und Beatrice) ein Glied der göttlichen Kette, die seine Reise ermöglicht. Ihre Fürsprache kompensiert seine natürliche Unwürdigkeit.
Lucia als Lichtgestalt: Lucia (lat. lux, „Licht“) wird traditionell als Symbol der erleuchteten Gnade verstanden – sie bringt das Licht der Gnade in Dantes Dunkelheit. Wie Aeneas und Paulus eine göttliche Mission erfüllten, so wird Dantes eigene Sendung durch Lucias Einfluss als geistlich legitimiert.
Mystische Theologie der Gnade: In diesem Kontext ist Lucia nicht nur eine Heilige, sondern Repräsentantin des mystischen Eingreifens Gottes. Ohne sie, Beatrice und Maria könnte Dante sich dem göttlichen Bereich nicht nähern – seine Reise bleibt Gnadengeschehen.
Fazit
Dantes Bezug auf „Silvios Verwandten“ in V. 13–15 ist doppeldeutig:
Er dient zur Betonung seiner eigenen Unwürdigkeit – ein rhetorischer Topos, der an die Demut des Paulus erinnert.
Gleichzeitig wird durch die spätere Erwähnung Lucias ein Vertrauensnetz aus Gnadenvermittlerinnen entfaltet, das Dante zur Reise überhaupt befähigt. Diese Vermittlung durch weibliche, heilige Gestalten ergänzt die männlich-heroischen Vorbilder Aeneas und Paulus mit einer theologisch-mystischen Dimension: Was sie durch heroische oder charismatische Berufung erreichten, wird Dante durch Barmherzigkeit ermöglicht.
So schafft Dante eine dreifache Legitimation:
klassisch-politisch (Aeneas),
apostolisch-mystisch (Paulus),
gnadenhaft-marianisch (Lucia–Beatrice–Maria).