Io cominciai: «Poeta che mi guidi,
guarda la mia virtù s’ell’è possente,
prima ch’a l’alto passo tu mi fidi.
wörtlich-erhöhte Version
Ich hub an zu sprechen: „Dichter, du mein Leiter,
sieh an, ob meine Kraft auch wirklich reicht,
bevor du mich der hohen Fahrt anvertraust.“
poetisch verdichtete Version
Ich sprach: „O Dichter, der mich führen soll,
prüf, ob mein Mut für solche Reise taugt,
eh du mich einem hohen Ziel vermachst.“
psychologisch betont
Ich sagte: „Dichter, der du mich begleitest –
bist du sicher, dass ich stark genug bin,
ehe du mir diesen schweren Weg zumutest?“
Philologische Betrachtung
„Io cominciai“: Ein klassischer Ingressus in der ersten Person Singular. Die Wahl des Verbs cominciare legt eine neue Phase im Dialog fest. Dies ist der erste direkte Einwand Dantes gegen den vorgeschlagenen Weg.
Poeta che mi guidi„“: Die Appellation Poeta mit Relativsatz betont Virgils Rolle nicht nur als Führer, sondern auch als Autorität der klassischen Dichtung (römische Epik). Der Vokativ hat etwas Ergebenes, aber auch Appellatives.
guarda la mia virtù s’ell’è possente„“: Virtù bedeutet nicht bloß „Kraft“, sondern im mittelalterlichen Sinne moralische, intellektuelle und spirituelle Befähigung (lat. virtus). Das s’ell’è possente ist eine demütige Infragestellung der eigenen Eignung.
prima ch’a l’alto passo tu mi fidi„“: Alto passo ist eine metaphorische Umschreibung für die geistig und existenziell „hohe“ Reise. Das Verb fidare (anvertrauen) enthält einen Beziehungsaspekt: Dante übergibt sich Virgils Führung, fordert aber Verantwortung ein.
Poetisch-literarische Perspektive
Dante äußert hier zum ersten Mal deutlich seine Zweifel – nicht an Virgils Fähigkeit, sondern an der eigenen. Diese Stelle markiert einen Wendepunkt in der Dramaturgie des Canto II, der insgesamt als „canto del dubbio“ (Gesang des Zweifels) bezeichnet wird.
Die Anapher des "Ich"-Sprechers (Io cominciai) erinnert uns daran, dass dies keine bloße Erzählung, sondern ein psychischer und spiritueller Akt ist. Der Klangfluss (alliterativ: guarda... virtù... possente) verlangsamt das Tempo – als würde Dante stocken.
Virgil fungiert hier als eine Art Mentorenfigur, aber es ist Dante, der die Beziehung mit einem Appell anstößt. Die Spannung zwischen dem Führer und dem Geführten wird poetisch subtil in Szene gesetzt.
Theologisch-anthropologische Perspektive
Virtù verweist auf die Gnadenverfassung des Menschen: Ist Dante "würdig", in die göttlichen Geheimnisse einzudringen? Der Zweifel an der eigenen Fähigkeit ist ein Ausdruck von Demut, aber auch von theologischer Anthropologie – der Mensch erkennt sich als begrenzt.
Der alto passo kann allegorisch als der Übergang vom irdischen zum metaphysischen Raum verstanden werden – die Selbsterkenntnis als Voraussetzung für das Fortschreiten zur Gottesschau.
Diese Stelle erinnert an Moses’ Zögern vor dem brennenden Dornbusch (Ex 3) oder an Jeremias Berufungszweifel (Jer 1). Sie ist ein archetypischer Moment spiritueller Initiation.
Philosophisch-psychologische Dimension
Wir erleben hier die Geburt der existenziellen Angst im Angesicht des Unbekannten. Dantes Zweifel ist nicht bloß Schwäche, sondern Ausdruck seiner existentiellen Ehrlichkeit.
Der Begriff virtù kann in aristotelischer wie thomistischer Tradition als Ausdruck einer habitualisierten Tugend gelesen werden: Hat Dante die innere Festigkeit (habitus), das, was vor ihm liegt, zu ertragen und zu erkennen?
Der alto passo steht für eine Grenzüberschreitung: von der Sphäre der Sinneserfahrung in die Sphäre der Intellektion und Transzendenz.
Historisch-literarischer Kontext
Diese Szene reflektiert das mittelalterliche Bewusstsein, dass wahre Erkenntnis nicht nur Wissen, sondern auch Charakter voraussetzt. Dante lässt den Leser hier in die intimen Ringe seiner spirituellen Biographie eintreten. Der Weg zur Divina Commedia ist kein Werk bloßer Imagination, sondern ein innerer Prozess, der Anstrengung und Selbstprüfung verlangt.
Im Gegensatz zu antiken Helden, die durch göttliche Herkunft oder physische Kraft legitimiert sind, stellt Dante sich selbst als Zweifelnden dar – und darin liegt eine neue christliche Anthropologie: Die Würde des Menschen besteht nicht in Stärke, sondern in der Bereitschaft zur Läuterung.
Die Verse thematisieren die existenzielle Selbstzweifel Dantes angesichts der bevorstehenden Reise durch die Jenseitsreiche. Im Folgenden kommentiere ich die Stelle im Licht zentraler Gedanken bei Augustinus, Thomas von Aquin und Carl Gustav Jung, wobei der Fokus auf psychologischer, theologischer und anthropologischer Deutung liegt.
Augustinus – Confessiones: Selbstzweifel, Gnade und innere Bewegung
Dantes Zweifel an seiner „virtù“ erinnern an den augustinischen Gedanken, dass der Mensch sich aus eigener Kraft nicht zu Gott erheben kann. In den Confessiones schildert Augustinus seinen Kampf mit der eigenen Schwäche:
> “Da sagte ich zu mir selbst: Mutlosigkeit lähmt dich! Warum nicht jetzt? Warum nicht in dieser Stunde dein schmutziges Leben beenden?” (Conf. VIII,11)
Wie Dante erlebt Augustinus eine Schwäche des Willens (impotentia voluntatis), die sich nicht allein durch rationale Einsicht überwinden lässt. Die Wendung kommt bei Augustinus erst durch Gnade – eine Bewegung Gottes im Inneren, die die menschliche Ohnmacht transzendiert. Dantes „virtù“ muss daher ebenfalls als etwas verstanden werden, das letztlich durch göttliche Intervention (vgl. Beatrices Fürsprache) gestärkt wird.
Thomas von Aquin – Summa Theologiae: Tugend, Angst und sittliche Urteilskraft
Thomas versteht „virtus“ nicht bloß als Kraft, sondern als sittliche Tugend (habitus boni). Dantes Frage, ob seine „virtù“ ausreiche, ist somit nicht rein physischer oder psychischer Natur, sondern bezieht sich auf seine moralisch-geistige Befähigung zu einem geistlichen Aufstieg. In der Summa Theologiae (I-II, q. 61) spricht Thomas von der Unentbehrlichkeit der Tugenden für das Seelenheil – vor allem von den theologischen Tugenden fides, spes, caritas.
Zudem behandelt Thomas die „timor servilis“ – die Furcht des Unvollkommenen vor Strafe oder Versagen –, die den Anfang der Bekehrung markieren kann (STh II-II q. 19). Dantes Bitte an Vergil zeigt diesen Zustand: Noch dominiert Angst vor dem „alto passo“ (dem erhabenen Weg), aber diese Furcht ist eine erste Bewegung der Seele zum Guten.
C.G. Jung – Archetypen, Individuation und die Schwelle des Unbewussten
In der jungianischen Psychologie entspricht Dantes Aussage dem typischen Widerstand zu Beginn der Individuationsreise. Die „virtù“, die hinterfragt wird, ist das noch unentwickelte Selbstvertrauen des Ichs gegenüber den Herausforderungen des kollektiven Unbewussten. Jung schreibt in Psychologie und Alchemie:
> „Niemand geht gern freiwillig in die Tiefe seiner selbst. \[...] Der Schatten ist der erste Initiator auf dem Weg zum Selbst.“
Vergil als Führer symbolisiert bei Jung das Logos-Prinzip, den archetypischen „weisen alten Mann“, der den Helden zum Unbewussten begleitet. Der „alto passo“ verweist auf den Übergang zur Konfrontation mit der Schattenseite, den inneren Monstern und verdrängten Konflikten. Die Frage, ob man dazu bereit ist, stellt der Mensch sich an der Schwelle jeder echten Transformation.
Zusammenfassend
Dantes Bekenntnis in diesen drei Versen steht an der psychischen, theologischen und spirituellen limen, an der Schwelle zur Initiation:
Augustinus erkennt darin die Schwäche des Willens und die Notwendigkeit göttlicher Gnade.
Thomas liest die Szene als Prüfung der Tugendfähigkeit, besonders im Lichte der Furcht und des Glaubens.
Jung interpretiert den Moment als archetypische Schwellenangst vor der Reise in das Unbewusste.
Die „virtù“ ist also nicht bloß Kraft, sondern ein Prüfstein der Seele im Angesicht des Transzendenten – ein zentrales Motiv aller drei Denker in je unterschiedlicher, doch sich ergänzender Weise.