Questi parea che contra me venisse
con la test'alta e con rabbiosa fame,
sì che parea che l'aere ne tremesse.
Wörtlich-nahe
Dieser schien mir entgegenzukommen
mit hoch erhobenem Haupt und wütendem Hunger,
sodass es schien, als zitterte davon die Luft.
Poetisch-bildhafte Übersetzung
Der schritt auf mich zu, stolz erhobenen Haupts,
hungrig in seiner Wut,
dass ringsum die Luft erbebte.
Moderner, freierer Ansatz
Er näherte sich mir drohend,
den Kopf erhoben, getrieben von wildem Hunger,
bis die Luft selbst zu beben schien.“
Wörtliche Übersetzung und syntaktische Analyse
"Questi parea che contra me venisse"
> Dieser (der Löwe) schien gegen mich zu kommen
• Questi: demonstratives Pronomen, bezieht sich auf das Tier (den Löwen)
• parea: Imperfekt von parere – „es schien“, poetisch kontrahiert
• che contra me venisse: Konjunktiv Imperfekt (abhängig von parea), „dass er gegen mich käme“
"con la test’alta e con rabbiosa fame,"
> mit erhobenem Haupt und wütendem Hunger
• test’alta: „testa alta“, poetisch kontrahiert; Stolz, Majestät
• rabbiosa fame: „rasender Hunger“ – Tierhaftigkeit, Unersättlichkeit, Zerstörungskraft
"sì che parea che l’aere ne tremesse."
> sodass es schien, als bebte die Luft davon
• sì che...: „so sehr, dass…“
• parea: wieder „es schien“
• l’aere tremesse: „die Luft bebte“, auch symbolisch zu lesen
Literarisch-poetische Analyse
1. Epische Spannung und Dramatik
• Die Szene ist von starker Bildlichkeit und Dynamik geprägt:
• Die gestreckte Syntax mit doppeltem „parea che...“ verstärkt das Gefühl von Unsicherheit und Überwältigung.
• Der Löwe bewegt sich drohend und königlich (test’alta), was an seine traditionelle Rolle als König der Tiere erinnert.
• Gleichzeitig ist er wild und gefährlich – die rabbiosa fame weist auf animalische Triebe hin, die unkontrollierbar sind.
Symbolische Bedeutung
• Die allegorische Bedeutung ist mehrschichtig:
a) Moralisch-spirituelle Allegorie
• Der Löwe symbolisiert im traditionellen allegorischen Deutungsrahmen der mittelalterlichen Literatur Superbia (Stolz) – eine der drei Hauptsünden (neben Luxuria und Avaritia).
• Diese Sünde ist besonders verhängnisvoll, da sie zur Selbstvergötterung und Abkehr von Gott führt (vgl. Augustinus und Gregor der Große).
b) Politische Allegorie
• In politischen Deutungen (etwa von Benvenuto da Imola oder im Sinne der Ghibellinen) steht der Löwe oft für die Gewalt der Fürsten, vielleicht auch für die Anmaßung der französischen Monarchie oder des Papsttums (nach Interpretation).
c) Psychologische Allegorie
• Der Löwe steht für Dantes innere Angst vor Überheblichkeit, seine Kämpfe mit Eitelkeit oder intellektuellem Stolz.
• Das Beben der Luft (l’aere tremesse) symbolisiert eine Erschütterung der seelischen Ordnung.
Theologisch-philosophischer Kontext
1. Theologische Bedrohung
• Die Tiere hindern Dante daran, den Berg zu besteigen – den symbolischen Weg zu Gott (via salutis). Der Löwe ist nicht nur gefährlich, sondern erschütternd: sogar die „Luft“ – als Medium zwischen Mensch und Himmel – zittert.
• Das erinnert an mittelalterliche kosmologische Konzepte: Die Ordnung der Schöpfung wird durch Sünde gestört. Wenn der Stolz (Superbia) herrscht, „zittert“ selbst die natürliche Ordnung.
2. Philosophischer Subtext
• Die Szene spielt mit aristotelischen Begriffen:
• Animal rationale (vernunftbegabtes Tier) – hier ist das „Tier“ ohne Ratio, also reine Triebhaftigkeit.
• Die aufgerichtete Haltung (test’alta) kann als pervertierte Rationalität gelesen werden: der Stolz als Fehlgebrauch des Intellekts.
Historischer und intertextueller Kontext
1. Einflüsse aus der Bibel
• Der brüllende, bedrohliche Löwe erinnert an 1 Petr 5:8:
• „Euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe.“
• Auch in der Apokalypse erscheint der Löwe ambivalent – sowohl als Bedrohung als auch als Zeichen göttlicher Macht.
2. Literarische Anspielungen
• Vergils Aeneis Buch 6: Der Eingang zur Unterwelt wird von Chimären und gefährlichen Tieren bewacht – literarisches Motiv der Schwelle.
• Die Beschreibung des Bebens der Luft erinnert an klassische Epen (Homer, Vergil), in denen das Auftreten göttlicher oder dämonischer Kräfte die Natur selbst erschüttert.
Stilistische Besonderheiten
• Anapher: "parea che..." | Verstärkt Unsicherheit, subjektive Wahrnehmung
• Alliteration: "rabbiosa fame" | Klangliche Schärfe, Aggressivität
• Hyperbel: "l’aere ne tremesse" | Übersteigerte Bedrohung, fast kosmisches Ausmaß
• Kontraste (test’alta vs. fame) | Erhabenheit vs. Triebhaftigkeit – innerer Widerspruch
Zusammenfassung
Dantes Beschreibung des Löwen in Canto I ist eine komplexe symbolische Szene, die auf verschiedenen Ebenen funktioniert:
• 1. Wörtlich: Eine dramatische Bedrohung auf dem Weg zur Erlösung.
• 2. Moralisch: Symbol für Superbia, eine der Grundsünden.
• 3. Politisch: Mögliche Kritik an weltlicher oder kirchlicher Macht.
• 4. Psychologisch: Innere Konflikte Dantes mit Stolz und Angst.
• 5. Kosmisch-theologisch: Der Sündenfall erschüttert die Ordnung der Welt selbst.