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Johann Wolfgang Goethe
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(Wanderungen)
(Frankfurt, Darmstadt, Homburg, Wetzlar)

Ein zärtlich jugendlicher Kummer
Führt mich in's öde Feld, es liegt
In einem stillen Morgenschlummer
Die Mutter Erde. Rauschend wiegt
Ein kalter Wind die starren Äste. Schauernd5
Tönt er die Melodie zu meinem Lied voll Schmerz.
Und die Natur ist ängstlich still und trauernd,
Doch hoffnungsvoller als mein Herz.
Denn sieh bald gaukelt dir, mit Rosenkränzen
In runder Hand, du Sonnengott, das Zwillingspaar10
Mit offnem blauem Aug, mit krausem goldnen Haar,
In deiner Laufbahn dir entgegen. Und zu Tänzen
Auf neuen Wiesen schickt
Der Jüngling sich, und schmückt
Den Hut mit Bändern, und das Mädgen pflückt15
Die Veilgen aus dem jungen Gras; und bückend sieht
Sie heimlich nach dem Busen, sieht mit Seelenfreude
Entfalteter, und reizender ihn heute
Als er vorm Jahr am Maienfest geblüht.
Und fühlt, und hofft.20
Gott segne mir den Mann,
In seinem Garten dort! Wie zeitig fängt er an
Ein lockres Bett dem Samen zu bereiten!
Kaum riß der März das Schneegewand
Dem Winter von den hagern Seiten,25
Der stürmend floh, und hinter sich aufs Land
Den Nebelschleier warf, der Fluß und Au
Und Berg in kaltes Grau
Versteckt; da geht er ohne Säumen
Die Seele voll von Ernteträumen30
Und sät und hofft.

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