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Johann Wolfgang Goethe
Sämtliche Gedichte

Geniezeit
Gelegenheiten
Strassburg / Sessenheim

Erwache Friedericke
Vertreib die Nacht
Die einer Deiner Blicke
Zum Tage macht.
Der Vögel sanft Geflüster5
Ruft liebevoll
Daß mein geliebt Geschwister
Erwachen soll

Ist Dir Dein Wort nicht heilig
Und meine Ruh?10
Erwache! Unverzeihlich!
Noch schlummerst Du!
Horch Philomelens Kummer
Schweigt heute still
Weil Dich der böse Schlummer15
Nicht meiden will.

Es zittert Morgenschimmer
Mit blödem Licht
Errötend durch Dein Zimmer
Und weckt Dich nicht.20
Am Busen Deiner Schwester
Der für Dich schlagt
Entschläfst Du immer fester
Je mehr es tagt.

Ich seh Dich schlummern, Schöne25
Vom Auge rinnt
Mir eine süße Träne
Und macht mich blind
Wer kann es fehllos sehen
Wer wird nicht heiß30
Und wär er von den Zehen
Zum Kopf von Eis!

Vielleicht erscheint Dir träumend
O Glück mein Bild
Das halb im Schlaf und reimend35
Die Musen schilt
Erröten und erblassen
Sieh sein Gesicht:
Der Schlaf hat ihn verlassen
Doch wacht er nicht.40

Die Nachtigall, im Schlafe
Hast Du versäumt:
So höre nun zur Strafe
Was ich gereimt
Schwer lag auf meinem Busen45
Des Reimes Joch.
Die schönste meiner Musen,
Du — schliefst ja noch.

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