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Johann Wolfgang Goethe
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Die Reliquie

Ich kenn', o Jüngling, deine Freude,
Erwischest du einmal zur Beute
Ein Band, ein Stückgen von dem Kleide,
Das dein geliebtes Mädgen trug.
Ein Schleier, Halstuch, Strumpfband, Ringe,5
Sind wirklich keine kleinen Dinge,
Allein mir sind sie nicht genug.

Mein zweites Glücke nach dem Leben,
Mein Mädgen hat mir was gegeben,
Setzt eure Schätze mir darneben, 10
Und ihre Herrlichkeit wird nichts.
Wie lach ich all der Trödelware!
Sie schenkte mir die schönsten Haare,
Den Schmuck des schönen Angesichts.

Soll ich dich gleich, Geliebte, missen, 15
Wirst du mir doch nicht ganz entrissen,
Zu sehn, zu tändeln und zu küssen,
Bleibt mir der schönste Teil von dir.
Gleich ist des Haars und mein Geschicke,
Sonst buhlten wir mit einem Glücke 20
Um sie, jetzt sind wir fern von ihr.

Fest waren wir an sie gehangen,
Wir streichelten die runden Wangen,
Und gleiteten oft mit Verlangen
Von da herab zur rundern Brust.25
O Nebenbuhler, frei vom Neide,
Reliquie, du schöne Beute,
Erinnre mich der alten Lust.

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