Leipziger Witzkultur
Annette
Lyde
Eine Erzählung
Euer Beifall macht mich freier,
Mädgen, hört ein neues Lied.
Doch verzeiht, wenn meine Leyer
Nicht von jenem heil'gcn Feuer
Der geweihten Dichter glüht.
5
Hört von mir, was wenig wissen,
Hört's, und denket nach dabei:
Daß, wenn zwei sich zärtlich küssen,
Gern sich sehn, und ungern missen,
Es nicht stets aus Liebe sei.
10
Lyde brannt' von einem Blicke
Für Aminen, er für sie;
Doch ein widriges Geschicke
Hinderte noch beider Glücke,
Ihre Eltern schliefen nie.
15
Wachsamkeit wird euch nichts taugen,
Wenn die Töchter unser sind;
Eltern, habet hundert Augen,
Mädgen, wenn sie List gebrauchen,
Machen hundert Augen blind.
20
Listig hofft sie eine Stunde
Ihre Wächter los zu sein.
Endlich kommt die Schäferstunde,
Und von ihrem heißen Munde
Saugt Amin die Wollust ein.
25
So genoß entfernt vom Neide
Er noch manchen süßen Kuß.
Doch er ward so vieler Beute
Überdrüssig. Jede Freude
Endigt sich mit dem Genuß.
30
Ist wohl bei des Blutes Wallen,
Denkt er immer Liebe da?
Liebt sie mich denn wohl vor allen?
Oder hab ich ihr gefallen?
Weil sie mich am ersten sah?
35
Einst spricht er, dies auszuspüren:
Ach, wie quält mein Vater mich!
Fern soll ich die Herde führen ‒
Himmel! Dich soll ich verlieren!
Ha! Das Leben eh'r als dich.
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