LITERATO •     Seiten für Literatur

Johann Wolfgang Goethe
Sämtliche Gedichte

Das erste Weimarer Jahrzehnt
Italien / Persönlicher Kreis
Frau von Stein

(Weimar, 2. 11. 1776)

An den Geist des Johannes Sekundus

Lieber, heiliger, großer Küsser,
Der du mir's in lechzend atmender
Glückseligkeit fast vorgetan hast!
Wem soll ich's klagen? klagt ich dir's nicht!
Dir, dessen Lieder wie ein warmes Küssen5
Heilender Kräuter mir unters Herz sich legten,
Daß es wieder aus dem krampfigen Starren
Erdetreibens klopfend sich erholte.
Ach wie klag ich dir's, daß meine Lippe blutet,
Mir gespalten ist, und erbärmlich schmerzet,10
Meine Lippe, die so viel gewohnt ist
Von der Liebe süßtem Glück zu schwellen
Und, wie eine goldne Himmelspforte,
Lallende Seligkeit aus und einzustammeln.
Gesprungen ist sie! Nicht vom Biß der Holden,15
Die, in voller ringsumfangender Liebe,
Mehr mögt haben von mir, und mögte mich Ganzen
Ganz erküssen, und fressen, und was sie könnte!
Nicht gesprungen weil nach ihrem Hauche
Meine Lippen unheilige Lüfte entweihten.20
Ach gesprungen weil mich, Öden, Kalten,
Über beizenden Reif, der Herbstwind anpackt.
Und da ist Traubensaft, und der Saft der Bienen,
An meines Herdes treuem Feuer vereinigt,
Der soll mir helfen! Wahrlich er hilft nicht25
Denn von der Liebe alles heilendem
Gift Balsam ist kein Tröpfgen drunter

◀◀◀ 184 ▶▶▶
Home
chresmos@gmail.com