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Johann Wolfgang Goethe
Sämtliche Gedichte

Geniezeit
Gelegenheiten
Verstreutes

(An Merck)

(Sendschreiben)

Lieber Bruder,
Wer nicht richtet sondern fleißig ist
Wie ich bin und wie du bist
Den belohnet auch die Arbeit mit Genuß
Nichts wird auf der Welt ihm Überdruß.
Denn er bläcket nicht mit stumpfem Zahn5
Lang gesottnes und gebratnes an
Das er wenn er noch so sittlich kaut
Endlich doch nicht sonderlich verdaut
Sondern faßt ein tüchtig Schinkenbein
Haut da gut Taglöhnermäßig drein10
Füllt bis oben gierig den Pokal
Trinkt und wischt das Maul wohl nicht einmal

Sieh so ist Natur ein Buch Lebendig
Unverstanden doch nicht unverständlich
Denn dein Herz hat viel und groß Begehr15
Was wohl in der Welt für Freude wär,
Allen Sonnenschein und alle Bäume
Alles Meergestad und alle Träume
In dein Herz zusammeln mit einander
Wie die Welt durchwühlend Bäncks Solander.20
Und wie muß dirs werden wenn du fühlest
Daß du alles in dir selbst erzielest.
Freude hast an deiner Frau und Hunden
Als wohl keiner in Elisium gefunden
Als er da mit Schatten lieblich schweifte25
Und an goldnen Gottgestalten streifte
Nicht in Rom in Magna Gräcia
Dir im Herzen ist die Wonne da
Wer mit seiner Mutter der Natur sich hält
Findt im Stengelglas wohl eine Welt.30

d. 4 Dez Sonntags 1774. G.

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