Luther 1545
Vnd Seth zeuget auch einen Son / vnd hies jn Enos / Zu derselbigen zeit fieng man an zu predigen von des HERRN Namen.
Luther 1912
Und Seth zeugte auch einen Sohn und hieß ihn Enos. Zu der Zeit fing man an, zu predigen von des HERRN Namen.
Parallelstellen zu Genesis (1Mose) 04:26
1Mo 4:26 Und auch dem Seth ward ein Sohn geboren, den hieß er Enosch. Damals fing man an, den Namen des HERRN anzurufen.
1Mo 4:6 Da sprach der HERR zu Kain: Warum bist du so zornig und lässest den Kopf hängen? Ist's nicht also: Wenn du gut bist, so darfst du dein Haupt erheben?
1Mo 12:8 Von da rückte er weiter vor aufs Gebirge, östlich von Bethel, und schlug sein Zelt also auf, daß er Bethel im Westen und Ai im Osten hatte; und er baute daselbst dem HERRN einen Altar und rief den Namen des HERRN an.
Analyse
Genesis 4,26 in der Lutherübersetzung von 1912 ist ein bemerkenswerter Vers mit vielschichtiger Bedeutung.
Er ist semantisch reich (mit starken Verben und symbolischer Namensgebung), theologisch zentral (Beginn des Gottesdienstes und spiritueller Menschheitsgeschichte) und literarisch kunstvoll (als Kontrastpunkt zur Linie Kains).
Er markiert den Übergang vom bloßen Überleben zum bewussten Leben in Gottes Gegenwart – und damit den ersten Aufbruch zur Religion als freier, kultischer Ausdruck der Menschennatur.
Genesis 4,26 ist bei näherer Betrachtung kein bloßer genealogischer Einschub, sondern ein Schlüsselvers für das Verständnis der religiösen Anthropologie der Bibel.
Er verbindet genealogische Kontinuität mit einem spirituellen Neubeginn: Die Geburt Enoschs markiert den Anfang des religiösen Selbstbewusstseins der Menschheit. Kulturgeschichtlich steht er für die erste liturgische Äußerung, anthropologisch für das Bewusstsein der Sterblichkeit, allegorisch für das Erwachen der Seele zur Gottesbeziehung.
Genesis 4,26 ist ein Wendevers: psychologisch ein Erwachen zur Transzendenz durch die Erfahrung der Endlichkeit; philosophisch ein erster Entwurf dessen, was es heißt, Mensch zu sein im Angesicht des Anderen; poetisch eine leise Geburt des Wortes, das zum Gebet wird.
Der Mensch wird sterblich – und gerade darum beginnt er, Gott zu rufen. In diesem Ruf beginnt Geschichte als geistige Bewegung.
Biblisches Hebräisch (Masoretischer Text)
וּלְשֵׁת גַּם־הוּא יֻלַּד־בֵּן וַיִּקְרָא אֶת־שְׁמוֹ אֱנוֹשׁ אָז הוּחַל לִקְרֹא בְּשֵׁם יְהוָה
U-le-Schet gam-hu yullad-ben, va-yikra et-shemo Enosch. Az huchal liqro b’schem Adonai.
וּלְשֵׁת גַּם־הוּא (u-le-Schet gam-hu): »Auch dem Seth« – die Partikel gam (»auch«) betont, dass nun bei Seth etwas geschieht, was den Fortgang der Menschheit markiert.
יֻלַּד־בֵּן (yullad-ben): »wurde ein Sohn geboren« – Passivform von yalad (gebären), zeigt die Geburt als göttlich-gefügten Akt.
וַיִּקְרָא אֶת־שְׁמוֹ אֱנוֹשׁ (va-yikra et-shemo Enosch): »und er nannte seinen Namen Enosch« – Enosch bedeutet »Mensch, Sterblicher«, betont die Vergänglichkeit des Menschen im Kontrast zu Gott.
אָז הוּחַל לִקְרֹא בְּשֵׁם יְהוָה (az huchal liqro b’schem Adonai): »damals begann man, den Namen JHWH anzurufen« –
huchal (Hofal-Form von chalal, »anfangen«): zeigt einen passiven Beginn oder einen gesellschaftlich etablierten Beginn.
liqro b’schem YHWH: »rufen im Namen des HERRN« – kann sowohl anrufen im kultischen Sinn als auch verkünden/predigen bedeuten.
Semantisch markiert dies den Anfang eines bewussten Gottesdienstes oder kultischer Verehrung – ein Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte.
Biblisches Griechisch (Septuaginta)
Καὶ τῷ Σηθ ἐγένετο υἱός· καὶ ἐκάλεσεν τὸ ὄνομα αὐτοῦ Ἐνώς· οὗτος ἤλπισεν ἐπικαλεῖσθαι τὸ ὄνομα Κυρίου τοῦ Θεοῦ.
Kai tō Sēth egeneto huios; kai ekalesen to onoma autou Enōs; houtos ēlpisen epikaleisthai to onoma Kyriou tou Theou.
ἐγένετο υἱός (egeneto huios): »es wurde (ihm) ein Sohn« – ähnlich dem hebräischen Passiv, Ausdruck göttlicher Fügung.
ἐκάλεσεν τὸ ὄνομα αὐτοῦ Ἐνώς (ekalesen to onoma autou Enōs): »er nannte seinen Namen Enosch« – wie im Hebräischen; Betonung auf der Namensgebung.
οὗτος ἤλπισεν ἐπικαλεῖσθαι (houtos ēlpisen epikaleisthai): »dieser hoffte, anzurufen« –
ēlpisen (von elpizō, »hoffen, vertrauen«) statt hērxato (er begann): betont Vertrauen, eine innerliche, vielleicht prophetische Haltung.
epikaleisthai (»anrufen, sich auf etwas berufen«): zeigt eine persönliche oder kultische Beziehung zu Gott.
τὸ ὄνομα Κυρίου τοῦ Θεοῦ (to onoma Kyriou tou Theou): »den Namen des Herrn, des Gottes« – typischer Ausdruck für Verehrung oder liturgischen Ruf im Namen des Gottes Israels.
Die Septuaginta interpretiert stärker existenzielle Hoffnung als bloßen Kultbeginn. Der Fokus liegt auf einer geistlichen Öffnung gegenüber Gott.
Biblisches Lateinisch (Vulgata)
Sed et Seth natus est filius, quem vocavit Enos: iste coepit invocare nomen Domini.
Sed et Seth natus est filius: »Auch dem Seth wurde ein Sohn geboren« – ähnlich der hebräischen Vorlage, nüchtern und genealogisch.
quem vocavit Enos: »den er Enos nannte« – direkte Übernahme der hebräischen Form.
iste coepit invocare nomen Domini:
coepit (»er begann«): markiert einen bewussten Anfang.
invocare (»anrufen, herbeirufen«): Begriff für kultischen, oft liturgischen Ruf zu Gott, aber auch Ausdruck einer entstehenden persönlichen Frömmigkeit.
nomen Domini (»den Namen des Herrn«): wie im Hebräischen; Zeichen für Gotteserkenntnis und Anbetung.
Die Vulgata steht zwischen der formalen Präzision des Hebräischen und der spirituell-dynamischen Auslegung der Septuaginta. Sie legt den Akzent auf die Einführung des »Anrufens« des göttlichen Namens als rituelle oder glaubensmäßige Praxis.
Fazit der semantischen Entwicklung
Der hebräische Text (הוּחַל) ist ambivalent: Er kann einen neuen Kult markieren oder auch eine Profanierung (im negativen Sinn) je nach Kontext (vgl. Gen 6,1ff).
Die griechische Übersetzung (ἤλπισεν ἐπικαλεῖσθαι) deutet den Vers mystisch-individuell: als Aufkeimen von Vertrauen und Gottesbeziehung.
Die lateinische Fassung (coepit invocare) stellt eine Balance her zwischen Kultbeginn und persönlicher Frömmigkeit.
Semantische Analyse des Luther-Texts (1912)
»Und Seth zeugte auch einen Sohn«
Der Ausdruck »zeugte« (hebräisch: yalad) steht im Hebräischen oft für den biologischen Akt der Zeugung, aber auch für die Gründung einer Generation.
Das »auch« verbindet Seths Zeugung mit den vorhergehenden Genealogien (besonders mit Kain). Es zeigt, dass es neben der Linie Kains nun auch eine weitere Linie gibt – die von Seth, Adams Ersatzsohn für Abel (vgl. Gen 4,25).
»Sohn« unterstreicht die Fortführung der Generation und die Wichtigkeit der Nachkommenschaft im biblischen Denken (Stichwort: genealogische Kontinuität).
»und hieß ihn Enos«
Der Name »Enos« (hebräisch: ʾĕnôš) ist verwandt mit dem Wort für »Mensch«, insbesondere im Sinn von vergänglichem, schwachem Menschen (vgl. Psalm 8,5: Was ist der Mensch – Enos – dass du seiner gedenkst).
Die Namensgebung ist nicht zufällig: Sie verweist auf das menschliche Bewusstsein von Vergänglichkeit, Abhängigkeit und göttlicher Transzendenz.
»Zu der Zeit fing man an«
Der Satz leitet einen neuen Abschnitt der Geschichte ein – ein epochaler Wendepunkt.
Das hebräische Verb (hūḥal) wird im Passiv/Hofal-Stamm verwendet, was in etwa »es wurde begonnen« bedeutet, aber auch »man begann« zulässt.
Der Zeitpunkt ist unbestimmt, aber bewusst mit dem Auftreten von Enos verknüpft. Die Linie Seth erhält eine geistliche Signatur.
»zu predigen von des HERRN Namen«
»Predigen« ist eine Übersetzung von qārāʾ bəšēm JHWH – wörtlich: »den Namen des HERRN anrufen«.
Der Luthertext übersetzt »qārāʾ« in diesem Kontext als »predigen«, was auch den Aspekt der öffentlichen Verkündigung und der kultischen Praxis hervorhebt, obwohl »anrufen« (wie in neueren Übersetzungen) näher am hebräischen Urtext liegt.
»des HERRN Namen«: »HERR« steht hier für das Tetragramm JHWH, den persönlichen Gottesnamen Israels. Das »Anrufen des Namens« meint kultisches, bewusstes Beten, Gottesdienst oder evtl. sogar erste Formen organisierter Religion.
Theologische Vertiefung
Der Wendepunkt: Beginn der Gottesverehrung
Mit diesem Vers markiert Genesis 4,26 den Beginn einer neuen Phase der Menschheitsgeschichte: die bewusste, kultisch-religiöse Hinwendung zu JHWH. Es ist das erste Mal in der Bibel, dass von einem bewussten Anrufen oder Predigen »vom Namen des HERRN« die Rede ist.
Gegensatz zur Linie Kains: Während Kains Nachkommen zivilisatorische Errungenschaften hervorbringen (Musik, Städte, Schmiedekunst), aber in moralischer Hinsicht verderben (Lamech, der Mörder), etabliert Seths Linie das geistlich-religiöse Fundament. Es entsteht so eine Art dualistische Anthropologie: technologische, aber gottlose Kultur einerseits – geistlich orientierte Menschheit andererseits.
»Anrufen des Namens des HERRN« kann man als die Urszene der Anbetung verstehen: Der Mensch erkennt seine Abhängigkeit und beginnt, in Beziehung mit Gott zu treten – möglicherweise in Form früher liturgischer oder sakraler Handlungen.
Theologisch entscheidend: Die Gottesbeziehung wird nicht erzwungen, sondern beginnt »aus freiem Willen«. Der Mensch ist in der Lage, den Namen Gottes zu ehren – und entscheidet sich freiwillig dazu. Das trägt Züge der Bundesidee im Keim.
Vergänglichkeit und Gnade
Die Namensgebung »Enos« (= der Schwache, Sterbliche) in Verbindung mit dem ersten Anrufen des göttlichen Namens ergibt eine tiefe theologische Symmetrie:
Der Mensch erkennt seine Endlichkeit – und wendet sich an den Ewigen.
Es entsteht das, was man in der Mystik als kreatürliche Demut bezeichnen könnte: aus dem Bewusstsein der Schwäche erwächst Gotteserkenntnis.
Die theologische Struktur hier erinnert in Ansätzen an späteres biblisches Denken, etwa bei Hiob oder den Psalmen: »Hilf, HERR! denn der Heilige ist dahin...« (Psalm 12,2).
Literarische Vertiefung
Struktur des Kapitels und literarischer Kontrast
Genesis 4 ist bewusst literarisch gebaut:
Zwei Linien, zwei Genealogien – die von Kain (Gen 4,17–24) und die von Seth (Gen 4,25–26).
Die Linie Kains endet in Gewalt (Lamech), während die Linie Seth mit Hoffnung und Gottesbezug beginnt.
Diese Kontraststruktur erzeugt eine ethisch-theologische Polarisierung, die sich durch das ganze Genesis-Buch zieht: Es gibt immer zwei Linien, zwei Wege – ähnlich wie später bei Jakob und Esau oder Isaak und Ismael.
Erzähltechnische Nuancen
Der Vers 26 wirkt fast wie ein Nachsatz zu den vorangegangenen Genealogien, hat aber eine narrative Sprengkraft: Er enthält einen epochalen Bruch.
Der lakonische Stil, typisch für die Frühgeschichte der Genesis, verleiht der kurzen Notiz große Tiefe: Mit wenigen Worten wird ein Weltmoment eingeführt – der Beginn der religiösen Menschheit.
Symbolik des Namens
»Enos« als Symbolname: Der Schwache, der Betende, der Gott anruft.
Damit steht er literarisch am Anfang eines Typus, den man in biblischen Figuren wie Mose, David oder den Propheten wiederfindet: Der Mensch, der seine Abhängigkeit erkennt und in eine Gottesbeziehung tritt.
Kulturgeschichtliche Vertiefung
Einleitung des Kultus und des Gottesnamens:
Der Vers enthält die erste explizite Erwähnung öffentlicher gottesdienstlicher Praxis in der Bibel. Das hebräische Verb huchal (»man fing an«) in Verbindung mit dem Ausdruck qara b’shem YHWH (»den Namen des HERRN anrufen«) weist auf eine beginnende kollektive religiöse Praxis hin. Diese Form des Kultes stellt eine klare Zäsur gegenüber der vorangehenden Geschichte Kains und seines Nachkommens Lamech dar, wo die Menschheit durch Gewalt, Stolz und Selbstbehauptung geprägt ist.
Übergang zur sakralen Sprache:
In einer Welt, in der Sprache bis dahin vor allem zur Benennung und Beschreibung diente (Adam nennt die Tiere, Kain spricht mit Gott), tritt jetzt die rituelle Sprache hervor: die Anrufung. Der Gottesname (YHWH) wird nicht nur erkannt, sondern öffentlich ausgesprochen oder in Liturgie eingebunden. In altorientalischen Kontexten bedeutet das: Ein Übergang vom rein mythischen Bewusstsein hin zu einer kultisch fundierten Religiosität.
Vergleich mit dem altorientalischen Kontext:
In sumerischen und akkadischen Kulturen war das öffentliche Anrufen von Göttern mit Opfer, Hymnen und Tempeldienst verbunden. Genesis 4,26 reflektiert möglicherweise eine polemische Setzung: Nicht die urbanen, gewaltgeprägten Nachkommen Kains sind Ursprung der wahren Religiosität, sondern die demütige Linie Seths.
Anthropologische Vertiefung
Enosch (hebr. אֱנוֹשׁ) – ein sprechender Name:
Das Wort Enosch ist im Hebräischen ein generisches Wort für »Mensch«, oft mit der Bedeutung sterblicher Mensch, schwacher Mensch. Es kontrastiert mit Adam (der Erdling) und betont die Fragilität, Begrenztheit und Sterblichkeit des Menschen.
Bewusstsein der Sterblichkeit und Beginn der Religion:
Der anthropologische Gedanke, der sich hier andeutet, ist tief: Erst mit dem Bewusstsein der eigenen Endlichkeit (»Enosch«) entsteht die Notwendigkeit, sich auf das Transzendente zu beziehen. Der Mensch erkennt sich nicht mehr als Zentrum, sondern als abhängiges Wesen – das ruft. Religion wird hier als Antwort auf die conditio humana begriffen: Die Sterblichkeit bringt die Anrufung Gottes hervor.
Vom Mythos zur Personalisierung:
Vorher war Gott in Genesis 1–4 der Schöpfer, Richter, Bestrafer, Fragender – aber nun wird er angerufen. Der Mensch betritt die Bühne als betendes Wesen. Anthropologisch ist dies der Ursprung der religiösen Sprache als existenzielle Reaktion auf das Leben selbst.
Allegorisch-metaphorische Vertiefung
Die Geburt Enoschs als seelische Geburt:
Allegorisch betrachtet, kann Seth als das Prinzip der Erneuerung verstanden werden, das nach dem Fall und der gewaltsamen Linie Kains eine neue Möglichkeit schafft. Enosch wäre dann die Geburt des inneren Menschen, der seine Sterblichkeit erkennt. Dieser »innere Mensch« beginnt, Gott zu suchen.
»Man begann, den Namen des HERRN anzurufen« – ein Erwachen des Geistes:
Das Anrufen des Namens steht metaphorisch für das Erwachen der geistlichen Dimension im Menschen. In der christlich-mystischen Tradition (z. B. bei Origenes oder Gregor von Nyssa) wird dieses Anrufen als Beginn der inneren Wandlung gelesen: Der Mensch wendet sich von der Welt der Instinkte zur Welt des Geistes.
Das Ende des animalischen Menschen, der Beginn des Homo spiritualis:
Während Kain als Prototyp des »triebhaften Menschen« gelten kann (Handlung, Eifersucht, Besitz), steht Enosch für den Übergang zum »sprechenden, betenden Menschen«. Im allegorischen Sinn ist dies der erste Schritt der Seele in Richtung Gott: die Einsicht in ihre Bedürftigkeit, gefolgt vom Ruf nach dem Absoluten.
Psychologische Vertiefung
• Dieser Vers markiert eine stille, aber psychologisch tiefgreifende Wende im Erleben der Menschheit. Die Geburt von Enos (auch: Enosh, was »Mensch« oder »sterblicher Mensch« bedeutet) fällt in eine Zeit, die von der traumatischen Vorgeschichte des Brudermords zwischen Kain und Abel geprägt ist. Seth steht in dieser Linie als »neuer Anfang«, ein Ersatz (vgl. Gen 4,25) – doch die tiefere seelische Wunde bleibt.
• Der Name Enosch, »der Sterbliche«, verweist bereits auf eine radikale Bewusstwerdung der eigenen Verletzlichkeit. Der Mensch erkennt sich selbst als begrenzt, als vergänglich – vielleicht als Reaktion auf die Gewalterfahrung in der Genesis zuvor. Die psychologische Tiefe liegt hier in der Entstehung eines religiösen Impulses nicht aus Macht, sondern aus Ohnmacht. Das Predigen oder Anrufen des Namens Gottes entspringt nicht bloß einer formalen Kultpraxis, sondern einer inneren Not, einer existenziellen Verunsicherung. Es ist ein kollektiver psychologischer Entwicklungsschritt: Aus dem Schweigen entsteht das Sprechen zu Gott.
• Gleichzeitig entsteht hier das Bewusstsein des »Ich« in Relation zum »Du« – zum göttlichen Du. In der Tiefe wird sichtbar: Der Mensch beginnt, seine Abhängigkeit zu begreifen, nicht mehr nur in Bezug auf Natur oder Gesellschaft, sondern transzendent. Das Anrufen Gottes ist Ausdruck einer neuen Innenwelt, in der Fragen nach Sinn, Schuld, Erlösung und Hoffnung psychisch überhaupt erst artikulierbar werden.
Philosophische Vertiefung
• Philosophisch betrachtet steht Genesis 4,26 an der Schwelle vom bloßen Dasein zum bewussten Dasein. Es ist die Geburtsstunde der Religion als philosophischer Akt – nicht im dogmatischen, sondern im sokratischen Sinne: als Frage, als Staunen, als Bewegung über das bloß Gegebene hinaus.
• Mit Enos beginnt nicht nur eine neue Generation, sondern ein neuer ontologischer Horizont. Der Mensch wird nicht mehr bloß als biologisches Wesen gedacht, sondern als fragendes Wesen. Heidegger könnte hier sagen: Der Mensch tritt in die Existenz, weil er beginnt, sich zum Sein zu verhalten – indem er den Namen Gottes anruft, stellt er eine Beziehung zur Quelle des Seins her.
• Auch Levinas wäre hier fruchtbar: Das »Anrufen des Namens« bedeutet, dass der Andere – Gott – als der absolut Andere anerkannt wird. Damit entsteht Ethik. Die Wende von der Ich-zentrierten Selbstbehauptung (Kain) zur Du-zentrierten Anrufung (Enos) markiert den Beginn einer Ethik der Verantwortung.
Philosophisch wird hier auch eine anthropologische Revolution sichtbar: Der Mensch ist nicht nur animal rationale, sondern animal religiosum. Er ist das Wesen, das fragt, das betet, das sich seinem eigenen Sein gegenüber transzendiert. Und diese Bewegung entsteht aus der Erfahrung der Endlichkeit – Enos, der Sterbliche, ruft das Unsterbliche an.
Poetische Vertiefung
• Poetisch wirkt dieser kurze Vers wie eine leise Quelle, die unter der Oberfläche der Gewalt und Vergänglichkeit plötzlich hervortritt. Nach der dunklen Geschichte von Kain und Abel ist es ein stiller Satz – fast unscheinbar –, der aber die erste liturgische Geste der Menschheit enthält.
• »Zu der Zeit fing man an, zu predigen von des HERRN Namen.«
• Das ist mehr als Information – es ist poetische Verwandlung. Aus der Zeit der Tränen erwächst Sprache. Aus dem Blut, das in die Erde sickerte, erwächst ein Klang – der Klang des Namens. Der Text spricht nicht von großen Ereignissen, sondern vom »Anfang«, einem leisen Beginn. Die Sprache, das Wort, das aufsteigt wie Rauch aus einer verborgenen Flamme. Man fing an – zu sprechen von etwas, das größer ist als das eigene Leben.
• Im hebräischen Original lautet der letzte Teil: וַיִּקְרָא בְּשֵׁם יְהוָה (va-yikra b’shem Adonai) – »man begann, im Namen des HERRN zu rufen«. Dieses »rufen« ist nicht bloß deklamieren, es ist der archaische Schrei des Dichters, der Beterin, des Propheten. Es ist der Urlaut der Sprache, die aus Tiefe kommt.
• Ein poetisches Bild bietet sich an: Der erste Regen nach langem Schweigen, der Klang eines Namens, der wie ein Echo über ein ödes Tal fliegt. Oder: der erste Gesang nach dem Tod eines Bruders. Der Mensch erhebt nicht die Faust – sondern die Stimme. Und dies ist der Anfang von allem, was später Dichtung, Gebet und Liturgie heißen wird.