Genesis 04:24

Luther 1545
Kain sol sieben mal gerochen werden / Aber Lamech sieben vnd siebenzig mal.
Luther 1912
Kain soll siebenmal gerächt werden, aber Lamech siebenundsiebzigmal.

Parallelstellen zu Genesis (1Mose) 04:24

1Mo 4:24 denn Kain soll siebenfach gerächt werden, Lamech aber siebenundsiebzigfach!»
1Mo 4:15 Da sprach der HERR: Fürwahr, wer Kain totschlägt, zieht sich siebenfache Rache zu! Und der Herr gab dem Kain ein Zeichen, daß ihn niemand erschlüge, der ihn fände.
Matt 18:22 Jesus antwortete ihm: Ich sage dir, nicht bis siebenmal, sondern bis siebzigmalsiebenmal!
Matt 18:21 Da trat Petrus herzu und sprach: Herr, wie oft soll ich meinem Bruder vergeben, welcher gegen mich sündigt? Bis siebenmal?

Analyse

In Lamechs Ausspruch liegt der Keim aller Gewaltspiralen. Es ist eine Miniatur der Weltgeschichte: Der Mensch, der aus der Gnade fällt, schafft sich neue Gesetze – nicht um Gerechtigkeit willen, sondern zur Absicherung seiner Macht. In der Übertreibung des Schutzes wird das Unrecht geboren. Christus wird Jahrhunderte später antworten: »Nicht siebenmal sollst du vergeben, sondern siebenundsiebzigmal« (Mt 18,22) – eine Umkehrung, die die Gewaltspirale durchbricht.
Der Vers Genesis 4,24 zeigt eindrücklich, wie aus einer symbolischen Schutzmaßnahme (siebenfache Rache bei Kain) eine maßlose Selbstermächtigung (siebenundsiebzigfache Rache bei Lamech) werden kann. Sprachlich spiegelt sich das in der übersteigerten Zahlensymbolik wider, theologisch verweist es auf den zunehmenden Bruch zwischen Mensch und Gott. Durch Jesu Umdeutung wird der Vers schließlich in eine heilsgeschichtliche Perspektive gestellt, die Vergebung über Vergeltung setzt.

Biblisches Hebräisch (Masoretischer Text)

כִּי שִׁבְעָתַיִם יֻקַּם קָיִן וְלָמֶךְ שִׁבְעִים וְשִׁבְעָה
Kî shiv‘atayim yuqqam Qayin, ve-Lamekh shiv‘îm ve-shiv‘ah
(»Denn siebenfach wird Kain gerächt, aber Lamech siebenundsiebzigfach.«)

Biblisches Griechisch (Septuaginta)

ὅτι ἑπτάκις ἐκδικηθήσεται Κάϊν, Λάμεχ δὲ ἑβδομηκοντάκις ἑπτά
Hoti heptakis ekdikēthēsetai Kaïn, Lamech de hebdomēkontakis hepta

Biblisches Lateinisch (Vulgata)

septies vindicabitur Cain, Lamech vero septuagies septies

Semantische Analyse (Luther 1912)

Der Vers besteht aus zwei parallel aufgebauten Aussagen:
»Kain soll siebenmal gerächt werden«
»aber Lamech siebenundsiebzigmal«
Zentral ist das hebräische Wort für »gerächt« (יִנָּקֵם yinnāqēm), das auf Rache bzw. Vergeltung verweist. Der Text steigert quantitativ: von siebenmal auf siebenundsiebzigmal. Das Partikel aber (hebräisch וַ (wa-)) signalisiert Kontrast oder Steigerung.
Lamech bezieht sich auf die frühere göttliche Zusicherung an Kain (Gen 4,15), nimmt sie aber nun selbst in die Hand – er macht sie zu einem selbstgesetzten, exorbitanten Racheanspruch. Sprachlich ist das ein Beispiel für hyperbolische Repetition, die eine absolute Eskalation andeutet.

Theologische Vertiefung

Lamechs Aussage steht im Kontext einer Welt, die sich von der göttlichen Ordnung entfernt. Die ursprüngliche Verheißung an Kain – Schutz trotz Schuld – wird von Lamech in ein hypertrophes Selbstrecht umgewandelt: nicht göttlich gesetzte, sondern selbst beanspruchte Rache.
Diese Umkehrung von Gnade zu Gewalt ist ein frühes Zeugnis der menschlichen Selbstermächtigung – nicht in Richtung des Guten, sondern des Selbstjustiz. Es ist theologisch gesehen eine Verkehrung der Gnade Gottes in ein Instrument der Einschüchterung. Lamech inszeniert sich selbst als Richter, Henker und Gesetzgeber.

Literarische Vertiefung

Literarisch handelt es sich um ein Kampf- und Rachelied, das als Teil von Lamechs Rede an seine Frauen (Adah und Zillah) überliefert ist (Vers 23–24). Es ist das älteste poetische Fragment der Bibel.
Die Struktur zeigt parallele Hebung: Vers 23 kündet die Tat, Vers 24 ihre vermeintliche Konsequenz. Die Zahlensymbolik (7 und 77) ist literarisch wirkmächtig – sie evoziert Totalität, Übermaß, ein Crescendo des Zorns. Es ist ein frühes Beispiel für den Liedtypus des Siegesliedes, aber in pervertierter Form.

Kulturgeschichtliche Vertiefung

In den altorientalischen Kulturen galt Rache oft als Ehrenpflicht. Die Blutrache war institutionalisiert – doch war sie begrenzt: Auge um Auge, Maß um Maß. Lamech jedoch hebt diese kulturellen Grenzen auf. Er reklamiert nicht nur das Recht zur Rache, sondern eine unverhältnismäßige Eskalation.
Kulturgeschichtlich zeigt sich hier der Übergang von der göttlich gesetzten Ordnung zur menschlich ausgerufenen Machtrhetorik – eine Art Frühform des staatlichen Gewaltmonopols, nur in anarchischer Selbstermächtigung.

Anthropologische Vertiefung

Der Vers offenbart einen Urkonflikt der Menschheit: Schuld, Gewalt und Vergeltung. Lamechs Überhöhung spiegelt eine anthropologische Konstante – das Bedürfnis, Kontrolle durch Drohung zu sichern, Macht durch Angst zu legitimieren.
Die Selbststilisierung Lamechs als unantastbar erinnert an archaische Männlichkeitsrituale: Stärke, Dominanz, Unverletzlichkeit. Es ist ein Manifest der Angstbewältigung durch Gewalt – ein Reflex auf existenzielle Unsicherheit.

Allegorisch-metaphorische Vertiefung

Allegorisch kann Lamech für den gefallenen Menschen stehen, der sich selbst zum Gott macht: nicht mehr unter Gottes Schutz, sondern über allem Recht.
Die siebenfache Rache steht für Vollständigkeit – die siebenundsiebzigfache für Totalität. Lamech wird so zum Symbol für die entgrenzte Gewalt, für ein Maß, das kein Maß mehr kennt.
Metaphorisch evoziert der Vers die Kettenreaktion von Schuld und Vergeltung: Jeder neue Akt der Gewalt fordert einen noch größeren Akt der Gegenvergeltung. Die Zahl 77 wird zur Chiffre des Teufelskreises der Gewalt.

Psychologische Vertiefung

Psychologisch ist Lamechs Ausspruch Ausdruck tiefsitzender Angst und Kompensation. Seine Gewaltrede verschleiert Unsicherheit, möglicherweise Schuld. Der Gestus der Unangreifbarkeit verrät ein verletztes Ego.
Sein Bedürfnis nach überhöhter Vergeltung ist Projektion: Die eigene innere Bedrohung wird nach außen verlagert. Die Drohung mit übermäßiger Rache wird zum Schutzmechanismus, um Ohnmacht nicht zu spüren.

Philosophische Vertiefung

Philosophisch wirft der Vers Fragen nach Gerechtigkeit und Maß auf: Wo endet legitime Verteidigung, wo beginnt Tyrannei? In Lamechs Worten kündigt sich das Problem der Hybris an – die Überschreitung menschlicher Grenzen.
Er ist ein Urbild des homo faber – der Mensch, der seine Welt selbst formt, aber dabei das Maß verliert. In Lamech kündigt sich die Dialektik von Freiheit und Zerstörung an: Der Wille zur Macht wird zur Selbstgefährdung.

Poetische Vertiefung

Der Vers ist pure poetische Verdichtung: Zwei Halbsätze, deren Rhythmus, Zahlensymbolik und Wiederholung große Wirkung entfalten. Die Wiederholung des Wortes gerächt erzeugt eine dramatische Dichte.
Der Gegensatz zwischen 7 und 77 hat einen musikalischen Klang, fast wie ein antiker Hexameter. Die Poesie liegt in der Überhöhung – das archaische Lied wird zur prophetischen Warnung vor maßloser Gewalt.
Sprachhistorische und literarische Perspektive
a) Der Kontext:
Der Vers ist Teil des sogenannten »Lamechliedes« (Gen 4,23–24), eines kurzen poetischen Einschubs innerhalb der Erzählung von Kains Nachkommen. Es handelt sich um die älteste bekannte hebräische Dichtung in der Bibel. Der Rhythmus und Parallelismus legen eine archaische, formelhafte Sprache nahe.
b) »Siebenmal« und »siebenundsiebzigmal«:
Die hebräischen Wörter für diese Zahlen — šiv‘atayim (שִׁבְעָתַיִם, »siebenfach«) und šiv‘im wešiv‘ah (שִׁבְעִים וְשִׁבְעָה, »siebzig und sieben«) — wirken nicht wie exakte mathematische Angaben, sondern wie stilisierte Ausdrucksformen für ein gesteigertes Maß.
Die Zahl 7 ist im Alten Orient eine symbolische Zahl für Vollständigkeit oder göttliche Ordnung. Schon bei Kain wird der siebenfache Schutz als außergewöhnlich verstanden.
Die Steigerung auf 77 (siebenzig plus sieben) bei Lamech wirkt wie eine bewusste Überhöhung — eine hyberbolische Geste der Selbstvergottung oder Selbstermächtigung.
c) Literarischer Effekt:
Der Vergleich ist parallel gebaut: »Wenn Kain siebenmal, dann Lamech siebenundsiebzigmal«. Diese Steigerung verstärkt Lamechs arrogante Selbstsicherheit. Es entsteht eine klangliche wie rhythmische Spannung, die das Gesagte wie einen selbstbewussten Triumphgesang wirken lässt.

Theologische Deutung

a) Gewaltspirale und Selbstjustiz:
Während Gottes siebenfacher Schutz über Kain eine Begrenzung von Gewalt markieren sollte (vgl. Gen 4,15), dreht Lamech dieses Prinzip ins Gegenteil: Er potenziert das Recht auf Rache. Lamechs Aussage wird oft als Symbol für die Eskalation von Gewalt innerhalb der Menschheitsgeschichte gelesen — ein Vorbote der Flutgeschichte, die kurz darauf folgt.
b) Umkehrung in Jesu Lehre:
Jesus greift diese Formulierung in Matthäus 18,22 auf, als er auf die Frage nach der Zahl der Vergebungen antwortet: »Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal« (bzw. »siebzigmal siebenmal« in manchen Übersetzungen). Diese bewusste Umkehrung transformiert das Lamechwort von einem Zeichen der maßlosen Vergeltung in eines der unbegrenzten Vergebung — ein radikaler Kontrast, der die theologische Tiefenschicht von Genesis 4,24 besonders deutlich macht.
c) Anthropologische Tiefe:
Lamech steht hier nicht einfach als historischer Charakter, sondern als archetypische Figur: Der Mensch, der sich zum Herrn über Leben und Tod macht, der Rache über Recht stellt. Es ist ein Bild der Entfremdung von der göttlichen Ordnung.

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