Genesis 04:23

Luther 1545
VND Lamech sprach zu seinen weibern Ada vnd Zilla / Jr weiber Lamech höret meine rede / vnd merckt was ich sage. Jch hab einen Man erschlagen mir zur wunden / vnd einen Jüngling mir zur beulen.
Luther 1912
Und Lamech sprach zu seinen Weibern Ada und Zilla: Ihr Weiber Lamechs, hört meine Rede und merkt, was ich sage: Ich habe einen Mann erschlagen für meine Wunde und einen Jüngling für meine Beule;

Parallelstellen zu Genesis (1Mose) 04:23

1Mo 4:23 Und Lamech sprach zu seinen Weibern: «Ada und Zilla, hört meine Stimme, ihr Weiber Lamechs, vernehmt meinen Spruch! Einen Mann erschlug ich, weil er mich verwundet, einen Jüngling, weil er mich geschlagen hat;
4Mo 23:18 Da hob er an seinen Spruch und sprach: Steh auf, Balak, und höre! Fasse meine Zeugnisse zu Ohren, du Sohn Zippors!
Rich 9:7 Als solches Jotam angesagt ward, ging er hin und trat auf die Höhe des Berges Garizim und erhob seine Stimme, rief und sprach zu ihnen: Hört mir zu, ihr Bürger von Sichem, so wird Gott auch auf euch hören!

Analyse

Genesis 4,23 ist ein dichter poetischer Text mit mehrdeutiger Bedeutung: prahlerisch, klagend oder bekenntnishaft. In allen drei Sprachen wird die Parallelstruktur bewahrt (zwei Frauen – zwei Imperative – zwei Opfer – zwei Verletzungen). Jede Sprache hat Nuancen: Das Hebräische bleibt suggestiv, das Griechische bewahrt die Struktur, das Lateinische betont die Klarheit.
Es ist einer der rätselhaftesten Verse der hebräischen Bibel. Er enthält die sogenannte »Lamech-Dichtung«, ein kurzer poetischer Einschub inmitten der Genealogie von Kain. Der Vers lautet in der Lutherübersetzung:
»Und Lamech sprach zu seinen Weibern Ada und Zilla:
Ihr Weiber Lamechs, hört meine Rede
und merkt, was ich sage:
Ich habe einen Mann erschlagen für meine Wunde
und einen Jüngling für meine Beule.«

Dieser Vers hat über Jahrhunderte hinweg sowohl jüdische als auch christliche Ausleger beschäftigt. Die Interpretationen reichen von mythologischen bis hin zu moralisch-ethischen Deutungen.
Ein dichter Text, der viele Deutungsmöglichkeiten offenlässt. In der jüdischen Tradition schwankt die Auslegung zwischen einem tragischen Missverständnis (versehentliche Tötung) und einer gewalttätigen Selbstüberhöhung. In der christlichen Auslegung steht meist der ethische und heilsgeschichtliche Aspekt im Vordergrund: Lamech verkörpert das Fortschreiten der Sünde, den Zerfall moralischer Ordnung und die Anmaßung göttlicher Rechte. Beide Traditionen erkennen in diesem Vers ein Schlüsselmotiv für die frühmenschliche Verstrickung in Gewalt – ein Thema, das im Kontrast zur kommenden Heilsgeschichte steht.

Biblisches Hebräisch

וַיֹּאמֶר לֶמֶךְ לְנָשָׁיו עָדָה וְצִלָּה שְׁמַעַן קוֹלִי נְשֵׁי לֶמֶךְ הַאְזֵנָּה אִמְרָתִי כִּי־אִישׁ הָרַגְתִּי לְפִצְעִי וְיֶלֶד לְחַבּוּרָתִי׃
Vajómer Lémekh l'nascháv: Ádah w'Tzilláh, schmá’an qólí, neschéi Lémekh, ha’azénah imrátí; kī-ísch háragtí l’fítz‘í w’jéled l’chabburátí.
Die Passage ist ein poetischer, fast kryptischer Spruch, oft als "Schwertlied" des Lamech bezeichnet. Der parallele Aufbau und die Wiederholung zeigen eine literarisch anspruchsvolle Struktur. Inhaltlich bleibt offen, ob Lamech sich rühmt oder klagt.

Biblisches Griechisch (Septuaginta)

καὶ εἶπεν Λάμεχ ταῖς γυναιξὶν αὐτοῦ, Ἄδα καὶ Σελλά, ἀκούσατέ μου τῆς φωνῆς, γυναῖκες Λάμεχ, ἐνωτίσασθε τῶν λόγων μου· ὅτι ἄνδρα ἀπέκτεινα εἰς τὸ τραῦμά μου, καὶ νεανίσκον εἰς τὸ μόλωπά μου.
Kai eipen Lámekh tais gynaixin autou, Áda kai Sellá, akoúsate mou tēs phonēs, gynaikes Lámekh, enōtísasthe tōn lógōn mou· hóti ándra apékteina eis to traûmá mou, kai neanískon eis to mólōpá mou.
Die LXX gibt den poetischen Ton gut wieder. Auffällig ist der Unterschied zwischen ἄνδρα (Mann) und νεανίσκον (junger Mann), wie im Hebräischen zwischen isch und jeled. Das Griechische bleibt sehr nahe am Urtext, ohne interpretierend einzugreifen.

Biblisches Lateinisch (Vulgata)

Dixit autem Lamech uxoribus suis, Ada et Sella: Audite vocem meam, uxores Lamech, auscultate sermonem meum: quoniam occidi virum in vulnere meo, et adolescentulum in livore meo.
Die Vulgata bietet eine klare und sehr wörtliche Übersetzung. Occidi ist doppeldeutig – formal Passiv, aber idiomatisch als Aktiv verstanden. Die semantischen Felder vulnus und livor geben die hebräischen Begriffe präzise wieder.

Jüdische Auslegungstradition

a) Midraschische und rabbinische Deutungen:
Die jüdische Auslegung, insbesondere im Midrasch und Talmud, interpretiert Lamech meist im Zusammenhang mit der Geschichte von Kain. Eine besonders einflussreiche rabbinische Tradition findet sich im Midrasch Bereschit Rabba (Genesis Rabba 23:4):
Lamech als versehentlicher Mörder Kains: Lamech ist in dieser Deutung blind. Sein Sohn Tubal-Kain führt ihn bei der Jagd. Als Lamech jemanden sieht (oder hört), glaubt er, es sei ein Tier, und tötet ihn mit einem Pfeil – es stellt sich heraus, dass es Kain war. Danach tötet er in seinem Schock auch seinen Sohn. Diese Interpretation wird durch das doppelte Töten (»Mann« und »Jüngling«) gestützt. Der Vers sei also ein Ausdruck der Verzweiflung und Schuld.
b) Betonung auf Vergeltung:
Andere rabbinische Stimmen sehen in der Aussage eine selbstbewusste, fast prahlerische Geste Lamechs: Er bezieht sich auf Kains siebenfache Rache (Gen 4,15) und stellt sich über sie, indem er sagt: Wenn Kain siebenfach gerächt wird, dann Lamech siebenundsiebzigfach (Vers 24). In diesem Kontext wirkt der Vers wie ein Ausdruck von Gewaltkultur und Selbstermächtigung.

Christliche Auslegungstradition

a) Frühe Kirche und Kirchenväter:
Die Kirchenväter (z. B. Augustinus in De civitate Dei) sehen in Lamech oft ein Symbol für den Verfall der Menschheit nach dem Sündenfall. Die Gewalt, die mit Kain begann, steigert sich mit Lamech. Seine Rede sei Ausdruck des moralischen Zerfalls und der Hybris, mit der sich der Mensch über göttliches Recht erhebt.
Augustinus deutet Lamech allegorisch: Er sieht in ihm das sündige Menschengeschlecht und in seiner »Beule« die Wunde der Erbsünde. Die Überbietung von Kains Rache deutet Augustinus als Übersteigerung der Sünde in der vorflutlichen Welt.
b) Reformatorische Auslegungen:
Martin Luther sieht in Lamech einen Mann, der sich Gottes Schutz anmaßt, ohne göttliche Autorität. Für Luther ist das Gedicht Ausdruck einer unbußfertigen, trotzigen Haltung. Lamech sei ein Prahler, der stolz auf seine Gewalt ist, im Gegensatz zu Kain, der zumindest Reue zeigt.
c) Neuzeitliche christliche Exegese:
Moderne Ausleger sehen die Stelle häufig als Überrest altorientalischer Kriegerdichtung. Der Vers könnte die Ideologie einer archaischen Heldenethik widerspiegeln: Gewalt wird als Ruhm angesehen, und Selbstjustiz ist Ehrensache. In dieser Lesart ist Lamech ein früher Archetyp des kriegerischen Mannes, der seine Macht durch Gewalt behauptet.

Semantische Analyse (Luther 1912)

Der Vers entfaltet sich in einer Parallelstruktur mit emphatischer Anrede und poetischer Verdichtung. Lamech spricht im Stil einer antiken Kriegslitanei oder eines Rachelieds. Die Redewendung »für meine Wunde« und »für meine Beule« verbindet körperliche Verletzung mit tödlicher Vergeltung. Der Begriff »erschlagen« (hebräisch: harag) ist eindeutig gewaltsam; die Doppelnennung »Mann« und »Jüngling« hebt die Maßlosigkeit hervor – oder möglicherweise zwei Versionen desselben Ereignisses in paralleler Form.

Theologische Vertiefung

Theologisch steht dieser Vers in der Linie der fortschreitenden Entfremdung des Menschen von Gottes ursprünglichem Willen (nach dem Sündenfall und dem Brudermord Kains). Lamech, ein Nachkomme Kains, steht in der sogenannten »Kainlinie«. Seine Rede zeigt eine Steigerung der Gewalt: Während Gott Kain einen Schutz zusagt, der siebenfache Rache androht, so ruft Lamech in Vers 24 (der unmittelbaren Fortsetzung) siebenundsiebzigfache Rache aus – also maßlose Selbstvergottung in der Rechtsprechung. Damit wird Lamech zur Gestalt der pervertierten Macht und menschlichen Selbstermächtigung.

Literarische Vertiefung

Die Rede Lamechs ist die älteste erhaltene Dichtung der Bibel (eine Art Kriegsgesang oder Siegeslied). Sie ist in hebräischer Parallelstruktur verfasst, rhythmisch und formal verdichtet. Der Gebrauch von Repetition (»hört… merkt«) und die symbolische Zählung (ein Mann – ein Jüngling) verweist auf archaische Formen von oral traditionierter Dichtung. Die literarische Form erinnert an die gattung »Kriegsboast« oder taunt song.

Kulturgeschichtliche Vertiefung

Lamech steht als Repräsentant einer vormosaischen, patriarchalen Gewaltkultur. In seiner Figur kulminiert eine Kultur der Blutrache, die persönliche Kränkung mit öffentlicher Gewalt vergelten will. Die Anrede an zwei Frauen zeigt nicht nur die Polygamie, sondern auch die Funktion der Frau als stumme Zuhörerin und Zeugin männlicher Gewalt. Lamech könnte als »Stammesführer« gesehen werden, der sich über göttliches Recht erhebt und eigene Maßstäbe setzt – ein Bild für frühe Kulturformen ohne zentrale Gesetzesinstanz.

Anthropologische Vertiefung

Der Mensch erscheint in Lamechs Rede als triebgesteuertes, narzisstisches Wesen, das Kränkung mit tödlicher Gewalt beantwortet. Die Wunde ist nicht nur physisch, sondern symbolisch: sie steht für Kränkung, Ehrverlust, vielleicht sogar narzisstische Kränkung. Der Mensch ist hier ein Wesen, das sich durch Gewalt seiner eigenen Würde versichern will. Es ist ein früher Ausdruck dessen, was später als »menschliche Hybris« verstanden wird – das Streben, selbst Richter, Retter und Rächer zu sein.

Allegorisch-metaphorische Vertiefung

Lamech kann als Allegorie für die sich ausbreitende Erbsünde gelesen werden. Er verkörpert das wachsende Böse, das aus dem ersten Mord (Kain) hervorgeht und sich potenziert. Die »Wunde« wird zur Chiffre für die menschliche Verletztheit überhaupt, die unerlöst bleibt und sich in Gewalt entlädt. Der erschlagene »Mann« und »Jüngling« können allegorisch für das Leben selbst stehen, das dem verletzten Ego geopfert wird. Lamech wird zur Allegorie der unerlösten Seele, die sich selbst ins Zentrum stellt.

Psychologische Vertiefung

Psychologisch deutet sich ein kompensatorischer Mechanismus an: Lamech leidet unter einem inneren oder äußeren Angriff (Beule, Wunde) und antwortet mit übermäßiger Gewalt. Dies kann als Ausdruck eines archaischen Ichs gelesen werden, das keine andere Regulierung kennt als Projektion und Aggression. Die Projektion von Schuld auf andere (der »Jüngling«) dient der Aufrechterhaltung eines grandiosen Selbstbildes. Lamech ist auch ein Archetyp des »Tyrannen-Ichs« oder der ungehemmten Triebstruktur.

Philosophische Vertiefung

Philosophisch gesprochen ist Lamechs Rede ein früher Ausdruck eines voluntaristischen Ethos: Recht ist, was sich durchsetzt. Gewalt schafft Ordnung. Die Rede steht quer zur Idee eines transzendenten moralischen Maßes. In ihr keimt der Gedanke einer nihilistischen Machtethik, in der das »Ich« zum Zentrum aller Normen wird. Der Vers wirft damit fundamentale Fragen auf: Woher kommt Recht? Wie entsteht Moral? Was ist Schuld, wenn keine Instanz höher ist als das Individuum?

Poetische Vertiefung

Lamechs Worte hallen wie ein finsterer Gesang. Sie sind rhythmisch, fast beschwörend, wie ein Zauberspruch der Gewalt. Die Doppelformel »für meine Wunde / für meine Beule« ist klanglich wie inhaltlich verdichtet – eine Art düsterer Reim. Die Frauen, stumm, bilden einen poetischen Kontrapunkt: ihre Präsenz macht das Gesagte umso bedrohlicher. Lamechs Rede ist eine schwarze Liturgie, ein Anti-Psalm: keine Klage, sondern ein Triumphlied auf den Zorn.

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