• Luther 1545 VND Kain erkandte sein Weib / die ward schwanger vnd gebar den Hanoch. Vnd er bawete eine Stad / die nennet er nach seins Sons namen / Hanoch.
• Luther 1912 Und Kain erkannte sein Weib, die ward schwanger und gebar den Henoch. Und er baute eine Stadt, die nannte er nach seines Sohnes Namen Henoch.
Parallelstellen zu Genesis (1Mose) 04:17
1Mo 4:17 Und Kain erkannte sein Weib, die ward schwanger und gebar den Henoch. Und er baute eine Stadt, die nannte er nach seines Sohnes Namen Henoch.
1Mo 11:4 und sprachen: Wohlauf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, des Spitze bis an den Himmel reiche, daß wir uns einen Namen machen! denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder.
Pred 2:4 Ich tat große Dinge: ich baute Häuser, pflanzte Weinberge;
Dan 4:30 Von Stund an ward das Wort vollbracht über Nebukadnezar, und er ward verstoßen von den Leuten hinweg, und er aß Gras wie Ochsen, und sein Leib lag unter dem Tau des Himmels, und er ward naß, bis sein Haar wuchs so groß wie Adlersfedern und seine Nägel wie Vogelsklauen wurden.
Lk 17:28 Desgleichen wie es geschah zu den Zeiten Lots: sie aßen, sie tranken, sie kauften, sie verkauften, sie pflanzten, sie bauten;
Lk 17:29 an dem Tage aber, da Lot aus Sodom ging, da regnete es Feuer und Schwefel vom Himmel und brachte sie alle um.
1Mo 5:18 Jared war hundertzweiundsechzig Jahre alt und zeugte Henoch
1Mo 5:22 Und nachdem er Methusalah gezeugt hatte, blieb er in einem göttlichen Leben dreihundert Jahre und zeugte Söhne und Töchter;
2Sa 18:18 Absalom aber hatte sich eine Säule aufgerichtet, da er noch lebte; die steht im Königsgrunde. Denn er sprach: Ich habe keinen Sohn, darum soll dies meines Namens Gedächtnis sein; er hieß die Säule nach seinem Namen, und sie heißt auch bis auf diesen Tag Absaloms Mal.
Ps 49:11 Denn man wird sehen, daß die Weisen sterben sowohl als die Toren und Narren umkommen und müssen ihr Gut andern lassen.
Analyse
• Genesis 4,17 ist ein dichter Text, der in lakonischer Sprache theologisch und literarisch bedeutende Fragen aufwirft: Wie verhält sich Schuld zu Schöpfungskraft? Wie geht der Mensch mit Fluch um? Und wie entstehen Kultur und Erinnerung? Kain bleibt eine ambivalente Gestalt: Mörder und Kulturstifter, Verfluchter und Vater. Seine Stadtgründung ist Ausdruck sowohl menschlicher Verlorenheit als auch des ungebrochenen Willens zur Gestaltung – ein Thema, das die gesamte biblische Anthropologie durchzieht.
• Zusammenfassend steht Genesis 4,17 nicht nur für eine Episode aus der Urgeschichte, sondern für den symbolischen Beginn menschlicher Geschichte überhaupt: Kultur entsteht aus Schuld; Stadt aus Exil; Erinnerung aus Trauma. Und dennoch: Im Namen des Sohnes lebt die Möglichkeit, dass selbst aus einem gebrochenen Anfang Zukunft wächst.
• Wenn man diesen Vers liest, spürt man: Das biblische Erzählen ist kein moralistisches Lehrbuch, sondern ein tiefgründiger Spiegel der menschlichen Seele, ihrer Schatten und ihrer schöpferischen Kräfte. Genesis 4,17 ist ein Vers der paradoxen Hoffnung – Schuld bringt Zerstörung, aber auch Erkenntnis; und aus dieser Erkenntnis erwächst Leben, Stadt, Name.
Biblisches Hebräisch
וַיֵּדַע קַיִן אֶת־אִשְׁתּוֹ וַתַּהַר וַתֵּלֶד אֶת־חֲנוֹךְ וַיְהִי בֹּנֶה עִיר וַיִּקְרָא שֵׁם הָעִיר כְּשֵׁם בְּנוֹ חֲנוֹךְ׃
Vayyédaʿ Qáyin ʾet-ʾishtó, vattáhar vattéled ʾet-Ḥanóch; vayyhí bonéh ʿír, vayyiqrá shem ha-ʿír ke-shem bênó Ḥanóch.
1. וַיֵּדַע קַיִן אֶת־אִשְׁתּוֹ
– vayyédaʿ Qáyin ʾet-ʾishtó
– »Und Kain erkannte seine Frau«
– וַיֵּדַע (vayyédaʿ): Qal-Perfekt im wayyiqtol-Stil von ידע (jādaʿ), ein eufemistischer Ausdruck für Geschlechtsverkehr.
– אֶת־אִשְׁתּוֹ (ʾet-ʾishtó): Akkusativpartikel + »seine Frau«; Possessivsuffix -וֹ zeigt den Bezug zu Kain.
2. וַתַּהַר וַתֵּלֶד אֶת־חֲנוֹךְ
– vattáhar vattéled ʾet-Ḥanóch
– »und sie wurde schwanger und gebar den Henoch«
– Beide Verben im wayyiqtol, die Form für fortlaufende Erzählung.
– חֲנוֹךְ (Ḥanóch): semitischer Name, evtl. »Einweihung« oder »Erziehung«.
3. וַיְהִי בֹּנֶה עִיר
– vayyhí bonéh ʿír
– »und er war eine Stadt bauend«
– וַיְהִי (vayyhí): Eröffnender Erzählmodus.
– בֹּנֶה (bonéh): Partizip Maskulin Singular von בנה (banáh), signalisiert andauernde Handlung – Kain war gerade im Begriff, die Stadt zu bauen.
4. וַיִּקְרָא שֵׁם הָעִיר כְּשֵׁם בְּנוֹ חֲנוֹךְ
– vayyiqrá shem ha-ʿír ke-shem bênó Ḥanóch
– »und er nannte den Namen der Stadt wie den Namen seines Sohnes: Henoch«
– שֵׁם (shem): Name
– כְּשֵׁם בְּנוֹ (ke-shem bênó): Vergleichspartikel כְּ + »Name seines Sohnes«
– Der Name wird zum identitätsstiftenden Element.
Besonderheiten:
– Das Partizip בֹּנֶה im Kontext mit וַיְהִי hebt eine Handlung hervor, die gleichzeitig mit der Geburt Henochs geschieht: Das Stadtbauen als Akt der Etablierung einer neuen Generation trotz des vorangegangenen Brudermords.
Biblisches Griechisch (Septuaginta)
Καὶ ἔγνω Κάϊν τὴν γυναῖκα αὐτοῦ· καὶ συλλαβοῦσα ἔτεκεν τὸν Ἐνώχ· καὶ ἦν οἰκοδομῶν πόλιν, καὶ ἐκάλεσεν τὸ ὄνομα τῆς πόλεως ἐπὶ τῷ ὀνόματι τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ Ἐνώχ.
Kai égnō Kaïn tēn gynaika autou; kai syllaboúsa éteken ton Enōch; kai ēn oikodomōn pólin, kai ekálesen to ónoma tēs póleōs epi tō onómati tou hyiou autou Enōch.
1. ἔγνω – Aorist von γινώσκω: auch hier ein Euphemismus für »er hatte Geschlechtsverkehr«.
2. συλλαβοῦσα ἔτεκεν – Partizip Aorist (συλλαβοῦσα, »sie empfing«) + Aorist (ἔτεκεν, »sie gebar«) – übliche Erzählstruktur.
3. ἦν οἰκοδομῶν – Imperfekt von εἰμί + Partizip Präsens: »war (dabei) zu bauen« → Dauerhandlung.
4. ἐκάλεσεν τὸ ὄνομα ... ἐπὶ τῷ ὀνόματι – »er nannte den Namen ... nach dem Namen«: Formulierung betont die Namensübertragung.
Besonderheiten:
– Die griechische Fassung folgt eng dem Hebräischen, verwendet jedoch idiomatisch griechische Konstruktionen wie ἐπὶ τῷ ὀνόματι zur Namensgebung.
– Der Imperfekt + Partizip-Konstruktion (ἦν οἰκοδομῶν) ist typisch für die Septuaginta zur Darstellung gleichzeitiger oder andauernder Handlung.
Biblisches Latein (Vulgata)
Cognovit autem Cain uxorem suam, quae concepit et peperit Henoch: et aedificavit civitatem, vocavitque nomen eius ex nomine filii sui Henoch.
1. Cognovit ... uxorem suam
– »er erkannte seine Frau«
– cognoscere wie im Griechischen und Hebräischen als Umschreibung für den Geschlechtsakt.
2. quae concepit et peperit Henoch
– Relativsatz mit quae = »die« → typisch lateinische Satzstruktur.
– concepit et peperit: Perfektformen → punktuelle Ereignisse in der Vergangenheit.
3. aedificavit civitatem
– »er baute eine Stadt«
– aedificavit → Perfekt von aedificare – anders als das Hebräische betont das Lateinische hier eher den Abschluss der Handlung.
4. vocavitque nomen eius ex nomine filii sui Henoch
– »und er nannte ihren Namen nach dem Namen seines Sohnes Henoch«
– ex nomine (wörtlich »aus dem Namen«) → lateinische Wendung für »nach dem Namen benannt«.
Besonderheiten:
– Im Lateinischen fehlt die grammatische Entsprechung zum hebräischen Partizip בֹּנֶה – dadurch wirkt der Bau der Stadt wie eine abgeschlossene Handlung.
– Der Ausdruck vocavitque ... ex nomine ist idiomatisch für Namensübertragungen.
Fazit
• Alle drei Sprachen folgen dem Grundschema der Erzählung: Zeugung – Geburt – Stadterbauung – Namensgebung. Doch es zeigen sich stilistische und grammatikalische Unterschiede:
• Hebräisch legt mit dem Partizip »בֹּנֶה« eine gleichzeitige Handlung nahe – das Stadtbauen geschieht mit der Geburt Henochs.
• Griechisch übernimmt diese Gleichzeitigkeit mit ἦν οἰκοδομῶν.
• Latein behandelt das Stadtbauen eher als abgeschlossene Folgehandlung (Perfekt).
Vertiefte semantische Analyse des Luther-1912-Textes
Die Sprache Martin Luthers (1912er Revision) bleibt eng am hebräischen Urtext, aber mit einer für heutige Leser altertümlich wirkenden Syntax und Wortwahl. Einige Begriffe verdienen besondere Aufmerksamkeit:
»erkannte sein Weib« – »erkennen« (hebräisch yada‘) ist ein euphemistischer Ausdruck für den Geschlechtsakt, der jedoch auch eine tiefe personale Beziehung ausdrückt. Es geht nicht nur um den Akt, sondern um das personale Erkennen des Anderen, ein Motiv, das durch die Bibel zieht.
»sein Weib« – eine heute ungebräuchliche, aber für Luthers Zeit typische Formulierung. Die Personalität der Frau wird in der Erzählung nicht weiter entfaltet; sie bleibt anonym, was theologisch und literarisch bedeutungsvoll ist.
»die ward schwanger und gebar den Henoch« – Das Hebräische ist hier lakonisch: es berichtet Tatsachen ohne emotionale oder erzählerische Ausschmückung. Der Name Henoch (Chanoch) bedeutet etwa »Einweihung« oder »Erziehung«, was im Kontext der späteren Kulturentwicklung Kains Gewicht erhält.
»und er baute eine Stadt« – Die Stadt (‘ir) wird als Werk des Kain dargestellt. Das Verb »bauen« (banah) steht im Hebräischen oft für die Gründung von dauerhaften Strukturen, aber auch metaphorisch für Kulturschöpfung oder Nachkommenschaft.
»die nannte er nach seines Sohnes Namen Henoch« – Die Namensgebung verweist auf ein Verlangen nach Dauer, nach Gedächtnis, nach Überwindung des Fluchs (vgl. 1. Mose 4,11). Kain versucht, durch kulturelle Leistung – Stadtgründung und Namensweitergabe – seine Existenz zu verankern.
Tiefere theologische Deutung
Dieser Vers steht im Spannungsfeld von Schuld, Fluch und Kultur.
• Kains Schuld und kulturelle Tat: Kain ist nach dem Brudermord an Abel ein Gezeichneter, ein Vertriebener, ein Mensch »jenseits von Eden«. Doch anstatt in völliger Verlorenheit zu enden, wird er ein Kulturstifter. Das scheint paradox: Der erste Mörder ist auch der erste Städtebauer. Dies führt in der Theologie oft zu Diskussionen über die Ambivalenz menschlicher Kultur: Ist sie Erlösungsversuch, Trotzhandlung, göttliches Geschenk oder alles zugleich?
• Die Stadt als Reaktion auf Gottesfluch: Gott hatte Kain zur Rastlosigkeit verurteilt (V. 12: »ein Flüchtling und ein Umherirrender wirst du sein auf Erden«), aber Kain baut eine Stadt – einen festen Ort. Die Stadt wird so zu einem Akt des Widerstandes gegen das göttliche Urteil, ein menschliches Projekt der Selbstsicherung. Manche Exegeten lesen hierin eine frühe Form von Hybris, andere eine kreative Bewältigung der göttlichen Strafe.
• Namensgebung und Erinnerung: Der Name Henoch, übertragen auf die Stadt, dient dem Zweck, das eigene Erbe zu bewahren – ein Motiv, das in der Bibel immer wieder erscheint. In der Linie Kains führt dies später zu weiteren Kulturleistungen (Musik, Metallbearbeitung, Zeltbau; vgl. V. 20–22), aber endet auch in der Figur des Lamech, eines Gewalttäters. Damit wird die ambivalente Entwicklung der von Kain begründeten Kultur deutlich: schöpferisch und zerstörerisch zugleich.
Literarische Einordnung
• Erzählerischer Stil: Der Text ist knapp, beinahe stenographisch. Typisch für die priesterschriftlichen oder älteren Quellen ist eine Sachlichkeit, die Raum für Interpretation lässt. Die psychologische Tiefe fehlt auf der Oberfläche, ist aber in der Struktur der Handlung und Namensgebung angelegt.
• Mythische Struktur: Der Vers gehört in eine mythische Struktur: ein Täter wird vertrieben, trägt ein Zeichen, gründet Kultur. Diese Figur des »gefallenen Kulturstifters« findet sich auch in anderen Kulturen (z. B. Prometheus, Orest, Gilgamesch). Kain wird nicht vollständig verworfen, sondern bleibt Teil der göttlichen Geschichte, was die biblische Anthropologie als dynamisch und nicht dualistisch kennzeichnet.
• Symbolik der Stadt: Literarisch ist die Stadt oft Symbol für Ordnung, aber auch für Entfremdung von der Natur (vgl. Babylon, Babel, Jerusalem). Die Stadtgründung durch Kain ist literarischer Vorbote für spätere Spannungen zwischen Stadt als Ort der Sicherheit und Stadt als Ort der Gottvergessenheit.
Kulturgeschichtliche Dimensionen
• Die Erwähnung des Stadtbaus durch Kain ist in kulturgeschichtlicher Hinsicht eine Zäsur: Es ist die erste Stadtgründung, die in der Bibel erwähnt wird. In der antiken Welt galt die Stadt oft als Zeichen von Zivilisation, Ordnung, aber auch von Entfremdung vom ursprünglichen Leben im Einklang mit der Natur (etwa wie es in Eden dargestellt ist).
• Kain, der Brudermörder, gründet die erste Stadt – das bedeutet: Die Wiege der Kultur entsteht nicht im Paradies, sondern im Exil, in der Schuld, im Schmerz. Die Stadt ist somit ein Produkt der Vertreibung und der Notwendigkeit, ein neues soziales Gefüge zu schaffen. Diese Idee findet kulturhistorisch Resonanz z. B. bei Thomas Hobbes, der den »Naturzustand« als kriegerisch beschreibt und das Gesellschaftsgefüge als Flucht aus der Gewalt interpretiert – was mit dem Kainsmythos eine archetypische Übereinstimmung hat.
• Henoch, der Sohn, ist zugleich Name der Stadt – was auf eine frühe Form von Memorialkultur hinweist: Stadt als Denkmal, als Gedächtnisstruktur, als Möglichkeit, Geschichte zu fixieren und über Generationen zu tragen.
Anthropologische Dimensionen
• Anthropologisch betrachtet steht dieser Vers an einer Schwelle: von der bloß biologischen Fortpflanzung zur kulturellen Reproduktion. Kain »erkennt« sein Weib – ein Ausdruck, der mehr als sexuelle Vereinigung bedeutet: Er symbolisiert eine Hinwendung zum Anderen, eine Form von Intimität, trotz Schuld und Exil.
• Die Geburt Henochs kann als symbolischer Neubeginn gelesen werden: Der Mensch schafft weiter, auch nach dem Brudermord. Es ist ein zutiefst menschliches Paradox: Der Mörder wird Vater. Aus Schuld entsteht Geschichte. Der Mensch ist nicht nur Täter, sondern auch Träger einer schöpferischen Kraft – das verweist auf eine anthropologische Grundverfassung zwischen Destruktion und Kreation.
• Die Stadt selbst ist Ausdruck eines anthropologischen Bedürfnisses nach Ordnung, nach Sicherheit, nach sozialem Raum. Der Mensch als »animal urbanum« (Städtewesen) beginnt hier seine Geschichte: Die Kultur wächst nicht aus der Unschuld, sondern aus der gebrochenen Existenz heraus.
Allegorisch-metaphorische Dimensionen
• Allegorisch gesehen steht Kain für das menschliche Ego, das sich von Gott entfernt hat – durch Gewalt, durch Selbstbehauptung, durch die Negation des Anderen (Abel). Die Stadtgründung ist daher eine Metapher für die Gründung des »Ich-Systems«: Der Mensch, isoliert von der göttlichen Mitte (Eden), versucht eine eigene Ordnung zu errichten – ein »Anti-Eden«, gebaut aus Stein statt aus göttlicher Harmonie.
• Die Stadt Henoch kann gelesen werden als Symbol der menschlichen Kultur, die sich aus der Angst vor dem Chaos heraus strukturiert. Gleichzeitig bleibt sie Zeichen der Entfremdung: Eine Stadt, gebaut von einem Gezeichneten, benannt nach einem Neugeborenen – sie steht für das Spannungsfeld zwischen Erinnerung und Zukunft, Schuld und Hoffnung.
• Im Namen Henoch (»Einweihung«, »Erziehung«) liegt eine tiefere metaphorische Botschaft: Die Stadt als Ort der Initiation, des Lernens, der Transformation. Die Kultur beginnt nicht im Idealzustand, sondern im Bewältigen von Schuld und Verlust.
Psychologische Vertiefung
• Diese kurze, scheinbar schlichte Notiz aus der Genesis erzählt auf tiefenpsychologischer Ebene von Trauma, Neuanfang und symbolischer Überkompensation.
• Kain ist ein gezeichneter Mann – Mörder seines Bruders Abel, Flüchtender, Gebrandmarkter. Die Vorstellung, dass er trotz seiner Schuld »ein Weib erkennt«, also eine sexuelle und existenzielle Verbindung eingeht, legt nahe, dass er den Kreislauf des Lebens trotz Schuld fortsetzt. Die Zeugung Henochs kann als psychologischer Akt der Wiedergutmachung verstanden werden – nicht im juristischen, sondern im seelischen Sinn: Kain sucht durch Schöpfung Erlösung für seine Zerstörung.
• Die Stadt, die Kain erbaut, trägt den Namen seines Sohnes – nicht seinen eigenen. Das ist bedeutsam: Anstatt sich selbst ein Denkmal zu setzen, projiziert Kain seine Zukunft auf seinen Nachkommen. Dies verweist auf einen psychischen Abwehrmechanismus, vielleicht Sublimierung: Der unermessliche innere Druck seiner Schuld wird in kulturelle Leistung umgewandelt – Stadtbau als ein zivilisatorischer Akt, als schöpferischer Kontrast zum Brudermord. Doch der Bau einer Stadt ist mehr als Flucht oder Schuldkompensation: Er bedeutet auch das Streben nach Stabilität, Ordnung, Dauer – alles, was Kain selbst in seinem unsteten, »umherirrenden« Zustand fehlt.
• Die Benennung der Stadt nach Henoch wirkt wie ein Versuch, das eigene Leben auf einen anderen, »unschuldigen« Namen zu gründen. Der Vater identifiziert sich nicht mehr über seine eigene Geschichte, sondern über die Zukunft des Sohnes – ein Verdrängungsmechanismus, aber auch ein Akt psychischer Verwandlung.
Philosophische Vertiefung
• Philosophisch ist dieser Vers ein Knotenpunkt zwischen Schuld, Kulturentstehung und Zeit.
• Kain, der erste Mörder, wird nicht ausgelöscht, sondern lebt weiter, gründet eine Familie und baut eine Stadt – das bedeutet: Die Kultur beginnt nicht im Unschuldigen, sondern im Schuldhaften. Der Ursprung der Zivilisation ist nicht Paradies, sondern Vertreibung. Dies widerspricht dem Idealbild der ursprünglichen Harmonie. Kultur entsteht durch Konflikt, Entfremdung und die Notwendigkeit, das Unversöhnliche zu gestalten. Hier liegt eine dunkle Anthropologie: Der Mensch beginnt zu bauen, weil er nicht mehr im Garten Eden leben darf – Architektur und Städtebau sind also Antworten auf den Verlust, nicht auf einen inneren Frieden.
• Die Stadt ist hier nicht nur ein Ort, sondern ein Symbol: Fixierung des Flüchtigen, Ordnung des Chaotischen, Sicherung des Existenzrechts in einer Welt, in der der Mörder eigentlich »unbehaust« ist. Der Name Henoch, dem die Stadt gewidmet ist, bringt eine philosophische Reflexion über Namen und Erinnerung mit sich: Die Namensgebung ist ein metaphysischer Akt – sie erhebt das Endliche zum Bedeutsamen, verwandelt das Zufällige in das Dauerhafte.
• Dass Kain überhaupt weiterlebt, sich fortpflanzt und baut, stellt eine philosophische Provokation dar: Kann Schuld jemals produktiv sein? Ist es gerecht, dass der Täter weiterlebt und sogar Gründer einer Stadt wird? Der Text beantwortet dies nicht moralisch, sondern existenziell: Schuld wird nicht ausgelöscht, sondern getragen und umgewandelt.
Poetische Vertiefung
• In poetischer Hinsicht wirkt der Vers wie ein stiller Schatten über einer verwundeten Welt – knapp und doch schicksalsschwer.
• »Und Kain erkannte sein Weib…« – Dieses »Erkennen« ist in der Bibel nie nur körperlich. Es meint eine tiefere Begegnung: Eine verwundete Seele wendet sich einer anderen zu. In der Zärtlichkeit des Erkennens schimmert die erste Hoffnung nach dem Mord: aus Nähe wächst Leben. Dieses poetische Motiv – aus der dunkelsten Schuld entsteht neues Leben – erinnert an große Motive tragischer Poesie: das Kind, das nach dem Krieg geboren wird; die Blume, die aus der Asche wächst.
• Die Geburt Henochs ist ein Zäsurpunkt der Generationen: Das Blut des Bruders schreit noch, doch aus dem Mörder geht ein Sohn hervor. Der Name Henoch, hebräisch »Einweihung« oder »Anfang«, trägt eine doppelte Poesie in sich: Als ob Gott selbst dem düsteren Strom eine neue Quelle entspringen lässt.
• Die Stadt – ein poetisches Bild menschlicher Sehnsucht nach Heimat – erhebt sich aus der Landschaft wie ein Monument der inneren Wunde. Dass sie Henoch heißt, zeigt die Verflechtung von Architektur und Herkunft, von Raum und Blut. Die Stadt ist kein bloßer Ort, sondern ein Gedicht aus Stein, errichtet vom Verstoßenen, benannt nach dem Kind. Es ist, als hätte Kain sich in diese Mauern hineingeschrieben – nicht mit seinem Namen, sondern mit einem Flüstern nach Vergebung.
Symbolische Deutungen des Namens Henoch
Der Name Henoch (hebr. חֲנוֹךְ, Chanōch) bedeutet wörtlich:
»Einweihung«, »der Eingeweihte«, »der Unterwiesene« oder auch »Lehrer, Erzieher«.
• In seiner Wurzel (חנך) liegt das hebräische Wort für »einweihen«, das z. B. auch bei der Tempelweihe (chanukka) verwendet wird. Henoch ist somit sprachlich mit Bildung, Initiation und einem Übergang zu etwas Neuem verbunden.
• Im Kontext von Genesis 4 lässt sich diese Namensbedeutung ambivalent deuten:
• Positiv-symbolisch: Henoch könnte als Zeichen einer neuen Ordnung gelten, als Beginn städtischer Kultur (die erste Stadt!) und als Symbol einer gewissen Rehabilitierung Kains – die Geburt des Sohnes und die Stadtgründung als kreative Leistung, als eine Art zweiter Anfang nach dem Brudermord.
• Negativ-symbolisch oder ambivalent: In der Linie Kains ist Henoch der erste namentlich genannte Nachkomme, der mit Urbanisierung verbunden wird. Dies wurde von manchen Auslegern (z. B. Augustinus) als Ausdruck der Abwendung von Gott gedeutet: Die Stadt steht für die von Gott getrennte menschliche Kultur – im Gegensatz zur »Stadt Gottes« (Civitas Dei), die mit Seth beginnt. In dieser Lesart ist Henoch nicht der demütige Eingeweihte Gottes, sondern der Träger eines Namens, der eine Selbstvergöttlichung des Menschen andeutet – Einweihung in die Welt, nicht in Gott.
Gegensatz zu Seth und seiner Linie
Nach dem Tod Abels tritt Seth als »Ersatzsohn« (vgl. Gen 4,25) auf und begründet eine alternative Menschheitslinie. Die Bibel kontrastiert deutlich zwischen den beiden Linien:
• Kains Linie (Gen 4,17–24): urban, kulturell kreativ (Musik, Metall, Viehzucht), aber auch gewalttätig und gottfern. Besonders Lamech, ein Nachkomme Kains, steht für eine Steigerung der Gewaltbereitschaft (Gen 4,23–24).
• Seths Linie (Gen 4,25–26; Gen 5): trägt einen religiösen Charakter. In der Zeit von Enosch, Seths Sohn, »begann man, den Namen des Herrn anzurufen« (Gen 4,26). Der Henoch dieser Linie (Gen 5,21–24) »wandelte mit Gott« und wurde entrückt – im starken Kontrast zum Henoch aus Kains Linie, der mit der ersten Stadt verbunden ist.
Diese Gegenüberstellung dient in vielen Auslegungen dazu, zwei Menschheitsmodelle zu unterscheiden:
• Die kainitische Linie steht für menschliche Selbstermächtigung, Fortschritt, aber auch Hybris und Entfernung von Gott.
• Die sethitische Linie verkörpert Treue zu Gott, Spiritualität und die Hoffnung auf Erlösung.
• Der erste Henoch (Kains Sohn) steht symbolisch für die irdische Kultur, die sich selbst ein Zentrum schafft (die Stadt); der zweite Henoch (Seths Nachkomme) steht für die Rückkehr zu Gott.
Fazit
Henochs Name – »der Eingeweihte« – wird in Genesis 4 ambivalent gebraucht. Er kann auf kulturellen Aufbruch verweisen, aber auch auf eine Abkehr vom göttlichen Ursprung. Der Kontrast zur Linie Seths ist bewusst gestaltet: zwei Henochs, zwei Wege – der eine gründet eine Stadt, der andere wird von Gott entrückt. In dieser Polarität spiegeln sich die theologischen Hauptthemen der Urgeschichte: Kultur vs. Glaube, Stadt vs. Gottesbeziehung, Selbstbehauptung vs. Hingabe.