• Luther 1545 Also gieng Kain von dem Angesicht des HERRN / vnd wonet im Lande Nod / jenseid Eden gegen dem morgen.
• Luther 1912 Also ging Kain von dem Angesicht des HERRN und wohnte im Lande Nod, jenseit Eden, gegen Morgen.
Parallelstellen zu Genesis (1Mose) 04:16
1Mo 4:16 Also ging Kain von dem Angesicht des HERRN und wohnte im Lande Nod, jenseit Eden, gegen Morgen.
1Mo 3:8 Und sie hörten die Stimme Gottes des HERRN, der im Garten ging, da der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seinem Weibe vor dem Angesicht Gottes des HERRN unter die Bäume im Garten.
1Mo 4:14 Siehe, du treibst mich heute aus dem Lande, und ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen und muß unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir's gehen, daß mich totschlage, wer mich findet.
2Mo 20:18 Und alles Volk sah den Donner und Blitz und den Ton der Posaune und den Berg rauchen. Da sie aber solches sahen, flohen sie und traten von ferne
2Kön 13:23 Aber der HERR tat ihnen Gnade und erbarmte sich ihrer und wandte sich zu ihnen um seines Bundes willen mit Abraham, Isaak und Jakob und wollte sie nicht verderben, verwarf sie auch nicht von seinem Angesicht bis auf diese Stunde.
2Kön 24:20 Denn es geschah also mit Jerusalem und Juda aus dem Zorn des HERRN, bis daß er sie von seinem Angesicht würfe. Und Zedekia ward abtrünnig vom König zu Babel.
Hiob 1:12 Der HERR sprach zum Satan: Siehe, alles, was er hat, sei in deiner Hand; nur an ihn selbst lege deine Hand nicht. Da ging der Satan aus von dem HERRN.
Hiob 2:7 Da fuhr der Satan aus vom Angesicht des HERRN und schlug Hiob mit bösen Schwären von der Fußsohle an bis auf seinen Scheitel.
Hiob 20:17 Er wird nicht sehen die Ströme noch die Wasserbäche, die mit Honig und Butter fließen.
Ps 5:11 Sprich sie schuldig, Gott, daß sie fallen von ihrem Vornehmen. Stoße sie aus um ihrer großen Übertretungen willen; denn sie sind widerspenstig.
Ps 68:2 Es stehe Gott auf, daß seine Feinde zerstreut werden, und die ihn hassen, vor ihm fliehen.
Jer 23:39 siehe, so will ich euch hinwegnehmen und euch samt der Stadt, die ich euch und euren Vätern gegeben habe, von meinem Angesicht wegwerfen
Jer 52:3 Denn es ging des HERRN Zorn über Jerusalem und Juda, bis er sie von seinem Angesicht verwarf. Und Zedekia fiel ab vom König zu Babel.
Matt 18:20 Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.
Lk 13:26 So werdet ihr dann anfangen zu sagen: Wir haben vor dir gegessen und getrunken, und auf den Gassen hast du uns gelehrt.
Joh 1:3 Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.
Joh 1:10 Es war in der Welt, und die Welt ist durch dasselbe gemacht; und die Welt kannte es nicht.
1Thess 1:9 Denn sie selbst verkündigen von euch, was für einen Eingang wir zu euch gehabt haben und wie ihr bekehrt seid zu Gott von den Abgöttern, zu dienen dem lebendigen und wahren Gott
Analyse
Genesis 4,16 beschreibt nicht nur den geografischen Weg Kains, sondern eine umfassende Bewegung der Entfremdung, ein existenzielles Exil. Die semantische Tiefe des Textes offenbart eine fundamentale Anthropologie: Der Mensch lebt seit der Vertreibung aus Eden in einer Spannung zwischen Sehnsucht nach Heimat und Flucht vor dem Angesicht Gottes. Kain ist mehr als ein historischer Charakter – er ist das Urbild des entwurzelten, schuldig gewordenen Menschen, der dennoch versucht, sich eine eigene Welt zu schaffen.
Dieser eine Vers ist also mehr als eine biografische Notiz über Kains Exil. Er ist ein Fenster in die tiefste Struktur der menschlichen Erfahrung: die Spannung zwischen Schuld und Freiheit, Nähe und Ferne, Zentrum und Peripherie, göttlichem Licht und menschlicher Rastlosigkeit. Kain ist damit nicht nur ein Einzelner, sondern ein Archetyp – einer, in dem sich die dunkle Seite der Menschheit, aber auch ihre Suche nach Gnade und Ort spiegelt.
Mehr als ein geographischer Hinweis – es ist der seelische, philosophische und poetische Ursprung aller Exilerfahrung. Der Mensch, der sich von Gott entfernt hat, lebt weiter, aber als Suchender, als Gezeichneter, als Ruheloser. Die psychologische Tiefe, die existenzielle Dimension und die poetische Dichte dieses Verses machen ihn zu einem Schlüsselmoment menschlicher Selbsterkenntnis.
Biblisches Hebräisch (Masoretischer Text)
וַיֵּצֵא קַיִן מִלִּפְנֵי יְהוָה וַיֵּשֶׁב בְּאֶרֶץ נוֹד קִדְמַת־עֵדֶן׃
Vayyētzē Qayin millifnē YHWH, vayyēshev beʾérets Nōd, qidmat-ʿĒden.
וַיֵּצֵא (vayyētzē) – Qal Perfekt mit vav-consecutivum von יָצָא (»hinausgehen«): zeigt eine fortschreitende Handlung nach der göttlichen Verfluchung.
קַיִן (Qayin) – Eigenname, Nomensubjekt.
מִלִּפְנֵי יְהוָה (millifnē YHWH) – wörtlich: »von dem Angesicht JHWHs«; »liphnē« = »vor dem Angesicht«, mit מִ zur Ablösung. Theologisch wichtig: Ausdruck der Trennung von Gottes Gegenwart.
וַיֵּשֶׁב (vayyēshev) – Qal Perfekt mit vav-consecutivum von יָשַׁב (»sitzen«, »wohnen«): zeigt neue Verortung.
בְּאֶרֶץ נוֹד (beʾérets Nōd) – »im Land Nod«; nod (נוֹד) ist vom Verb נוּד (»umherirren«) abgeleitet – ironische Reflexion seiner Strafe (4,12).
קִדְמַת־עֵדֶן (qidmat-ʿĒden) – »östlich von Eden«; qidmah (»Osten«) kommt vom Wort קֶדֶם, das auch symbolisch für den Ursprung oder das Vergangene steht.
Theologisch:
Kain wird geografisch und spirituell verstoßen. Das »Angesicht JHWHs« steht für göttliche Präsenz. Der »Osten« ist auch symbolisch ein Ort der Entfernung und des Exils (vgl. Gen 3,24).
Griechisch (Septuaginta, LXX)
Καὶ ἐξῆλθεν Κάιν ἀπὸ προσώπου τοῦ θεοῦ καὶ ᾤκησεν ἐν γῇ Ναϊδ κατέναντι Εδεμ.
Kai exēlthen Káin apo prosōpou tou theou kai ōikēsen en gē Naïd katenanti Edem.
Καὶ ἐξῆλθεν (kai exēlthen) – Aorist von ἐξέρχομαι: »ging hinaus« – temporell abgeschlossen, betont die Trennung.
ἀπὸ προσώπου τοῦ θεοῦ (apo prosōpou tou theou) – wörtl. »von dem Angesicht Gottes« – identisch in Bedeutung mit dem Hebräischen, betont Distanz zur göttlichen Präsenz.
ᾤκησεν (ōikēsen) – Aorist von οἰκέω (»wohnen«) – neue Bleibe, neues Dasein.
ἐν γῇ Ναϊδ (en gē Naïd) – »im Land Naïd«; Transliteration des hebräischen »Nod«, gr. ἐτυμολογisch neutral, enthält nicht die hebräische Bedeutung von »Umherirren«.
κατέναντι Εδεμ (katenanti Edem) – »gegenüber Eden«, auch: »östlich von Eden«; katenanti betont Kontrast oder räumliche Opposition.
Theologisch:
Die LXX überträgt getreu die Trennung von Gott, verliert aber die Wortspiel-Ebene (Nod–Umherirren). Der Begriff »gegenüber« anstelle von »östlich« entmythologisiert leicht.
Lateinisch (Vulgata)
Egressusque est Cain a facie Domini, et habitavit in terra Nod ad orientem Eden.
Egressus est (egressusque est) – Perfekt Deponens von egredi: »er ging hinaus«, wörtlich »herausgetreten«; Betonung des Bruchs.
a facie Domini – »vom Angesicht des Herrn«; facies in der Vulgata ist das übliche lateinische Äquivalent für die Präsenz Gottes (vgl. »coram Deo«).
habitavit – Perfekt von habitare; wörtlich »er wohnte«, das römisch-lateinische Äquivalent zu hebr. yashav.
in terra Nod – direkte Transliteration des Ortsnamens; semantisch ohne weitere Erklärung.
ad orientem Eden – »gegen Osten von Eden«; orientem von oriens (Osten), was sowohl topografisch als auch symbolisch den Ausgang, Beginn oder auch Entfernung betont.
Theologisch:
Die Vulgata bewahrt den semantischen Rahmen. Besonders ad orientem verweist sowohl auf Geographie als auch geistige Entfernung vom Ursprung des Paradieses (vgl. Gen 3,24). Der Text ist nüchtern, klar und theologisch prägnant.
Fazit
Alle drei Traditionen betonen:
• Die Trennung von Gottes Angesicht als spirituelle Ausstoßung.
• Das Land Nod als neues Daseinsfeld – semantisch reich nur im Hebräischen (»Irren«).
• Die Lage »östlich von Eden« als symbolischer Raum des Exils.
• Die hebräische Version ist sprachlich am dichtesten und reich an Wortspielen und Theologie. Griechisch und Latein bewahren die Bedeutung, verlieren aber gewisse konnotative Nuancen des Originals.
Vertiefte semantische Analyse
»ging Kain von dem Angesicht des HERRN«
Der Ausdruck »vom Angesicht des HERRN« (hebräisch: mi-lifnei YHWH) ist mehrdeutig und stark aufgeladen. Im Hebräischen bezeichnet »lifnei« wörtlich »vor dem Angesicht«, also im direkten Gegenüberstehen. Die Wendung signalisiert also eine räumlich-existenzielle Trennung von Gott. Es geht nicht nur darum, dass Kain sich physisch entfernt, sondern dass er aus der Sphäre göttlicher Gegenwart verstoßen wird. Diese Formulierung steht in engem Zusammenhang mit dem Verlust göttlicher Gemeinschaft – ein Bild für Exil, Gottesferne, spirituelle Isolation.
»wohnte im Lande Nod«
Das hebräische Wort »Nod« ist bedeutungsvoll: Es lässt sich von der Wurzel n-w-d (נוד) ableiten, die »umherirren«, »fliehen«, »unstet sein« bedeutet. »Nod« ist also kein geographisch fixierter Ort, sondern ein symbolischer Raum des Unbehaustseins. Das Wohnen dort (jeschev, wörtl. »sich niederlassen«) ist paradox: Kain soll »unstet und flüchtig« sein (Vers 12), und doch »wohnt« er – dies könnte auf den vergeblichen Versuch hinweisen, in der Fremde Stabilität zu erzwingen.
»jenseit Eden, gegen Morgen«
»Jenseit Eden« (miqqedem le‘Eden) bedeutet »östlich von Eden«. In biblischer Topographie ist der Osten häufig der Ort der Verbannung (vgl. Adam und Eva in Gen 3,24). Der Osten steht symbolisch für das Weggehen vom Heiligen, für den Verlust der Mitte. Auch im weiteren Alten Testament ist die Richtung Osten oft negativ konnotiert: Babylon (Ort des Exils) liegt im Osten. Die Wendung markiert eine theologisch gewichtige Richtung der Entfremdung.
Tiefere theologische Deutung
Dieser Vers bildet den Abschluss der Kain-Erzählung in ihrer ersten Phase – bevor die genealogische Linie einsetzt. Er steht im Spannungsfeld von Gericht und Gnade.
Exil als Gottesferne
Das »Gehen von dem Angesicht des HERRN« verweist auf ein Leben außerhalb des göttlichen Schutzraums. Es ist nicht bloß Strafe, sondern Ausdruck existenzieller Gottverlassenheit. Die Gottesbeziehung ist nicht mehr direkt: Kain ist ein archetypischer Mensch im Zustand nach dem Sündenfall – entfremdet, entwurzelt, in einer Art innerem Exil. Der Vers spricht hier nicht nur von Kain, sondern vom Menschen schlechthin, der sich selbst aus dem Paradies herausgelebt hat.
Das paradoxe Wohnen
Kains »Wohnen« im Land Nod steht im Widerspruch zur vorherigen Verfluchung als »unstet und flüchtig«. Dies legt nahe: Der Mensch versucht trotz Fluch, sich sesshaft zu machen – eine frühe Reflexion über den Widerspruch zwischen menschlicher Kulturleistung (Stadtbau in V. 17) und göttlicher Verurteilung. Kain ist der erste Städtegründer – aber seine Stadt wurzelt im Fluch.
Theologie des Ostens
Der »Osten« ist nicht einfach Himmelsrichtung, sondern theologischer Raum. Wer sich nach Osten bewegt, bewegt sich weg von der Gegenwart Gottes. Dies setzt sich in anderen biblischen Geschichten fort – etwa bei der Vertreibung Israels nach Babylon. Doch paradoxerweise geht auch die Heilsgeschichte aus dem Osten hervor: Der Morgenstern (Messias) kommt »aus der Höhe« – also aus der göttlichen Initiative, nicht aus der menschlichen Rückkehrbewegung.
Literarische Einordnung
Der Vers ist von hoher symbolischer Dichte und markiert eine Schwelle in der biblischen Erzählung:
Poetische Kürze
Die Sprache ist einfach und lakonisch, aber aufgeladen. Diese Dichte erzeugt eine enorme theologische und psychologische Spannung: In einem einzigen Satz verdichtet sich Kains Lebensweg – von der Schuld über das göttliche Urteil bis zur Entfremdung und zum Exil.
Archetypische Struktur
Kain wird zum archetypischen Brudermörder, zum Menschen in der Spannung zwischen Kultur und Fluch. Seine Bewegung »von Angesicht Gottes« hin zum »Land Nod« stellt eine mythische Bewegung dar: vom Zentrum zur Peripherie, vom Sakralen ins Profane. Es ist ein Urbild der biblischen Anthropologie: Der Mensch als geistlich entwurzeltes Wesen auf der Suche nach Bleibe.
Motiv des Exils
In der biblischen Literatur – und darüber hinaus – ist das Exil ein Grundmotiv: Abraham zieht aus, Israel wird verbannt, Jesus ist »außerhalb des Lagers«. Diese Linie beginnt mit Kain. Seine Entfremdung spiegelt sich in der gesamten Heilsgeschichte, bis hin zur neutestamentlichen Vorstellung von Rückkehr und Versöhnung.
Kulturgeschichtliche Dimensionen
• Die Figur Kains steht in vielen Traditionen für den ersten Brudermörder, den Ur-Sünder unter Menschen, denjenigen, der zum ersten Mal in der Geschichte gegen das Leben selbst verstößt. Seine Verbannung in das Land Nod verweist auf ein kulturelles Urbild: Der Mörder, der Getriebene, verliert die Mitte der Welt – Eden – und wird in eine periphere, chaotische Sphäre geschickt.
• Das Land Nod ist kein geographischer Ort. Im Hebräischen leitet sich »Nod« vom Wort nûd ab, das »umherirren«, »wandern« bedeutet. In der antiken Kulturgeschichte ist dieses Motiv des Wanderers ohne Heimat tief verankert: Von der jüdischen Exilserfahrung über Odysseus bis zu den biblischen Hebräern selbst. Kain wird zum Urbild des entwurzelten, unsteten Menschen, desjenigen, der seine Mitte verloren hat – ein Motiv, das später in christlicher, jüdischer, sogar islamischer Mystik immer wieder aufgenommen wurde.
Anthropologische Dimensionen
• Anthropologisch betrachtet ist dieser Vers eine Grunderzählung über die menschliche Existenz nach der Schuld. Der Mensch, der gegen das Leben selbst (hier symbolisiert durch den Brudermord) verstoßen hat, verliert seine Beziehung zum Göttlichen (ging von dem Angesicht des HERRN) und damit auch seine Verwurzelung in der Schöpfung.
• Kain verkörpert den Menschen in seinem Zustand nach dem Fall. Während Adam und Eva den Garten verlassen müssen, verlässt Kain das Angesicht – also die unmittelbare Gegenwart Gottes. Damit wird ein anderer Abgrund geöffnet: der des existentiellen Alleinseins, der spirituellen Entfremdung, der Vereinzelung. Diese Figur steht somit nicht nur für moralische Schuld, sondern für ein anthropologisches Urgefühl – die Erfahrung, getrennt, entwurzelt, heimatlos zu sein.
• Der Osten – gegen Morgen – spielt hier ebenfalls eine Rolle: In der altorientalischen Symbolik ist der Osten oft der Ort der Erneuerung (wo die Sonne aufgeht), aber auch des Unbekannten, der Gefahr, des Exils. Kain zieht aus dem Zentrum in eine Grenzregion – psychologisch wie räumlich.
Allegorisch-metaphorische Dimensionen
• Allegorisch gesehen steht Kain für das egoistisch gewordene Ich, das sich über das Du (den Bruder) stellt und so in eine radikale Vereinzelung abgleitet. Das Angesicht des HERRN kann man allegorisch als das Bewusstsein der göttlichen Nähe deuten, das Kain durch seine Tat verliert. Damit beginnt ein Dasein im Schatten – ohne Zentrum, ohne Licht.
• Das Land Nod kann als innerer Zustand gelesen werden – als Zustand des rastlosen, unruhigen Geistes. Augustinus schrieb: »Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.« In diesem Sinne ist Kain der Prototyp des Herzens, das sich selbst von Gott trennt und deshalb zur Ruhelosigkeit verdammt ist.
• Der Weg jenseit Eden, gegen Morgen lässt sich metaphorisch auch als spirituelle Bewegung deuten: der Mensch, der die göttliche Mitte verlässt, sich aber noch in Richtung des Lichts, des Morgens bewegt – vielleicht nicht als Reue, aber als Bewegung in einen noch offenen Raum der Möglichkeit.
Psychologische Vertiefung
• Dieser Vers markiert den Beginn einer inneren Heimatlosigkeit. Kain, der erste Mörder der Menschheitsgeschichte, hat seinen Bruder erschlagen und ist nun zur Strafe gezeichnet, aber nicht getötet. Das »Gehen von dem Angesicht des HERRN« ist eine psychologisch tiefgreifende Wendung: Der Mensch trennt sich von der unmittelbaren Gegenwart Gottes – nicht nur räumlich, sondern existenziell.
• Die Vertreibung aus dem Blick Gottes kann als Ausdruck einer schweren seelischen Entfremdung gelesen werden. Kain lebt nun mit dem Wissen um seine Schuld, jedoch auch mit einem göttlichen Schutzzeichen. Die Spannung zwischen Schuld und Schutz erzeugt ein psychisches Exil: Kain ist nicht tot, aber auch nicht mehr lebendig im vollen Sinn. Er ist geworfen in eine Existenz der Entfremdung, verurteilt zum Wandern – »Nod« bedeutet wörtlich Flucht oder Ruhelosigkeit. Damit beginnt eine tiefe seelische Dissoziation: Kain lebt, aber nicht mehr im Einklang mit sich, seinem Ursprung, seiner Familie oder Gott.
• Die Richtung »gegen Morgen« verweist symbolisch auf das Licht, doch aus Kains Sicht bleibt es nur ein Fernlicht, ein Licht, das er nicht mehr betreten kann. Psychologisch könnte man sagen: Die Hoffnung bleibt als Richtung bestehen, aber sie ist nicht mehr bewohnbar. Die Vergangenheit ist verschlossen, die Zukunft unklar, und die Gegenwart eine unheilbare Fremde.
Philosophische Vertiefung
• Philosophisch wirft dieser Vers zentrale Fragen nach Schuld, Freiheit, Existenz und Entfremdung auf. In Kain begegnet uns der Mensch als tragisches Wesen, das durch sein Handeln aus dem metaphysischen Zentrum verstoßen wird. Der Brudermord ist nicht bloß moralisches Versagen, sondern ein Bruch mit der Ordnung der Welt. Der Mensch steht nun außerhalb des göttlichen Blickfelds – eine Figur des Existenzialismus avant la lettre.
• Sartres Idee der »verurteilten Freiheit« lässt sich hier spiegeln: Kain ist frei gewesen, zu handeln – aber diese Freiheit ist für ihn zur Verurteilung geworden. Er trägt die Verantwortung seines Tuns, aber auch die Last der daraus erwachsenen Isolation. Heideggers »Geworfenheit« findet hier ihren archetypischen Ausdruck: Der Mensch wird, nachdem er sein Dasein schuldig verwundet hat, in eine Welt des Nicht-mehr-Zuhauses geworfen. Nod ist kein Ort – Nod ist ein Zustand.
• Gleichzeitig lässt sich hier auch eine frühe Form der Theodizee-Frage erahnen: Warum lässt Gott Kain leben? Warum schützt er ihn, wenn er doch schuldig ist? Die philosophische Antwort liegt nicht im Ausgleich, sondern in der Offenhaltung der Existenz. Der Mensch darf nicht sterben, weil seine Geschichte weitergehen muss – aber nicht im Paradies, sondern in der Wüste seiner selbst.
Poetische Vertiefung
• Die Sprache des Verses ist schlicht, aber von tiefer Bildhaftigkeit durchzogen. »Ging von dem Angesicht des HERRN« – das ist kein einfacher Aufbruch, sondern ein Abschied von der Nähe, ein Verstummen der Liebe. Der Blick Gottes ist in der Bibel stets schöpferisch, segnend, ordnend. Davon abgewandt zu sein, bedeutet poetisch gesprochen: Licht fällt nicht mehr auf dieses Gesicht. Kain tritt in einen Schatten, der nicht vergeht.
• Nod ist poetisch gesehen kein geografischer Raum, sondern eine Metapher für die Unbehaustheit. Die Welt hat keine Mitte mehr. Jenseits von Eden – gegen Morgen: Diese Richtung klingt wie Hoffnung, wie Neuaufbruch. Doch sie bleibt leer. Es ist der Morgen, den man nicht erreicht. Wie bei T. S. Eliot: »Not with a bang but a whimper« endet die alte Ordnung – nicht durch Katastrophe, sondern durch das stille Davongehen ins Ungewisse.
• Kain wird zur Figur der modernen Poesie: entwurzelt, innerlich zerspalten, mit einer Geschichte, die nicht mehr erzählbar ist. Seine Zukunft liegt in einem Land ohne Form, einer Richtung ohne Ziel. Der Satz lässt Raum für Stille – und diese Stille ist das Echo der ersten menschlichen Tragödie.