Genesis 04:12

Luther 1545 Wenn du den Acker bawen wirst / sol er dir fort sein vermügen nicht geben / Vnstet vnd flüchtig soltu sein auff Erden.
Luther 1912 Wenn du den Acker bauen wirst, soll er dir hinfort sein Vermögen nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.

genesis04

Parallelstellen zu Genesis (1Mose) 04:12

1Mo 4:12 Wenn du das Land bebaust, soll es dir fortan sein Vermögen nicht mehr geben; unstät und flüchtig sollst du sein auf Erden!
1Mo 4:14 Siehe, du treibst mich heute aus dem Lande, und ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen und unstät und flüchtig sein auf Erden. Und es wird geschehen, daß mich totschlägt, wer mich findet.
3Mo 26:36 Denen aber, die von euch übrigbleiben, will ich das Herz verzagt machen in ihrer Feinde Land, daß ein rauschendes Blatt sie jagen wird; und sie werden davonfliehen, als jage sie ein Schwert, und fallen, ohne daß sie jemand verfolgt.
5Mo 28:65 Dazu wirst du unter diesen Völkern keine Ruhe haben und keine Rast finden für deine Fußsohlen; denn der HERR wird dir daselbst ein friedeloses Herz geben, daß du dir die Augen ausweinen möchtest und daß deine Seele verschmachten wird.
5Mo 28:66 Dein Leben wird vor dir an einem Faden hängen; Tag und Nacht wirst du dich fürchten und deines Lebens nicht sicher sein.
Ps 109:10 Seine Kinder müssen umherwanken und betteln, hilfesuchend aus ihren Ruinen hervorkommen!
Jer 20:3 Und es begab sich am andern Morgen, als Paschhur Jeremia aus dem Stock freiließ, da sprach Jeremia zu ihm: Nicht Paschhur nennt dich der HERR, sondern Magor-Missabib!
Jer 20:4 Denn so spricht der HERR: Siehe, ich will dich zum Schrecken machen, dir selbst und allen deinen Freunden, und sie sollen fallen durch das Schwert ihrer Feinde, und deine Augen sollen es sehen; ich will auch ganz Juda in die Hand des babylonischen Königs geben, und er wird sie gefangen gen Babel führen und sie mit dem Schwerte schlagen.
Hos 9:17 Mein Gott wird sie verwerfen; denn sie haben ihm nicht gehorcht; darum müssen sie umherirren unter den Heiden.
1Mo 3:17 Und zu Adam sprach er: Dieweil du gehorcht hast der Stimme deines Weibes und von dem Baum gegessen, davon ich dir gebot und sprach: «Du sollst nicht davon essen», verflucht sei der Erdboden um deinetwillen, mit Mühe sollst du dich davon nähren dein Leben lang;
1Mo 3:18 Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Gewächs des Feldes essen.
3Mo 26:20 daß eure Mühe und Arbeit vergeblich aufgewendet sei, und euer Land sein Gewächs nicht gebe und die Bäume des Landes ihre Früchte nicht bringen.
5Mo 28:23 Dein Himmel über deinem Haupt wird ehern und die Erde unter dir eisern sein.
5Mo 28:24 Der HERR wird den Regen für dein Land in Sand und Staub verwandeln; der wird vom Himmel auf dich herabfallen, bis du vertilgt bist.
Röm 8:20 Die Kreatur ist nämlich der Vergänglichkeit unterworfen, nicht freiwillig, sondern durch den, der sie unterworfen hat, auf Hoffnung hin,

Analyse

• Genesis 4,12 ist mehr als ein Strafspruch: Er ist eine Chiffre für ein Menschsein ohne Ort, ohne Beziehung und ohne Hoffnung auf Fruchtbarkeit – sowohl im konkreten als auch im spirituellen Sinn. In Dantes Commedia findet dieser Zustand seine Entsprechung im verlorenen, in sich verschlossenen Sünder. Kulturgeschichtlich wurde Kain zum Urbild des modernen Menschen, der mit seiner Schuld leben muss – nicht als Mythos der Vergebung, sondern als dramatische Erinnerung an die Notwendigkeit von Bindung, Brüderlichkeit und Ort.
• Insgesamt steht dieser Vers als dichter Knoten von Mythos, Schuld, Entfremdung und Sehnsucht nach Gnade. Ob allegorisch, psychologisch, philosophisch oder poetisch gelesen – er spricht von einem Zustand, der in seiner Tiefe universell menschlich ist: der Erfahrung des Verlustes von Welt, Sinn und Heimat nach dem Überschreiten einer inneren Grenze.

Biblisches Hebräisch (Masoretischer Text)

כִּ֤י תַֽעֲבֹ֙ד֙ אֶת־הָאֲדָמָ֔ה לֹא־תֹסֵ֥ף תֵּֽת־כֹּחָ֖הּ לָ֑ךְ נָע וָנָ֖ד תִּֽהְיֶ֥ה בָאָֽרֶץ׃
ki taʿăvōd ’et-hā’adāmāh, lōʾ tōsēf tet-koḥāh lāk; nāʿ wā nād tihyeh vāʾāreṣ.
כִּ֤י תַֽעֲבֹ֙ד֙ אֶת־הָאֲדָמָ֔ה
»Wenn du den Acker baust« – taʿăvōd ist ein Qal-Imperfekt von עָבַד (»arbeiten, bebauen«), hier mit direktem Objekt ’et-hā’adāmāh (»die Erde«). Das Partikel kî leitet einen Bedingungssatz ein.
לֹא־תֹסֵ֥ף תֵּֽת־כֹּחָ֖הּ לָ֑ךְ
»so wird sie dir ihre Kraft nicht mehr geben« – tōsēf (Hif'il) von יָסַף (»hinzufügen, fortfahren«) bedeutet hier »wird nicht mehr fortfahren«. tet-koḥāh ist ein Infinitivus constructus (»geben«) + koḥāh (»ihre Kraft«). Das Subjekt ist implizit »die Erde«. Betonung liegt auf einem Bruch: die Erde entzieht ihre Fruchtbarkeit.
נָע וָנָד תִּֽהְיֶ֥ה בָאָֽרֶץ
»Unstet und flüchtig wirst du sein auf der Erde« – nāʿ wānād sind seltene Begriffe. nāʿ bedeutet »umherirrend, unstet«, nād »flüchtig, unstetig, heimatlos«. Der parallele Gebrauch hebt die Heimatlosigkeit und soziale Ausgrenzung hervor. tihyeh ist Qal-Imperfekt von היה (»sein«).
Besonderheit: Die Alliteration nāʿ wānād erzeugt klanglich die Vorstellung eines ruhelosen Wanderns – ein rhetorischer Schlag für Kain, der durch den Brudermord seine Verwurzelung verliert.

Biblisches Griechisch (Septuaginta)

ὅταν ἐργάζῃ τὴν γῆν, οὐ προσθήσει τὸν καρπὸν αὐτῆς δοῦναί σοι· στενάξων καὶ τρέμων ἔσῃ ἐπὶ τῆς γῆς.
hotan ergazē tēn gēn, ou prosthēsei ton karpon autēs dounai soi; stenaxōn kai tremōn esē epi tēs gēs.
ὅταν ἐργάζῃ τὴν γῆν
»Wenn du die Erde bebauen wirst« – hotan (»wenn«), mit Konjunktiv ergazē von ἐργάζομαι (»arbeiten«). Der Ausdruck betont eine fortdauernde Tätigkeit.
οὐ προσθήσει τὸν καρπὸν αὐτῆς δοῦναί σοι
»sie wird dir ihre Frucht nicht mehr geben« – prosthēsei ist Futur von προστίθημι (»hinzufügen«), hier ähnlich wie im Hebräischen »nicht weiter geben«. karpos (»Frucht«) ersetzt das hebräische koach (»Kraft«), was eine Verschiebung vom Potential zur konkreten Fruchtbarkeit bedeutet.
στενάξων καὶ τρέμων ἔσῃ ἐπὶ τῆς γῆς
»seufzend und zitternd wirst du auf der Erde sein« – stenaxōn (Part. Futur von στενάζω, »seufzen«) und tremōn (Part. Präs. von τρέμω, »zittern«). Die LXX ersetzt das hebräische Bild des »unsteten Flüchtlings« durch ein psychisch-leibliches Bild: seelische Unruhe und Angst werden betont. esē (Futur von εἰμί) bildet den prädikativen Abschluss.
Besonderheit: Die LXX bietet keine wortwörtliche Übersetzung von nāʿ wā nād, sondern eine psychologisierende Paraphrase: Seufzen und Zittern als Folge des existenziellen Bruchs.

Biblisches Latein (Vulgata)

Cum operatus fueris eam, non dabit tibi fructus suos; vagus et profugus eris super terram.
Cum operatus fueris eam
»Wenn du sie bebauen wirst« – cum mit Konjunktiv Perfekt operatus fueris (PPP von operari, »arbeiten«). Ein klassisch-lateinischer Bedingungssatz mit stark kausalem Ton.
non dabit tibi fructus suos
»sie wird dir ihre Früchte nicht geben« – sehr konkret und einfach: fructus suos ersetzt wie in der LXX das hebräische Kraft durch greifbare Früchte. Betonung liegt hier stärker auf wirtschaftlichem Verlust als auf metaphysischer Trennung.
vagus et profugus eris super terram
»Du wirst unstet und flüchtig sein auf der Erde« – vagus (»umherschweifend, unstet«) und profugus (»Vertriebener, Flüchtling«) entsprechen direkt dem Hebräischen nāʿ wā nād. Anders als die LXX bleibt die Vulgata nahe am Original – allerdings ohne dessen lautmalerische Kraft.
Besonderheit: Die Vulgata konserviert das hebräische Strukturprinzip der Parallelität, bleibt aber in ihrer Ausdrucksweise nüchtern und funktional.

Fazit

Hebräisch betont durch Alliteration (nāʿ wā nād) die symbolische Tiefe von Kains Entfremdung von der Erde und den Menschen.
Griechisch (LXX) übersetzt psychologisch und legt Wert auf die emotionale Konsequenz (Seufzen, Zittern).
Latein (Vulgata) bleibt sachlich und strukturell eng am hebräischen Original, aber ohne dessen poetische Klangstruktur.

Vertiefte semantische Analyse (Luther 1912)

Der Vers gehört zur Strafverkündigung Gottes an Kain nach dem Mord an Abel. Die Sprache ist archaisch und gewichtstragend. Vier semantische Schlüsselfelder sind auffällig:
1. »den Acker bauen«
Der Begriff bauen (mittelhochdeutsch büwen, althochdeutsch buan) bedeutet hier nicht konstruieren, sondern »bebauen« im agrarischen Sinn. In der biblischen Anthropologie steht der Acker oft symbolisch für die Fruchtbarkeit und Lebensgrundlage des Menschen, insbesondere nach dem Sündenfall (vgl. Gen 3,17–19).
2. »sein Vermögen nicht geben«
Vermögen bedeutet hier nicht Reichtum, sondern das »Leistungsverhalten« oder die »Fruchtbarkeit« des Bodens. Der Acker verweigert dem Täter seine Lebensspende. Dies ist nicht einfach ein wirtschaftliches Urteil, sondern eine ontologische Verschiebung: Die Erde selbst wird zum Miturteilenden.
3. »unstet und flüchtig«
Zwei starke Begriffe:
unstet (von Stätte) heißt: ohne festen Ort, also heimatlos, entwurzelt.
flüchtig ist mehr als nur »sich bewegend« – es impliziert Verfolgung, Unruhe, Getriebensein. Zusammen bezeichnen die Worte eine existentielle Entfremdung: Kain verliert nicht nur seinen Bruder, sondern seine kosmische Verankerung.

Vergleichender theologischer Kommentar zu den Auslegungsunterschieden

Jüdische Exegese (Midrasch, Rashi)
Rashi deutet das »Unstet und flüchtig« als göttlich verhängte, aber letztlich gelockerte Strafe. Er verweist auf Vers 15, wo Gott Kain ein Schutzzeichen gibt – also wird das Nomadentum nicht als ewige Verwerfung, sondern als pädagogisches Mittel gedeutet. Die rabbinische Tradition sieht darin auch den Beginn der Städtebaukunst, also Transformation statt Vernichtung.
Christliche Patristik (Augustinus, Hieronymus)
Augustinus liest Kain als Vorbild des irdischen, vergänglichen Menschen (civitas terrena), im Gegensatz zu Abel als Symbol des Himmlischen (civitas Dei). Der Acker wird zum Ort göttlichen Gerichts, aber auch der Gnade: Die Unstetigkeit wird zur Metapher der inneren Zerrissenheit ohne Gottes Nähe.
Reformation (Luther)
Luther betont die objektive Strafe Gottes – für ihn ist Kain das Muster des unbußfertigen Sünders. Besonders die Entfremdung von der Erde, dem Werk des Menschen, zeigt für Luther die Entfremdung vom Segen Gottes. Trotzdem lässt Luther offen, ob Kain ewig verworfen ist – der Schutz durch Gottes Zeichen bleibt ein Mysterium.
Moderne Theologie
Moderne Auslegungen (z. B. Gerhard von Rad, Claus Westermann) betonen die anthropologische Tiefe: Die Verse schildern nicht bloß göttliches Strafrecht, sondern eine Krise der Humanität. Der Acker »antwortet« nicht mehr – die Weltbeziehung des Menschen ist zerrüttet. »Unstet und flüchtig« wird zur Chiffre für das moderne Entwurzelungsgefühl.

Tiefere theologische Deutung

• Genesis 4,12 markiert einen Wendepunkt in der Anthropologie der Bibel: Der Mensch lebt nicht mehr nur unter Gottes Gnade, sondern unter dem Bruch mit der Schöpfung. Die Erde selbst verweigert dem Menschen ihr Vertrauen – das ist mehr als ein moralisches Urteil: Es ist eine metaphysische Entfremdung. Die Unstetigkeit Kains kann als theologische Vorwegnahme des existenzialistischen Menschenbildes verstanden werden: Der Mensch verliert sein Zuhause, sobald er die Beziehung zum Anderen (Abel, dem Bruder) zerreißt.
• Gleichzeitig bleibt Gottes Reaktion ambivalent. Der Fluch ist keine Auslöschung, sondern eine Zuweisung zu einem neuen Ort. Der »unstete Mensch« wird nicht ausgelöscht, sondern transformiert – und trägt damit ein Stück heilsgeschichtlicher Spannung in sich: Schuld, aber nicht ohne Hoffnung.

Rezeptionsgeschichtliche Vertiefung

Literarisch: In der Weltliteratur wurde Kain häufig als Prototyp des Verstoßenen (Byron, »Cain: A Mystery«), des schöpferischen Rebellen (Thomas Mann, Der Erwählte) oder des gottverlassenen Helden (Sartre, Camus) interpretiert. Die Formel »unstet und flüchtig« wird zum Existenzmodus des modernen Menschen.
Kunst und Ikonographie: Mittelalterliche Miniaturen zeigen Kain oft isoliert, mit einem Stigma auf der Stirn. Die Erdverweigerung wird manchmal als verdorrter Boden dargestellt – eine symbolisch-ikonographische Übersetzung der göttlichen Verfluchung.
Philosophisch-theologisch: Emmanuel Levinas liest Kain als die Urfigur des Menschen, der dem Antlitz des Anderen (Abel) nicht standhält. Seine Unstetigkeit ist Folge der verweigerten Verantwortung. Auch in der Befreiungstheologie wurde Kain neu gelesen: als Symbol gesellschaftlicher Entfremdung und der Möglichkeit der Rückbindung durch göttliches Zeichen.

Literarische Einordnung

• Der Vers gehört zur sogenannten Urgeschichte (Genesis 1–11), einem mythologisch-symbolischen Teil des Alten Testaments, der keine historische Chronik, sondern grundlegende anthropologische und theologische Wahrheiten vermitteln will. Genesis 4 stellt die erste Mordgeschichte der Bibel dar und verhandelt die Themen Schuld, Strafe, göttliche Gerechtigkeit und Gnade. Der Vers 12 markiert dabei den Höhepunkt der göttlichen Strafe: Kain, der sesshafte Ackerbauer, wird zum unsteten Wanderer, der keinen Ertrag mehr von seiner Arbeit erwarten kann – ein Bruch mit seiner Identität und seinem Lebenssinn.
• Der literarische Ton ist lakonisch und doch existenziell geladen. Die knappe Sprache verweist auf eine tiefgreifende Entwurzelung: Der Acker (Symbol für Nahrung, Heimat, Kultur) verweigert sich, und die Erde (in hebräischem Denken auch Mutterboden, Lebensraum) wird zur fremden, unwirtlichen Sphäre.

Kontext von Dantes Commedia

• Dante zitiert den Vers nicht wörtlich, aber das Motiv des unsteten, gottfernen Menschen durchzieht besonders das Inferno. Der Brudermord Kains spiegelt sich in verschiedenen Sündertypen wider: etwa bei jenen, die gegen das Naturrecht und die Gemeinschaft der Menschen verstoßen (wie die Gewalttätigen gegen Mitmenschen in Inferno XII) oder bei den Verrätern in Caina (Inferno XXXII), einer Zone benannt nach Kain selbst.
• Dante folgt dabei einer mittelalterlichen Typologie, die Kain als Urtypus des verfluchten Menschen versteht – jemand, der sich nicht nur gegen die göttliche Ordnung, sondern gegen die strukturelle Bindung an das Gemeinwesen stellt. Die Strafe des »Unstet- und Flüchtigseins« erscheint in Dantes Kosmologie als endgültige Orientierungslosigkeit in der Hölle, wo Ort und Zustand des Geistes unauflöslich miteinander verbunden sind. Gerade der Verlust des Ortes (locus) ist eine anthropologische Katastrophe – in der Commedia gleichbedeutend mit dem Verlust der Beziehung zu Gott.

Kulturgeschichtliche Einordnung

• In der jüdisch-christlichen Kulturgeschichte wurde Kain nicht nur als erster Mörder, sondern auch als Symbol für das verstoßene, entwurzelte Menschsein gedeutet. Augustinus etwa sieht in ihm den Prototyp der »civitas terrena« (der irdischen Stadt), die im Gegensatz zur civitas Dei (der Gottesstadt) steht. Der Kain-Mensch lebt in der Welt, ist aber von ihr nicht mehr getragen – er ist gezwungen zu wandern, zu bauen, zu suchen, aber er findet keine Heimstatt.
• Im Mittelalter wurde Kain häufig als Gegenfigur zu Christus gelesen: Wo Christus sein Leben hingibt, nimmt Kain das Leben seines Bruders. Wo Christus das neue Paradies erschließt, wird Kain aus dem Kulturraum der Erde verstoßen. Diese Vorstellung prägt auch Dantes Vision des moralisch-geordneten Kosmos, in dem der Mensch nur im Maß seiner gottgewollten Funktion und Beziehung zu anderen bestehen kann.

Anthropologische Vertiefung

• Anthropologisch gesehen beschreibt der Vers einen radikalen Verlust von Weltbindung: Der Mensch verliert den Ort, an dem er Mensch sein kann. Der Acker ist nicht nur ein ökonomisches Objekt, sondern ein Symbol für menschliche Arbeit, Geduld, Verwurzelung und Hoffnung. Wenn die Erde ihren »Ertrag« verweigert, ist das eine Absage an die grundlegende Vertrauensstruktur des Menschseins – das Vertrauen, dass Mühe Sinn ergibt, dass Saat zur Ernte führt.
• Die unstete Bewegung des Verstoßenen erinnert an das moderne Exil oder an das existenzialistische Motiv des entwurzelten Menschen. Kain wird so zum Archetyp des Menschen, der im Bruch mit dem Anderen (Abel) den Zugang zum eigenen Selbst und zur Welt verliert. Seine Bewegung ist keine Pilgerschaft (wie bei Dante oder in der christlichen Mystik), sondern ein Umherirren ohne Ziel – eine Desorientierung der Seele.

Allegorische Vertiefung

• In der allegorischen Lesart erscheint dieser Vers als Sinnbild für die Entfremdung des Menschen von seinem natürlichen, gottgegebenen Ursprung. Der Acker – in biblischer Symbolik oft Ort der Versorgung, Fruchtbarkeit und der göttlichen Ordnung – verweigert Kain seine Fruchtbarkeit. Dies steht allegorisch für das gestörte Verhältnis zwischen Mensch und Schöpfung.
• Kain hat durch seinen Brudermord die Lebensordnung zerstört, die durch Gottes Segen und Gebot aufrechterhalten wird. Die Fruchtbarkeit des Bodens war ein Zeichen von Gottes Gnade, die nach dem Sündenfall immer noch galt (vgl. Adam). Nun aber wird auch dieses Band gekappt. Kain ist nicht nur von Gott entfremdet, sondern auch von der Erde selbst – der »Mutter«, aus der er stammt (»adamáh« im Hebräischen ist verwandt mit »Adam«). Die Allegorie lässt Kain zu einem Archetypen des entwurzelten Menschen werden, der keinen festen Ort, keine spirituelle Heimat und keine produktive Verbindung zur Welt mehr hat.

Psychologische Vertiefung

• Psychologisch gesprochen markiert dieser Vers den Beginn eines Zustands chronischer innerer Unruhe. Kain ist nicht nur ein Mörder, sondern auch ein Mensch, der die Grenzen seines Selbst überschritten hat – der sein Gewissen übergangen und ein Tabu verletzt hat. Der Acker, der ihm nun keine Frucht mehr gibt, steht sinnbildlich für die psychische Unfruchtbarkeit, die Schuld mit sich bringt.
• Der Mensch, der sich gegen seine innere ethische Ordnung wendet, verliert das Vertrauen in die Welt und in sich selbst. »Unstet und flüchtig« zu sein beschreibt nicht bloß eine geographische Heimatlosigkeit, sondern eine existentielle: Der Schuldige findet keinen Halt, keine Ruhe, keine Bindung. Dieses psychologische Porträt lässt sich mit modernen Begriffen wie Dissoziation, Schuldverdrängung oder sogar traumatischem Stress beschreiben. Die produktive Tätigkeit – Ackerbau – verliert ihren Sinn. Der Mensch gerät in eine Spirale innerer Leere, getrieben von einem unstillbaren Gefühl des Verlorenseins.

Philosophische Vertiefung

• Philosophisch betrachtet rührt dieser Vers an Grundfragen der Ethik, Anthropologie und Ontologie. Kain verliert durch seine Tat den Zugang zur Welt als einem Kosmos – einer geordneten, durch Logos strukturierbaren Wirklichkeit – und fällt in ein Dasein der reinen Physis, des bloßen Überlebens. Der Fluch, dass der Acker ihm kein »Vermögen« mehr gibt, verweist auf den Verlust der Teilhabe am Logos der Welt.
• Hier zeigt sich ein tiefes Problem menschlicher Freiheit: Der Mensch kann handeln gegen das Gute, aber er verliert dadurch sein »Zuhause im Sein« (vgl. Heidegger). Die »Unstetigkeit« ist dann Ausdruck einer radikalen Existenzverunsicherung – der Mensch wird zum homo viator, einem Suchenden, der sich selbst fremd geworden ist.
• Sartres Begriff der Nausea ließe sich hier anführen: Die Welt verliert ihre Bestimmtheit und Verlässlichkeit, wenn der Mensch durch eigene Schuld sich von ihrem Sinn entkoppelt. Auch Kains Nomadentum ist kein Ausdruck von Freiheit, sondern von metaphysischer Verlorenheit.

Poetische Vertiefung

• Der Vers entfaltet eine düstere, eindringliche Bildsprache: Der Acker, sonst Symbol für Nahrung, Heimat und Verbindung zum Rhythmus der Natur, wird unfruchtbar. Die Erde schweigt, verweigert sich – als ob sie den Blutruf des Bruders nicht vergessen kann (vgl. Gen 4,10: »Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde«).
• Der Ausdruck »unstet und flüchtig« (na‘ va-nad, hebräisch) ist von tiefer poetischer Kraft. Er evoziert das Bild eines ruhelosen Wanderers, dessen Schritte keinen Widerhall mehr finden, weil kein Ort ihn anerkennt. Der Mensch ist aus dem Rhythmus der Welt gefallen. Kein Acker, kein Haus, kein Baum spricht mehr zu ihm.
• In der poetischen Imagination ist Kain ein Schatten, ein Getriebener. Seine Seele ist wie eine ausgetrocknete Erde, sein Leben wie ein Windhauch auf heißem Stein. Das Bild der sterilen Erde spiegelt die geistige Dürre wider, das Fehlen einer inneren Quelle.

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