• Luther 1545 Da sprach der HERR zu Kain / Wo ist dein bruder Habel? Er aber sprach / Jch weis nicht / Sol ich meines bruders Hüter sein?
• Luther 1912 Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?
Parallelstellen zu Genesis (1Mose) 04:09
1Mo 4:9 Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß es nicht! Soll ich meines Bruders Hüter sein?
1Mo 37:32 schickten den langen Rock ihrem Vater und ließen ihm sagen: Das haben wir gefunden; sieh doch, ob es deines Sohnes Rock ist oder nicht!
Hiob 22:13 Und du denkst: «Was weiß Gott! Sollte er hinter dem Dunkel richten?
Hiob 22:14 Die Wolken hüllen ihn ein, daß er nicht sehen kann, und er wandelt auf dem Himmelsgewölbe umher!»
Ps 10:13 Warum soll der Frevler Gott lästern und in seinem Herzen sprechen, du fragst nicht darnach?
Ps 10:14 Du hast es wohl gesehen! Denn du gibst auf Beleidigung und Kränkung acht, um es in deine Hand zu nehmen; der Wehrlose überläßt es dir, der du der Waisen Helfer bist!
Spr 28:13 Wer seine Missetaten verheimlicht, dem wird es nicht gelingen; wer sie aber bekennt und läßt, der wird Barmherzigkeit erlangen.
Joh 8:44 Ihr seid von dem Vater, dem Teufel, und was euer Vater begehrt, wollt ihr tun; der war ein Menschenmörder von Anfang an und ist nicht bestanden in der Wahrheit, denn Wahrheit ist nicht in ihm. Wenn er die Lüge redet, so redet er aus seinem Eigenen, denn er ist ein Lügner und der Vater derselben.
Apg 5:4 Konntest du es nicht als dein Eigentum behalten? Und als du es verkauft hattest, war es nicht in deiner Gewalt? Warum beschlossest du denn in deinem Herzen diese Tat? Du hast nicht Menschen belogen, sondern Gott!
1Mo 3:9 Da rief Gott der HERR dem Menschen und sprach: Wo bist du?
Ps 9:12 Denn er forscht nach den Blutschulden und denkt daran; er vergißt des Schreiens der Elenden nicht.
Biblisches Hebräisch
וַיֹּאמֶר יְהוָה אֶל־קַיִן : אֵי הֶבֶל אָחִיךָ ? וַיֹּאמֶר : לֹא יָדַעְתִּי ; הֲשֹׁמֵר אָחִי אָנֹכִי ?
Vajómer Adonaj el-Kajin: Ej Hevel achícha? Vajómer: Lo jadáʿti; hašómer achí anochí?
וַיֹּאמֶר יְהוָה (vajómer Adonaj):
»Und der HERR sprach« – vajómer ist ein waw-consecutivum-Perfekt von א.מ.ר (ʾ-m-r), die häufigste Einleitung für göttliche Rede.
אֵי (ʾej):
Fragesatzpartikel, Bedeutung: »Wo?« – mit existenziellem Unterton: nicht nur geographisches Wo, sondern: Was ist mit ihm geschehen?
הֶבֶל אָחִיךָ (Hevel achícha):
»Abel, dein Bruder« – achícha ist die Suffixform »dein Bruder«, mit pathosgeladener Appellfunktion.
לֹא יָדַעְתִּי (lo jadáʿti):
»Ich weiß \[es] nicht« – jadáʿti ist das Perfekt 1.sg. von י.ד.ע (j-d-ʿ), »wissen«.
הֲשֹׁמֵר (hašómer):
Partizip Maskulin Singular von ש.מ.ר (š-m-r), »bewachen, hüten« – mit interrogativer He-Partikel ha: »Bin ich der Hüter?«
אָנֹכִי (anochí):
»Ich« – betonte Selbstbezeichnung; stilistisch stärker als das normale ani, besonders in emotionaler oder formeller Rede.
Besonderheit: Die Frage הֲשֹׁמֵר אָחִי אָנֹכִי enthält eine sarkastische oder abweisende Haltung – nicht bloß Informationsverweigerung, sondern moralische Verweigerung der Verantwortung.
Biblisches Griechisch (Septuaginta)
καὶ εἶπεν κύριος τῷ Κάιν· ποῦ Ἅβελ ὁ ἀδελφός σου; ὁ δὲ εἶπεν· οὐκ οἶδα· μὴ φύλαξ τοῦ ἀδελφοῦ μου εἰμὶ ἐγώ;
kai eipen Kyrios tō Káin: pou Ábel ho adelphós sou? ho de eipen: ouk oida; mē phýlax tou adelphoú mou eimí egṓ?
εἶπεν κύριος (eipen Kyrios):
»Der Herr sprach« – Aorist von λέγω; stilistisch identisch mit dem hebräischen vajómer.
ποῦ Ἅβελ ὁ ἀδελφός σου (pou Ábel ho adelphós sou):
»Wo ist Abel, dein Bruder?« – ποῦ = »wo«; ho adelphós sou = »dein Bruder«, starker relationaler Bezug.
οὐκ οἶδα (ouk oida):
»Ich weiß nicht« – oida ist Perfekt von eidō, als Gegenwartsform gebraucht, im Sinne von »ich bin nicht im Wissen«.
μὴ φύλαξ τοῦ ἀδελφοῦ μου εἰμὶ ἐγώ (mē phýlax tou adelphoú mou eimí egṓ):
»Bin ich etwa der Hüter meines Bruders?« –
mē als Fragesignal mit negativer Implikation (erwartete Antwort: nein),
phýlax = »Wächter, Aufseher«,
eimí egṓ – betonte Selbstbezeichnung; entspricht dem hebräischen anochí.
Besonderheit: Die griechische Wendung mit μὴ impliziert rhetorische Ablehnung – ähnlich wie das hebräische ha- in hašómer. Der Begriff phýlax kann eine Rolle mit rechtlicher oder militärischer Verantwortung andeuten – die Frage lehnt genau das ab.
Biblisches Latein (Vulgata)
Dixitque Dominus ad Cain: Ubi est Abel frater tuus? Qui respondit: Nescio. Num custos fratris mei sum ego?
Dixitque Dominus ad Cain:
»Und der Herr sprach zu Kain« – dixit ist Perfekt von dicere, klassische Einleitung göttlicher Rede.
Ubi est Abel frater tuus?:
»Wo ist Abel, dein Bruder?« – ubi als klassische Ortsfrage, aber mit existenzieller Dimension.
Nescio: »Ich weiß \[es] nicht« – aus nescire, »nicht wissen«, typisch für Verweigerung von Kenntnis (aktiv oder passiv ignorierend).
Num custos fratris mei sum ego?:
»Bin ich etwa der Hüter meines Bruders?« –
num leitet eine rhetorische Frage ein, deren erwartete Antwort »nein« ist;
custos = »Wächter, Hüter«, wörtlich »Wächter über einen Schutzbefohlenen«;
sum ego – betonte Ich-Form: »Ich etwa?« – Ausdruck von Abwehr und Empörung.
Besonderheit: Die lateinische Wendung legt ein rechtlich geprägtes Verständnis von custos nahe – eine institutionelle oder moralische Rolle, die Kain strikt von sich weist.
Analyse
• In allen drei Sprachfassungen wird der dramatische Kern des Verses – Kains Ablehnung der Verantwortung – durch rhetorische Mittel (Fragepartikel, betonte Personalpronomen, semantisch gewichtete Begriffe wie שׁוֹמֵר / φύλαξ / custos) deutlich gemacht. Kains Antwort ist nicht bloß defensiv: Sie ist ethisch aufschlussreich, da sie indirekt die Grundfrage menschlicher Verantwortung gegenüber dem Nächsten aufwirft.
• Eine der dichtesten und tragischsten Stellen der Bibel: Sie konfrontiert uns mit der Frage nach Schuld, Verantwortung und Brüderlichkeit. Kains Lüge und seine zynische Frage markieren den Verlust der Beziehung – zu seinem Bruder wie zu Gott. Die göttliche Frage jedoch bleibt stehen – sie zielt über Kain hinaus auf jeden Menschen: »Wo ist dein Bruder?«
• Diese knappe und doch erschütternde Szene gehört zu den eindrucksvollsten Momenten der biblischen Urgeschichte. Kain hat seinen Bruder ermordet und versucht, sich durch Ausflüchte der göttlichen Verantwortung zu entziehen. Die Frage Gottes – »Wo ist dein Bruder?« – durchzieht in ihrer ethischen Tiefe und theologisch-anthropologischen Spannung die gesamte Geistesgeschichte des Abendlands.
• Nicht nur ein Bericht über ein archaisches Verbrechen, sondern eine spirituelle Chiffre für die menschliche Verantwortung gegenüber dem Anderen. In Dantes Commedia entfaltet dieser Vers seine kulturhistorische Wirkung in der symbolischen Topographie der Hölle, während mystische und anthropologische Deutungen ihn zu einer ewigen Frage machen, die sich jeder Mensch – im Gewissen, in der Liebe, im Leid – immer neu beantworten muss.
Vertiefte semantische Analyse
1. »Da sprach der HERR zu Kain«
Die Erzählung hat die Form eines göttlichen Verhörs nach einem Verbrechen. Der göttliche Sprechakt tritt als Instanz der Wahrheitssuche auf – nicht weil Gott unwissend wäre, sondern um den Menschen zur Verantwortung zu rufen. Die Frage ist rhetorisch und auf Enthüllung angelegt.
2. »Wo ist dein Bruder Abel?«
Die Frage impliziert Beziehung und Verantwortung. Das Pronomen »dein Bruder« hebt die familiäre, soziale und moralische Bindung hervor. Die Frage ist nicht nur geographisch zu verstehen, sondern zielt auf die ethische Stellung Kains zu Abel – eine Frage nach Beziehung, Schuld und Verantwortung.
3. »Ich weiß nicht«
Diese Aussage ist eine Lüge. Semantisch gesehen ist sie ein Leugnen von Wissen, das Kain definitiv besitzt. Sie bringt Distanz und Verweigerung hervor – ein erster Ausdruck seiner inneren Abkehr und Verhärtung.
4. »Soll ich meines Bruders Hüter sein?«
Im Hebräischen steht hier das Wort »שׁוֹמֵר« (shomer), das »Hüter, Wächter, Bewacher« bedeutet – jemand, der aufmerksam, schützend und sorgend handelt. Die Frage ist sarkastisch und zynisch – Kain nimmt nicht nur keine Verantwortung wahr, sondern spottet über den Gedanken, sie überhaupt haben zu sollen.
Tiefere theologische Deutung
1. Verantwortung des Menschen für den Anderen
Diese Stelle steht am Ursprung der biblischen Anthropologie: Der Mensch ist antwortlich für den anderen Menschen. Die Ablehnung dieser Verantwortung ist nicht nur moralisches Versagen, sondern steht im Zentrum der Sünde. Kains Frage wird zum Symbol aller Verweigerung solidarischer Menschlichkeit.
2. Der Brudermord als Urbild menschlicher Gewalt
Kains Tat steht exemplarisch für eine Welt, in der Beziehung zur Konkurrenz und Gewalt wird. Das göttliche Fragen zeigt: Schuld ist nie nur ein innerer Zustand, sondern betrifft immer auch das Verhältnis zu Gott und Mitmensch.
3. Gottes Reaktion: Kein sofortiges Strafgericht, sondern ein Gespräch
Der Text betont die dialogische Struktur der göttlichen Gerechtigkeit: Gott sucht zuerst das Gespräch, die Offenlegung der Wahrheit. Der Mensch soll sich erklären, bekennen – aber Kain verweigert jede Öffnung. So ist seine Verhärtung Teil seiner Schuld.
4. Der Brudermord und der Verlust der Beziehung
Die Beziehung zu Gott ist unlöslich mit der zum Bruder verknüpft. Kain kann sich nicht Gott nahen, ohne zuvor seine Verantwortung dem Bruder gegenüber wahrzunehmen. Diese theologische Linie findet sich bis ins Neue Testament, etwa im 1. Johannesbrief: »Wer seinen Bruder nicht liebt, ist ein Mörder« (1 Joh 3,15).
Rezeptionsgeschichtliche Vertiefung
1. Frühjüdische und rabbinische Tradition
In rabbinischen Auslegungen wird Kain als Prototyp des gewissenlosen Menschen gesehen, der die göttliche Gabe der Freiheit missbraucht. Der Midrasch betont oft die Ironie und Unverschämtheit seiner Antwort. Gleichzeitig wird diskutiert, ob Buße für Kain noch möglich sei – einige Deutungen sehen in seinem späteren »Zeichen« Gottes ein Moment der Gnade.
2. Christliche Auslegungstradition
In der patristischen Literatur gilt Kain als Typus des Sünder-Menschen, als Gegenfigur zu Christus, dem »wahren Bruder«. Augustinus sieht in ihm das Haupt der »civitas terrena«, der irdischen Stadt der Selbstliebe und Gewalt.
In der reformatorischen Theologie (Luther, Calvin) wird Kains Antwort als Beispiel menschlicher Verstockung und Selbstrechtfertigung gedeutet. Der Satz »Soll ich meines Bruders Hüter sein?« wird als Gegenteil der christlichen Ethik verstanden.
3. Moderne ethische und literarische Rezeption
In existentialistischer und psychologischer Literatur (z.B. Dostojewski, Camus, Kierkegaard) wird die Szene zur Chiffre für die Frage nach Schuld, Freiheit und Gewissen.
Der zynische Ton Kains ist ein archetypischer Ausdruck menschlicher Selbstrechtfertigung, wie sie auch in politischen, gesellschaftlichen und ethischen Kontexten widerhallt: Die Flucht aus der Verantwortung für das Leid des Anderen.
4. Jüdisch-philosophische Deutung (Levinas)
Emmanuel Levinas sieht in Gottes Frage eine ethische Grundstruktur: »Wo ist dein Bruder?« – das ist der erste ethische Ruf, dem der Mensch ausgesetzt ist. Kains Antwort, so Levinas, ist die Verweigerung des Antlitzes des Anderen – der Anfang der Gewalt.
Literarische und kulturgeschichtliche Einordnung
• Der Vers ist Teil der sogenannten Kain-und-Abel-Erzählung (Genesis 4,1–16), die zu den ältesten Textschichten der Bibel gehört. Sie thematisiert den Ursprung von Gewalt, Schuld und moralischer Verantwortung. Kain wird zum Archetypus des Brudermörders – nicht aus Notwehr oder Krieg, sondern aus Neid und gekränktem Stolz. Die scheinbar rhetorische Frage »Soll ich meines Bruders Hüter sein?« offenbart einen Bruch im menschlichen Selbstverständnis: Der Mensch entzieht sich der Verantwortung für den anderen – und damit dem Fundament jeder Gemeinschaft.
• Kulturgeschichtlich ist dieser Vers Ausgangspunkt für zahlreiche Reflexionen über Gerechtigkeit, soziale Verantwortung und das Verhältnis von Freiheit und Schuld. Die Figur Kains wurde im Judentum, Christentum und später auch in der Romantik (z.B. bei Byron) als Symbol des isolierten, rebellischen, aber auch tragisch-schuldhaften Menschen gelesen.
Resonanz in Dantes Divina Commedia
• In der Divina Commedia erscheint Kain nicht direkt als sprechende Figur, aber seine Schuld und Symbolik wirken weiter – vor allem in der Hölle, wo Verrat an Verwandten, Freunden und Wohltätern zu den schwersten Sünden zählt. Im 9. Kreis des Inferno (Canti XXXII–XXXIV), der Cocytus, sind die Verräter eingefroren – seelisch wie körperlich – in einem See aus Eis. Dante benennt sogar die erste Zone des Cocytus nach Kain: »Caïna«, benannt nach dem »fratris occisor« (Brudermörder). Dort werden jene bestraft, die Blutsverwandte verraten haben.
• Diese poetische Lokalisierung zeigt, wie Dante die Genesis-Stelle nicht nur theologisch, sondern auch strukturell-literarisch in sein Werk integriert: Die Sünde Kains ist paradigmatisch für den tiefsten moralischen Absturz, die Umkehrung natürlicher Liebe in Hass.
Anthropologische und mystische Perspektiven
• Anthropologisch steht der Vers für ein fundamentales Dilemma der Conditio humana: die Spannung zwischen individueller Freiheit und sozialer Verantwortung. Die Frage Gottes ist nicht nur Anklage, sondern Einladung zur Selbsterkenntnis – eine Art Ur-Gewissen. Kains Antwort ist der erste dokumentierte Versuch, Schuld zu leugnen oder abzuwälzen.
• In mystischer Perspektive (etwa bei Meister Eckhart oder in der jüdischen Kabbala) erhält der Vers eine tiefere Bedeutung: Die Trennung von Mensch und Mitmensch spiegelt die Trennung vom Göttlichen. Der Mensch, der sich nicht mehr als Hüter des Bruders erkennt, verfehlt das göttliche Bild in sich selbst. Mystiker wie Johannes vom Kreuz oder Franz von Assisi hätten Kains Frage als Ausdruck spiritueller Verblendung gelesen – der Mensch ist nicht nur »Hüter des Bruders«, er ist in gewissem Sinne der Bruder.
• Auch im Sufismus finden sich ähnliche Ideen: Der Mensch wird zur Rechenschaft gerufen für die göttliche Präsenz im anderen – ein Gedanke, der die Ethik zur mystischen Praxis erhebt.