Genesis 04:08

Luther 1545 Da redet Kain mit seinem bruder Habel. VND es begab sich / da sie auff dem Felde waren / erhub sich Kain wider seinen bruder Habel / vnd schlug jn tod.
Luther 1912 Da redete Kain mit seinem Bruder Abel. Und es begab sich, da sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.

genesis04

Parallelstellen zu Genesis (1Mose 4:8)

1Mo 4:8 Da redete Kain mit seinem Bruder Abel. Es begab sich aber, als sie auf dem Felde waren, da erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.
2Sa 14:6 Und deine Magd hat zwei Söhne, die zankten miteinander auf dem Felde, und als ihnen niemand wehrte, schlug einer den andern und tötete ihn.
Hiob 11:15 dann darfst du ohne Scheu dein Angesicht erheben und fest auftreten ohne Furcht;
Ps 24:3 Wer wird auf den Berg des HERRN steigen? Und wer wird stehen an seiner heiligen Stätte?
Ps 139:19 Ach Gott, daß du den Gottlosen tötetest und die Blutgierigen von mir weichen müßten!
Matt 23:35 auf daß über euch komme alles gerechte Blut, das auf Erden vergossen worden ist, vom Blute Abels, des Gerechten, an bis auf das Blut Zacharias, des Sohnes Barachias, welchen ihr zwischen dem Tempel und dem Altar getötet habt.
Lk 11:51 vom Blute Abels an bis auf das Blut Zacharias, welcher zwischen dem Altar und dem Tempel umkam. Ja, ich sage euch, es wird von diesem Geschlecht gefordert werden!
1Joh 3:12 nicht wie Kain, der von dem Argen war und seinen Bruder erschlug! Und warum erschlug er ihn? Weil seine Werke böse waren, die seines Bruders aber gerecht.
Jud 1:11 Wehe ihnen, denn sie sind den Weg Kains gegangen und haben sich durch den betrüglichen Lohn Bileams verlocken lassen und sind durch die Widersetzlichkeit Koras ins Verderben geraten!
2Sa 3:27 Als nun Abner wieder gen Hebron kam, führte ihn Joab mitten unter das Tor, um in der Stille mit ihm zu reden; und er stach ihn daselbst in den Bauch, daß er starb; um des Blutes willen seines Bruders Asahel.
2Sa 13:26 Absalom sprach: Darf mein Bruder Amnon nicht mit uns gehen? Da fragte der König: Warum soll er mit dir gehen?
2Sa 20:9 Und Joab sprach zu Amasa: Geht es dir wohl, mein Bruder? Und Joab faßte mit seiner rechten Hand Amasa beim Bart, um ihn zu küssen.
2Sa 20:10 Amasa aber achtete nicht auf das Schwert in Joabs Hand; und der stach ihn damit in den Bauch, daß sich seine Eingeweide auf die Erde ergossen; und er starb, ohne daß jener ihm noch einen Stich gab. Joab aber und sein Bruder Abisai jagten Seba, dem Sohne Bichris, nach.
Neh 6:2 sandten Sanballat und Geschem zu mir und ließen mir sagen: Komm und laß uns in den Dörfern, in der Ebene Ono zusammenkommen! Sie gedachten aber, mir Böses zu tun.
Ps 36:3 Die Worte seines Mundes sind Lug und Trug; er hat aufgehört, verständig und gut zu sein.
Ps 55:21 Seine Reden sind süß, aber Krieg hat er im Sinn. Seine Worte sind sanfter als Öl, aber doch gezückte Schwerter.
Spr 26:24 Mit seinen Lippen verstellt sich der Hasser, und in seinem Herzen nimmt er sich Betrügereien vor.
Mic 7:6 Denn der Sohn verachtet den Vater, die Tochter erhebt sich wider die Mutter, die Sohnsfrau wider ihre Schwieger; des Menschen Feinde sind seine Hausgenossen!
Lk 22:48 Jesus aber sprach zu ihm: Judas, mit einem Kuß verrätst du des Menschen Sohn?
1Joh 1:3 was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habet. Und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohne Jesus Christus.

Biblisches Hebräisch

וַיֹּאמֶר קַיִן אֶל־הֶבֶל אָחִיו וַיְהִי בִּהְיוֹתָם בַּשָּׂדֶה וַיָּקָם קַיִן אֶל־הֶבֶל אָחִיו וַיַּהַרְגֵהוּ
Vajyómer Qáyin el-Hével āchív; vajehí bihyotám bashádeh, vajyáqam Qáyin el-Hével āchív, vajahargéhu.
וַיֹּאמֶר קַיִן אֶל־הֶבֶל אָחִיו
»Und Kain sprach zu Abel, seinem Bruder«
→ Das Verb vayyómer (»und er sprach«) ist im waw-consecutivum mit Imperfektform, typisch für die hebräische Erzählform.
→ Was genau Kain sagte, wird nicht wiedergegeben – viele Manuskripte (z. B. Samaritanus) oder die LXX fügen ein Gespräch ein. Der masoretische Text lässt es offen.
וַיְהִי בִּהְיוֹתָם בַּשָּׂדֶה
»Und es geschah, als sie auf dem Feld waren«
→ vajehí bihyotám ist ein Ausdruck für einen temporalen Nebensatz: »als sie waren«
→ bashádeh (»auf dem Feld«) suggeriert Abgeschiedenheit – ein Ort ohne Zeugen.
וַיָּקָם קַיִן אֶל־הֶבֶל אָחִיו
»da erhob sich Kain gegen Abel, seinen Bruder«
→ vayyáqam el- ist eine idiomatische Formulierung, die oft einem gewaltsamen Angriff vorausgeht (vergl. Ri 9,18).
וַיַּהַרְגֵהוּ
»und er tötete ihn«
→ vajahargéhu ist ein Piel-Perfekt von הרג (harag, »töten«), mit Suffix »ihn« – ein gezielter, willentlicher Mord.
Theologische Beobachtung:
Der Text verwendet konsequent die Bezeichnung »seinen Bruder« – dreifach – was die Tragweite des Brudermordes unterstreicht. Die Auslassung des Dialogs lässt die Handlung noch brutaler und plötzlicher erscheinen.

Biblisches Griechisch (Septuaginta)

καὶ εἶπεν Κάιν τῷ Ἀβελ τῷ ἀδελφῷ αὐτοῦ· Διέλθωμεν εἰς τὸ πεδίον.
καὶ ἐγένετο ἐν τῷ εἶναι αὐτοὺς ἐν τῷ πεδίῳ καὶ ἀνέστη Κάιν ἐπὶ Ἅβελ τὸν ἀδελφὸν αὐτοῦ καὶ ἀπέκτεινεν αὐτόν.
Kai eipen Kain tō Abel tō adelphō autou· Dielthōmen eis to pedion.
Kai egeneto en tō einai autous en tō pediō, kai anestē Kain epi Abel ton adelphon autou, kai apekteinen auton.
καὶ εἶπεν Κάιν... Διέλθωμεν εἰς τὸ πεδίον
»Und Kain sagte zu Abel, seinem Bruder: Lass uns aufs Feld hinausgehen.«
→ Die LXX ergänzt einen Satz, der im masoretischen Text fehlt.
→ Διέλθωμεν ist Konjunktiv Aorist Aktiv von διέρχομαι, »hindurchgehen« – ein Lockruf in die Einsamkeit.
ἐγένετο ἐν τῷ εἶναι αὐτοὺς...
»Und es geschah, als sie im Feld waren«
→ klassische Form für einen Nebensatz im Koine-Griechischen, wörtlich: »in dem es war, dass sie...«
ἀνέστη Κάιν ἐπὶ Ἅβελ...
»Kain erhob sich gegen Abel«
→ ἀνέστη ἐπί ist semantisch sehr nahe zu וַיָּקָם אֶל- im Hebräischen – ein Ausdruck für Gewalt.
ἀπέκτεινεν αὐτόν
»und er tötete ihn«
→ Aorist von ἀποκτείνω, »töten« – sachlich, aber final.
Theologische Beobachtung:
Die Septuaginta wirkt erzählerischer durch den eingefügten Satz. Der Mord wird dadurch perfider – es ist nicht nur eine spontane Tat, sondern offenbar geplant und eingeleitet durch Täuschung.

Lateinische Vulgata

Dixitque Cain ad Abel fratrem suum: Egrediamur foras.
Cumque essent in agro, consurrexit Cain adversus Abel fratrem suum et interfecit eum.
Dixitque Cain ad Abel fratrem suum: Egrediamur foras.
»Und Kain sprach zu Abel, seinem Bruder: Lass uns hinausgehen.«
→ Egrediamur ist Konjunktiv (hortativ) – »Lass uns hinausgehen«
→ Das Hinzufügen des wörtlichen Zitats folgt der LXX.
Cumque essent in agro
»Und als sie auf dem Feld waren«
→ Temporaler cum-Satz im klassischen Latein
consurrexit Cain adversus Abel...
»da erhob sich Kain gegen Abel«
→ consurrexit adversus ist eine Latinisierung von וַיָּקָם אֶל- / ἀνέστη ἐπὶ
→ adversus (»gegen«) bringt die feindliche Intention deutlich hervor
interfecit eum
»und tötete ihn«
→ Perfekt von interficere – im Unterschied zu occidere oder necare deutet interficere auf vollendetes Töten hin
Theologische Beobachtung:
Die Vulgata bewahrt die Dramatik der LXX, mit klarer Gewaltstruktur: Einladung – Verlassenheit – Angriff – Mord.

Analyse

• Der masoretische Text lässt das Gespräch aus – was Raum für Interpretation lässt: War es eine Falle? Oder wortloser Hass?
• Die Septuaginta und Vulgata machen das Geschehen expliziter – durch das eingefügte Gespräch wirkt der Mord hinterlistiger.
• Die Wiederholung von »seinem Bruder« in allen Versionen unterstreicht das ethische Grauen des Brudermordes.
• Sprachlich zeigen sich starke semitische Idiome, die in der griechischen und lateinischen Rezeption einfühlsam adaptiert werden.
• Ein dichter Text, der aus wenigen Worten eine ganze Theologie der Gewalt, Schuld und Menschlichkeit entfaltet. Er steht am Beginn einer langen Tradition der Auseinandersetzung mit dem Bösen im Menschen – nicht als bloße Erklärung, sondern als Herausforderung: Wie umgehen mit der Sünde, die »vor der Tür lauert«?
• Ein komprimiertes Drama menschlicher Freiheit und Schuld. In Dantes Weltbild erscheint Kain als Verkörperung der zerrissenen, gegen die göttliche Ordnung rebellierenden Menschheit. Anthropologisch steht er für die Ambivalenz menschlicher Autonomie, mystisch für den Verlust der Einheit mit dem göttlichen Ursprung. Der Text wirkt als kulturelles Echo weit über seine Zeit hinaus – in Literatur, Theologie, Psychologie und Philosophie.

Vertiefte semantische Analyse

Die Lutherbibel 1912 folgt hier weitgehend der überlieferten masoretischen Texttradition, wobei der hebräische Text an einer Stelle auffällig elliptisch bleibt:
וַיֹּ֥אמֶר קַ֛יִן אֶל־הֶ֥בֶל אָחִ֖יו וַיְהִ֑י בִּהְיוֹתָם֙ בַּשָּׂדֶ֔ה וַיָּ֥קָם קַ֛יִן אֶל־הֶ֥בֶל אָחִ֖יו וַיַּהַרְגֵֽהוּ׃
»Da redete Kain mit seinem Bruder Abel« (וַיֹּ֥אמֶר קַ֛יִן אֶל־הֶ֥בֶל אָחִ֖יו) – Das hebräische Verb וַיֹּאמֶר (vajjomer) bedeutet wörtlich »er sagte«. Auffällig ist, dass im Urtext keine direkte Rede folgt. Der Satz wirkt abgebrochen. Dies führte zu unterschiedlichen Deutungen und Ergänzungen in alten Übersetzungen (z. B. Samaritanus, Septuaginta, Vulgata), die oft einen vermuteten Dialog ergänzten: »Lasst uns aufs Feld gehen.«
»Und es begab sich, da sie auf dem Felde waren« (וַיְהִ֑י בִּהְיוֹתָם֙ בַּשָּׂדֶ֔ה) – Der Ausdruck wa-jehi bihyotam basadeh zeigt eine typische narrative Wendung im Hebräischen, die eine dramatische Wendung ankündigt. Das Feld ist der Ort der Trennung von der familiären Nähe, der Kultstätte – ein Ort des Verlorenseins, der Gewalt.
»erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel« (וַיָּ֥קָם קַ֛יִן אֶל־הֶ֥בֶל אָחִ֖יו) – Das Verb קוּם (»sich erheben«) trägt eine klare aggressive Konnotation: eine plötzliche Handlung, vielleicht aus einem Hinterhalt.
»und schlug ihn tot« (וַיַּהַרְגֵֽהוּ) – Das Verb הָרַג (harag) bedeutet »töten, erschlagen« und ist das gängige Wort für Tötung, nicht notwendig ritualisiert, sondern konkret-gewalttätig.
Zwischenfazit: Der Text beschreibt keinen Kampf, sondern eine einseitige, gezielte Tat. Die Abwesenheit von Abels Stimme unterstreicht seine Rolle als Opfer – er sagt im ganzen Kapitel kein einziges Wort. Die Ellipse verstärkt das Gefühl des jähen, sprachlosen Einbruchs der Gewalt.

Tiefere theologische Deutung

Brudermord als Urbild der Gewalt
Genesis 4,8 ist nicht nur die erste Tötung in der Bibel – es ist auch ein Brudermord. Die Nähe der beiden macht die Tat besonders gravierend. Die Bibel konstruiert hier die Entstehung von Gewalt aus einem innerfamiliären Konflikt heraus: Eifersucht, Anerkennungsneid, gekränkter Stolz.
Sünde und freie Entscheidung
Im Vers davor (4,7) hat Gott Kain gewarnt: »Die Sünde lauert vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.« Kain wird somit als moralisch verantwortlicher Akteur dargestellt, der die Möglichkeit zur Beherrschung gehabt hätte – seine Schuld ist nicht bloß eine Reaktion, sondern Ausdruck des Willens zur Tat.
Gottes Schweigen in der Tatphase
Auffällig ist Gottes Schweigen während der Tat. Gott spricht vorher warnend, nachher richtend – aber nicht im Moment des Mordes. Die Theologie hat dies vielfach als Hinweis auf die menschliche Autonomie gedeutet: Die Freiheit zur Entscheidung trägt auch die Möglichkeit des Bösen in sich.
Abel als Prototyp des Unschuldigen
Abel wird im Neuen Testament (z. B. Mt 23,35; Hebr 12,24) als Typus des gerechten, unschuldig vergossenen Blutes gedeutet – eine Figur, die später mit dem leidenden Gerechten, ja sogar mit Christus selbst in Verbindung gebracht wird.

Rezeptionsgeschichtliche Vertiefung

Jüdische Auslegung
Im Midrasch wird Kains Tat häufig mit innerem Groll und Stolz erklärt. Einige Texte fügen einen fiktiven Dialog zwischen Kain und Abel hinzu, in dem es um Besitz, die Zukunft der Welt und Gottes Gerechtigkeit geht – also metaphysische Fragen, die in Streit umschlagen.
Augustinus und die Civitas terrena
Augustinus sieht in Kain und Abel die Urbilder zweier Städte: der irdischen Stadt (Civitas terrena), gegründet auf Gewalt und Selbstliebe, und der Gottesstadt (Civitas Dei), gegründet auf Liebe und Gerechtigkeit. Der Mord an Abel ist für ihn Ausdruck des Gegensatzes zwischen den Menschen, die sich Gott unterordnen, und denen, die nur sich selbst dienen.
Mystische und literarische Rezeption
Thomas von Aquin sieht im Brudermord ein Zeugnis für die Verderbtheit der menschlichen Natur nach dem Sündenfall, aber auch eine Bühne göttlicher Langmut – denn Kain wird nicht sofort getötet, sondern erhält ein Schutzzeichen.
Franz Kafka (in Der neue Advokat) greift die Geschichte von Kain als Parabel auf die Entfremdung des modernen Menschen auf.
Camus sieht in der Figur des Kain den Menschen der Revolte – der Gott nicht nur enttäuscht ist, sondern sich gegen seine Vorsehung auflehnt.
Künstlerische Darstellungen
Von Rembrandt bis Rothko wurde die Szene als Symbol innerer Zerrissenheit, Urgewalt und Schuld ausgedrückt – oft mit düsterer Farbgebung und ohne explizite Darstellung der Tötung, um den Moment des In-sich-Zusammenbruchs zu betonen.

Literarische und kulturgeschichtliche Einordnung

• Der Mord Kains an Abel ist mehr als nur ein Einzelfall innerhalb einer Erzählung – er stellt die erste dokumentierte Tat moralischer Schuld unter Menschen dar. Literarisch gesehen ist der Text auffallend nüchtern und lapidar. Der Übergang vom Gespräch zum Mord erfolgt abrupt, ohne psychologische Ausmalung oder direkte Motivation. Gerade diese Leerstelle hat Generationen von Auslegern zu Deutungen angeregt.
• Kulturgeschichtlich entfaltet die Szene ein mythisches Muster: Zwei Brüder, der eine Hirte, der andere Ackerbauer – eine Konstellation, die auf verschiedene Kulturstufen (Nomadentum vs. Sesshaftigkeit) verweisen kann. Die Ablehnung Kains Opfer durch Gott wird zur Initialzündung eines Gewaltakts, der aus tief verwurzeltem Gefühl der Zurückweisung entsteht. Damit stellt die Szene ein frühes Modell für Neid, Rivalität und religiöse Hybris dar.
• Kain ist fortan gezeichnet – nicht getötet oder verstoßen, sondern mit dem »Kainsmal« versehen. Dies zeigt die Ambivalenz zwischen Strafe und Bewahrung, Gerechtigkeit und Gnade – ein Spannungsverhältnis, das theologisch wie literarisch fruchtbar ist.

Resonanz in Dantes Divina Commedia

• In der Divina Commedia wird Kain nicht explizit ausführlich behandelt, wohl aber taucht er mehrfach als Symbolfigur auf:
• In Inferno, Canto 20 (Verse 126–129), wird auf Kain indirekt angespielt, wenn Dante von einem Mann spricht, »der das Zeichen trägt, das Kain auf der Stirn trug«. Dies steht symbolisch für Schuld, Ausgrenzung und den Fluch der Tat.
• In Inferno 32, im neunten Kreis der Hölle, begegnet Dante den Verrätern – darunter den Brudermördern. Zwar ist Kain hier nicht namentlich genannt, aber das Motiv des Brudermords bildet das innere Gerüst dieser Region der »Cocytus«, wo die schlimmsten Sünden – der Treuebruch gegenüber Familie, Vaterland, Gästen oder Herren – bestraft werden.
• Dante erwähnt Kain in der Commedia auch in einem kosmologischen Zusammenhang: Der »Mondfleck« sei laut volkstümlicher Legende das Zeichen von Kain, der dort zur Strafe ewig Holz schleppe (Paradiso 2,49–51) – eine mittelalterliche Deutung, die Mythos, Theologie und Astronomie verknüpft.
• Kain wird so zu einem Archetypus der Entfremdung von Gott, des Verrats an der Liebe, und als solcher erscheint er mehrfach als dunkles Gegenbild zum idealen Menschen.

Anthropologische und mystische Perspektiven

• Anthropologisch betrachtet markiert Kains Tat den Bruch in der Menschheitsgeschichte – den Übergang vom paradiesischen Zustand zur Existenz im Konflikt. Der Mensch ist hier nicht mehr nur Geschöpf, sondern wird Täter: autonom, frei, verantwortlich – und zugleich schuldig. Das Böse kommt nicht von außen, sondern entspringt dem Innersten menschlicher Erfahrung.
• In der Mystik (z. B. Meister Eckhart) wird das Motiv des Brudermords oft nicht historisierend, sondern symbolisch gelesen: Kain tötet das »Abel-Prinzip« im Menschen – das sanfte, gottoffene Sein. Abel wird zum Symbol der Seele, Kain zum Symbol des Ego, das diese Seele erstickt. In dieser Deutung ist die Geschichte nicht bloß moralisch, sondern existenziell: Jeder Mensch trägt beide in sich.
• Der Sufismus kennt ähnliche Konstellationen: Die Trennung von Herz und Verstand, von Gottesnähe und Selbstverhaftung, wird oft als innerer Kampf beschrieben – Kain steht in solchen Traditionen für das nafs al-ammara (das zur Sünde treibende Selbst), das die Verbindung zum göttlichen Licht unterbricht.
• Im jüdischen Midrasch sowie in der kabbalistischen Literatur wird die Geschichte um zusätzliche Dimensionen erweitert – etwa die Frage nach dem Ursprung des Bösen, nach der Rolle der Sprache, nach der Möglichkeit von Umkehr. Der Mord an Abel bleibt auch dort eine offene Wunde in der Geschichte der Menschheit – und eine Frage an jeden Einzelnen.

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