Genesis 04:07

Luther 1545 Jsts nicht also? Wenn du from bist / so bistu angeneme / Bistu aber nicht from / So ruget die Sünde fur der thür / Aber las du jr nicht jren willen / sondern herrsche vber sie.
Luther 1912 Ist's nicht also? Wenn du fromm bist, so bist du angenehm; bist du aber nicht fromm, so ruht die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.

genesis04

Parallelstellen zu Genesis (1Mose 4:7)

1Mo 4:7 Bist du aber nicht gut, so lauert die Sünde vor der Tür, und ihre Begierde ist auf dich gerichtet; du aber herrsche über sie!
Hiob 29:4 wie ich in den Tagen meines Herbstes vertrauten Umgang mit Gott bei meinem Zelte pflog;
Spr 21:27 Das Opfer der Gottlosen ist dem HERRN ein Greuel, zumal wenn man es mit Bosheit darbringt.
Heb 11:4 Durch Glauben brachte Abel Gott ein größeres Opfer dar als Kain; durch ihn erhielt er das Zeugnis, daß er gerecht sei, indem Gott über seine Gaben Zeugnis ablegte, und durch ihn redet er noch, wiewohl er gestorben ist.
1Mo 19:21 Da sprach er zu ihm: Siehe, ich habe dich auch in diesem Stück erhört, daß ich die Stadt nicht umkehre, von welcher du geredet hast.
2Sa 24:23 Alles dieses schenkt Aravna, o König, dem Könige! Und Aravna sprach zum König: Der HERR, dein Gott, sei dir gnädig!
2Kön 8:28 Und er zog mit Joram, dem Sohne Ahabs, in den Krieg wider Hasael, den König von Syrien, nach Ramot in Gilead; aber die Syrer verwundeten Joram.
Hiob 42:8 So nehmt nun sieben Farren und sieben Widder und geht zu meinem Knecht Hiob und bringt sie als Brandopfer dar für euch selbst; mein Knecht Hiob aber soll für euch bitten; denn nur seine Person will ich ansehen, daß ich gegen euch nicht nach eurer Torheit handle; denn ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Hiob.
Spr 18:5 Es ist nicht gut, wenn man die Person des Gottlosen ansieht und den Gerechten im Gericht unterdrückt.
Pred 8:12 Wenn auch ein Sünder hundertmal Böses tut und lange lebt, so weiß ich doch, daß es denen gut gehen wird, die Gott fürchten, die sich scheuen vor ihm.
Pred 8:13 Aber dem Gottlosen wird es nicht wohl ergehen, und er wird seine Tage nicht wie ein Schatten verlängern, da er sich vor Gott nicht fürchtet!
Jes 3:10 Saget den Gerechten, daß es ihnen wohl gehen wird; denn sie werden die Frucht ihrer Taten genießen.
Jes 3:11 Wehe dem Gottlosen! Ihm geht es schlecht; denn er wird den Lohn seiner Tat bekommen!
Jer 6:20 Was soll mir der Weihrauch von Saba und das köstliche Gewürzrohr aus fernem Lande? Eure Brandopfer mißfallen mir, und eure Schlachtopfer sind mir nicht angenehm.
Mal 1:8 Und wenn ihr ein blindes Tier zum Opfer bringt, ist das nichts Böses, und wenn ihr ein lahmes oder krankes darbringt, ist das auch nichts Böses? Bringe es doch deinem Statthalter! Wird er dir gnädig sein oder Rücksicht auf dich nehmen? spricht der HERR der Heerscharen.
Mal 1:10 Es schließe doch lieber gleich jemand von euch die Türen des Tempels zu, daß ihr nicht vergeblich mein Altarfeuer anzündet! Ich habe kein Wohlgefallen an euch, spricht der HERR der Heerscharen, und die Opfergabe, die von euren Händen kommt, gefällt mir nicht!
Mal 1:13 Und ihr sprecht: «Siehe, ist es auch der Mühe wert?» Und ihr verachtet ihn, spricht der HERR der Heerscharen, und bringet Geraubtes und Lahmes und Krankes herbei und bringet solches als Opfergabe dar. Sollte ich das von eurer Hand wohlgefällig annehmen? spricht der Herr.
Apg 10:35 sondern daß in allem Volk, wer ihn fürchtet und Gerechtigkeit übt, ihm angenehm ist!
Röm 2:7 denen nämlich, die mit Ausdauer im Wirken des Guten Herrlichkeit, Ehre und Unsterblichkeit erstreben, ewiges Leben;
Röm 12:1 Ich ermahne euch nun, ihr Brüder, kraft der Barmherzigkeit Gottes, daß ihr eure Leiber darbringet als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer: das sei euer vernünftiger Gottesdienst!
Röm 14:18 wer darin Christus dient, der ist Gott wohlgefällig und auch von den Menschen gebilligt.
Röm 15:16 daß ich ein Diener Jesu Christi für die Heiden sein soll, der das Evangelium Gottes priesterlich verwaltet, auf daß das Opfer der Heiden angenehm werde, geheiligt im heiligen Geist.
Eph 1:6 zum Preise der Herrlichkeit seiner Gnade, mit welcher er uns begnadigt hat in dem Geliebten;
1Tim 5:4 Hat aber eine Witwe Kinder oder Enkel, so sollen diese zuerst lernen, am eigenen Haus ihre Pflicht zu erfüllen und den Eltern Empfangenes zu vergelten; denn das ist angenehm vor Gott.
1Pet 2:5 so lasset auch ihr euch nun aufbauen als lebendige Steine zum geistlichen Hause, zum heiligen Priestertum, um geistliche Opfer zu opfern, die Gott angenehm sind durch Jesus Christus.
1Mo 4:8 Da redete Kain mit seinem Bruder Abel. Es begab sich aber, als sie auf dem Felde waren, da erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.
Röm 7:8 Da nahm aber die Sünde einen Anlaß und bewirkte durch das Verbot in mir allerlei Gelüste; denn ohne das Gesetz ist die Sünde tot.
Röm 7:9 Ich aber lebte, als ich noch ohne Gesetz war; als aber das Gesetz kam, lebte die Sünde auf;
Jak 1:15 Darnach, wenn die Lust empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod.
1Mo 3:16 Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viele Schmerzen durch häufige Empfängnis bereiten; mit Schmerzen sollst du Kinder gebären; und du sollst nach deinem Manne verlangen, er aber soll herrschen über dich!
Röm 6:12 So soll nun die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe, so daß ihr seinen Lüsten gehorchet;
Gal 5:17 Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist und den Geist wider das Fleisch; diese widerstreben einander, so daß ihr nicht tut, was ihr wollt.

Biblisches Hebräisch

הֲלוֹא אִם־תֵּיטִיב שְׂאֵת וְאִם לֹא תֵיטִיב לַפֶּתַח חַטָּאת רֹבֵץ וְאֵלֶיךָ תְּשׁוּקָתוֹ וְאַתָּה תִּמְשָׁל־בּוֹ׃
Halo’ im-teitiv śe’et, ve’im lo teitiv, la-petach ḥaṭṭa’t rovetz, ve’eleicha teshukato, ve’ata timšol-bo.
הֲלוֹא אִם־תֵּיטִיב שְׂאֵת
→ Ist es nicht so: Wenn du gut handelst (bzw. dich besserst), wirst du erhöht (wird dein Angesicht erhoben)?
– שְׂאֵת (»Erhebung«) ist hier elliptisch; es bezieht sich wahrscheinlich auf das erhobene Angesicht (vgl. Gen 4,5), als Zeichen der göttlichen Anerkennung.
וְאִם לֹא תֵיטִיב לַפֶּתַח חַטָּאת רֹבֵץ
→ Wenn du aber nicht gut handelst, lagert (lauert) die Sünde an der Tür.
– חַטָּאת (ḥaṭṭa’t) – feminin; bedeutet »Sünde«, kann auch »Sündopfer« heißen, wird hier aber personifiziert.
– רֹבֵץ (rovetz) – wörtlich: »lagert, liegt auf der Lauer« – ein Tierverb, oft gebraucht für ein lauerndes Raubtier (vgl. Gen 49,9).
וְאֵלֶיךָ תְּשׁוּקָתוֹ
→ Zu dir ist ihr Verlangen
– תְּשׁוּקָה (teshukah) – intensives, triebhaftes Begehren; auch in Gen 3,16 für Evas Verlangen nach Adam.
– הוּא ist hier latent: Das Verlangen »der Sünde« (feminin) wird mit mask. suffix -o (»sein Verlangen«) ausgedrückt – manche deuten dies als Hinweis auf eine maskuline Kraft oder Personifizierung.
וְאַתָּה תִּמְשָׁל־בּוֹ
→ Du aber sollst über sie herrschen.
– מָשַל (mashal) – »herrschen, dominieren«, auch im Kontext von Selbstbeherrschung.
– בּוֹ (»über ihn/es«) – maskulin: wieder auffällig, da ḥaṭṭa’t feminin ist.
Besonderheit: Die Verse arbeiten mit intensiver Personifikation: Die Sünde wird als eine Art dämonisches Wesen oder Trieb gezeigt, das an der Tür lauert, wie ein Raubtier – mit Begierde, aber auch bezwingbar.

Biblisches Griechisch (Septuaginta)

οὐκ εἰ ὀρθῶς προσήνεγκας, ὀρθῶς δὲ μὴ διέλῃς; ἡμάρτες, ἡσύχασον· πρὸς σὲ ἡ ἀποστροφή αὐτοῦ, καὶ σὺ ἄρξεις αὐτοῦ.
Ouk ei orthōs prosēnegkas, orthōs de mē dielēs? Hēmartes, hēsychason; pros se hē apostrophē autou, kai sy arxeis autou.
οὐκ εἰ ὀρθῶς προσήνεγκας
→ Hast du nicht richtig dargebracht?
– προσ-φέρω mit Aorist προσήνεγκας = »opfern/darbringen«.
– Die Betonung liegt auf kultischer Angemessenheit des Opfers – stärker als im MT.
ὀρθῶς δὲ μὴ διέλῃς;
→ Wenn du aber nicht richtig geteilt hast (gehandelt hast)?
– διέρχομαι kann auch »leben, wandeln« heißen. Der Sinn bleibt uneindeutig, ist aber ethisch orientiert.
ἡμάρτες, ἡσύχασον
→ Du hast gesündigt – sei still / beruhige dich.
– Imperativ ἡσύχασον ist eindrucksvoll: Eine Aufforderung zur inneren Ruhe, eventuell Buße.
πρὸς σὲ ἡ ἀποστροφή αὐτοῦ
→ Sein Verlangen (eigentlich: seine Wendung) geht zu dir.
– ἀποστροφή (»Umkehr, Hinwendung«) ist neutraler als teshukah, aber auch nicht ganz klar – kann das Begehren oder die Bewegung der Sünde meinen.
καὶ σὺ ἄρξεις αὐτοῦ
→ Und du wirst über ihn herrschen.
– ἄρχειν = herrschen, regieren; analog zu hebr. mashal.
Besonderheit: Die Septuaginta gibt keine Tiermetapher wieder; die Sünde ist abstrakter. Das Wort »ἡσύχασον« (»sei ruhig«) klingt wie ein Seelsorgerwort – fast stoisch.

Biblisches Lateinisch (Vulgata)

nonne si bene egeris, recipies: sin autem male, statim in foribus peccatum aderit? sed sub te erit appetitus eius, et tu dominaberis illius.
nonne si bene egeris, recipies
→ Wenn du gut handelst, wirst du empfangen (Annahme finden)?
– egeris (Konjunktiv Perfekt) von agere – »handeln, tun«.
– recipies – Futur: »du wirst aufnehmen/angenommen werden«, ähnlich dem hebräischen śe’et.
sin autem male, statim in foribus peccatum aderit
→ Wenn aber schlecht, so wird die Sünde sogleich an der Tür sein.
– aderit – Futur von adesse, »anwesend sein«.
– statim (»sofort«) und in foribus (»an der Tür«) geben das Bild des lauernden Wesens weiter.
sed sub te erit appetitus eius
→ Aber unter dir wird sein Verlangen sein.
– appetitus – lateinisch für triebhafte Begierde; entspricht teshukah.
– sub te – grammatisch klarer als Hebräisch: Es ist der Mensch, über dem das Verlangen liegt, das jedoch nicht obsiegen soll.
et tu dominaberis illius
→ Und du wirst über ihn herrschen.
– dominaberis (Futur) – deutlich: der Mensch ist zur Herrschaft über das »Verlangen/Sünde« befähigt.
Besonderheit: Die Vulgata ist theologisch klar und moralisch zugespitzt. Die Personifikation der Sünde bleibt angedeutet, aber die ethische Verantwortung ist deutlich formuliert – inklusive des appetitus, ein Begriff mit stoisch-augustinischem Beiklang.

Fazit

• Genesis 4,7 ist eine dichte theologische Miniatur über moralische Verantwortung und die Natur der Sünde.
• Das hebräische Original zeigt eine metaphorisch lebendige, lauernde Sünde mit einem triebhaften Verlangen.
• Die Septuaginta transformiert dies zu einer abstrakteren, fast philosophischen Szene mit Fokus auf inneres Verhalten.
• Die Vulgata übernimmt beide Dimensionen und macht sie zu einem moralisch und eschatologisch wirksamen Appell.

Vertiefte semantische Analyse

Im Kontext ist dies Gottes Rede an Kain, nachdem dessen Opfer nicht angenommen wurde. Es handelt sich um einen der rätselhaftesten und gleichzeitig theologisch reichsten Verse der gesamten Urgeschichte.
»Ist’s nicht also?«
Diese rhetorische Frage hat einen belehrenden Charakter. Gott verweist Kain auf eine Grundstruktur des sittlichen Lebens: Es gibt eine innere Ordnung, ein göttliches Gesetz der Vergeltung oder Anerkennung. Im Hebräischen steht hier «hălō im-tēṭîv se’ēt« — ein schwieriger Ausdruck, der oft mit »Wenn du recht tust, erhebst du \[dich]« übersetzt wird. »Se’ēt« kann »Erhebung«, aber auch »Ansehen« bedeuten. Die hebräische Wendung spielt auf einen inneren Zustand wie auch eine äußere Stellung an.
»Wenn du fromm bist, so bist du angenehm«
»Fromm« übersetzt hier das hebräische Wort tov, das eigentlich »gut« bedeutet. »Angenehm« spielt auf Gottes Annahme an — gemeint ist: Wenn dein Handeln gut ist, wirst du angenommen, anerkannt.
»... so ruht die Sünde vor der Tür«
Die Personifikation der Sünde ist bemerkenswert. Das hebräische Wort ḥaṭṭā’t (»Sünde«) steht hier wie ein lauerndes Tier. Das Verb rōvēṣ bedeutet »liegen«, aber auch »lauern« — wie ein Tier auf der Lauer. Die Sünde wird so zu einer externen Macht, die an der Schwelle des Menschenlebens liegt.
»Nach dir hat sie Verlangen«
Diese Formulierung spiegelt Genesis 3,16: »Und dein Verlangen wird nach deinem Mann sein« (an Eva gerichtet). Das Verlangen ist triebhaft, vereinnahmend — es geht um einen Kampf um Herrschaft. Die Sünde will den Menschen besitzen, sich seiner bemächtigen.
»Du aber herrsche über sie«
Das hebräische māšāl meint: in Autorität stehen, über etwas dominieren. Der Mensch ist nicht machtlos gegenüber der Sünde, sondern wird zur Selbstbeherrschung aufgefordert. Ein Aufruf zur inneren Regierung.

Tiefere theologische Deutung

• Genesis 4,7 entfaltet eine frühe anthropologische und soteriologische Grundstruktur biblischen Denkens:
• Freiheit und Verantwortung: Der Mensch ist handlungsfähig. Er kann sich zur Gerechtigkeit hinwenden oder der Sünde Raum geben. Gott behandelt Kain nicht deterministisch, sondern appelliert an seine Entscheidungskraft.
• Die Sünde als Macht: Sünde ist nicht bloß moralisches Fehlverhalten, sondern eine personale, fast dämonische Macht. Sie »lauert«, sie »begehrt«, sie »fordert«. Das erinnert an paulinische Kategorien, etwa in Römer 7, wo Paulus die Sünde als eine in ihm wohnende, gegen ihn kämpfende Macht beschreibt.
• Herrschaft und Kampf: Die Sünde ist nicht harmlos. Der Mensch soll sich gegen sie stellen — ein Kampf, der auf der Grenze zwischen Ethik und Spiritualität stattfindet. Dies ist kein moralischer Automatismus, sondern eine existenzielle Herausforderung.
• Frühes Evangelium? Manche christliche Ausleger sehen hier schon eine »Ur-Evangelium«, insofern Gott dem sündigen Menschen nicht den Rücken kehrt, sondern ihn zur Umkehr und zum Kampf gegen das Böse aufruft. Der Mensch bleibt adressierbar durch Gott, selbst im Anflug der Sünde.

Rezeptionsgeschichtliche Vertiefung

Jüdische Tradition:
Der Midrasch interpretiert diesen Vers oft im Zusammenhang mit dem Trieb des Bösen (yetzer ha-ra), der »vor der Tür« sitzt — eine sehr psychologisch-existenzielle Leseweise. Die Rabbinen sahen in Gottes Wort an Kain eine Ermahnung zur Selbstdisziplin und zur Einhaltung des göttlichen Weges trotz innerer Neigungen.
Kirchenväter:
Augustinus sah in diesem Vers eine frühe Darstellung der »concupiscentia«, der Begierde, die aus der Erbsünde erwächst. Dennoch bleibe der Mensch nicht passiv, sondern könne in Gnade über sie herrschen.
Martin Luther:
Luther las diesen Vers mit starkem Augenmerk auf das Verhältnis zwischen Glaube, Werk und Annahme bei Gott. Das »fromm sein« ist bei ihm weniger moralisch, sondern mehr ein Ausdruck des »rechten Glaubens« — die Ablehnung Kains Opfer daher nicht aufgrund der äußeren Handlung, sondern des fehlenden Glaubens.
Moderne Ausleger (Gerhard von Rad, Claus Westermann):
Diese sehen in Genesis 4,7 einen existenziellen Schlüsselvers zur theologischen Anthropologie. Die Sünde wird nicht mehr nur als Übertretung verstanden, sondern als bedrohliche Realität im Machtfeld des Menschen. Der Vers formuliert die Möglichkeit von moralischer Freiheit trotz Versuchung.
Psychoanalytische und existentialistische Deutung (z. B. Paul Tillich):
Der Vers wurde auch psychologisch gelesen: Die Sünde als unbewusster Impuls, als Schattenseite, die ins Bewusstsein drängt. Das »Herrschen« ist dann der Akt der Ich-Stärkung gegenüber destruktiven Impulsen.

Literarische und kulturgeschichtliche Einordnung

Der Vers ist in seiner Struktur ein dialogischer Appell Gottes an Kain, gesprochen unmittelbar vor dem ersten Brudermord der Menschheitsgeschichte. Er enthält:
Eine Bedingung und Konsequenz: Wenn du fromm bist, so bist du angenehm — eine klassische hebräische Ausdrucksform für moralische Kausalität.
Eine bildhafte Warnung: Die Sünde lauert vor der Tür, wie ein Raubtier, das bereit ist, zuzuschlagen.
Ein anthropologisches Diktum: Du aber herrsche über sie — der Mensch ist nicht Opfer seiner Begierden, sondern zur Herrschaft über sie aufgerufen.
Kulturgeschichtlich markiert dieser Vers einen Wendepunkt: Sünde ist nicht mehr bloß eine Tat, sondern ein Prinzip, eine Kraft, ein eigenständiger »Wille zur Macht«, dem der Mensch gegenübersteht. Diese Personifikation der Sünde zeigt Parallelen zu altorientalischen Dämonenvorstellungen, ist aber in ihrer ethischen Stoßrichtung zutiefst israelitisch: Nicht Fatalismus, sondern moralische Verantwortung steht im Zentrum.

Resonanz in Dantes Divina Commedia

Dante greift diesen Gedanken mehrfach auf, besonders im Inferno und Purgatorio, wo er die Bewegung der Seele zwischen Begierde, freiem Willen und göttlicher Ordnung analysiert.
• In Inferno, Canto V, beschreibt Dante, wie Lust zur alles beherrschenden Kraft wird, wenn sie nicht durch Vernunft (ratio) gezügelt wird — eine klare Entsprechung zum »Verlangen der Sünde«.
• In Purgatorio, Canto XVI, erklärt Marco Lombardo, dass der Mensch mit freiem Willen ausgestattet sei und dass »die himmlischen Einflüsse den Anstoß geben, nicht aber bestimmen« — ein direkter Widerhall des göttlichen Appells an Kain: du aber herrsche über sie.
• Im Paradiso, Canto VII, diskutiert Beatrice die Notwendigkeit der menschlichen Freiheit für das göttliche Recht und die Gerechtigkeit — wiederum eine Sublimierung der Grundstruktur von Genesis 4,7: moralische Wahl ist der Ort der Heiligung.
• In der Commedia erscheint die Sünde nicht als rein moralisches Vergehen, sondern als Unordnung des Willens. Genesis 4,7 ist damit geistiger Hintergrund für Dantes Theodizee, die den freien Willen als Grundlage aller Höllen- wie Himmelsverteilung betrachtet.

Anthropologische und mystische Perspektiven

Anthropologisch ist der Vers ein Schlüsseltext: Der Mensch ist nicht bloß Geschöpf, sondern Mitgestalter seines ethischen Schicksals. Er steht vor einem »Tor«, hinter dem die Sünde lauert — das Bild evoziert Schwellenräume: Entscheidung, Freiheit, Versuchung.
Mystisch gelesen, offenbart sich ein zutiefst dramatisches Menschenbild:
• Die Sünde ist kein bloß äußerliches Phänomen, sondern ein inwendiger Drang, der wie ein Schatten mit dem Menschen lebt — in der jüdischen Mystik später als jetzer hara (böser Trieb) ausgearbeitet.
• In der christlichen Mystik, etwa bei Johannes vom Kreuz oder Meister Eckhart, wird das Ringen mit der Begierde (concupiscentia) als Weg der »Nacht der Sinne« verstanden — die dunkle Tür, durch die der Mensch hindurchgehen muss, um zur wahren Freiheit zu gelangen.
• Die Aufforderung »du aber herrsche über sie« gleicht dem apatheia-Ideal der Wüstenväter oder der geistlichen »Überformung« des Willens in ignatianischer Tradition: Der Mensch soll zum Herrn seiner Leidenschaften werden, nicht deren Sklave.
• Zusammenfassend ist Genesis 4,7 ein Urtext der ethischen Anthropologie: Er thematisiert das Drama der menschlichen Freiheit im Angesicht der destruktiven Kräfte des Begehrens. In Dantes Divina Commedia findet dieser Gedanke eine poetisch-theologische Ausgestaltung, in der die menschliche Seele als Schauplatz moralischer Entscheidung erscheint. Mystisch gesehen eröffnet sich darin ein Weg der inneren Transformation: Durch die Tür, vor der die Sünde lauert, führt auch der Pfad zur Gnade.

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