• Luther 1545 Da sprach der HERR zu Kain / Warumb ergrimmestu? vnd warumb verstellet sich dein Geberde?
• Luther 1912 Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? und warum verstellt sich deine Gebärde?
Biblisches Hebräisch (Masoretischer Text)
וַיֹּאמֶר יְהוָה אֶל־קַיִן לָמָּה חָרָה לָךְ וְלָמָּה נָפְלוּ פָנֶיךָ׃
Vayyómer Adonai el-Qayin: Lammá ḥará lakh? Velammá nafəlú fanécha?
וַיֹּאמֶר (vayyómer): Imperfekt mit Waw-Konversiv von אמר, »er sagte«. Durch die Waw-Konversiv-Form wird das Präteritum ausgedrückt (»und er sprach«).
יְהוָה (Adonai): Der Tetragrammaton, Gottes Eigenname, wird traditionell nicht ausgesprochen; hier ersetzt durch »Adonai«.
אֶל־קַיִן (el-Qayin): Präposition el (»zu«) mit dem Namen Qayin (Kain).
לָמָּה (lammá): Zusammensetzung aus ל־ (»zu, für«) und מה (»was, warum«) → »Warum?«
חָרָה לָךְ (ḥará lakh): ḥará ist ein Verb im Perfekt Qal 3. Person mask. sg., »entbrannte (Zorn)«. Wörtlich: »Warum ist dir Zorn entbrannt?« (lakh = »dir«).
וְלָמָּה נָפְלוּ פָנֶיךָ (velammá nafəlú fanécha):
נָפְלוּ (nafəlú): Perfekt Qal 3. Pl. von naphal, »sie fielen«.
פָנֶיךָ (fanécha): »dein Gesicht« (Pluralform mit Suffix 2. Person mask. sg.).
→ »Warum sind deine Gesichtszüge gefallen?« Im Hebräischen wird der Ausdruck פָנִים נָפַל idiomatisch für Traurigkeit, Enttäuschung oder Zorn verwendet.
Zusammenfassung
Gott konfrontiert Kain direkt mit zwei Fragen: Warum ist Zorn in dir aufgestiegen (wörtlich: »entbrannt«)? Und warum ist dein Gesicht (deine Miene) gefallen? Die Struktur ist rhetorisch und seelsorgerlich zugleich – nicht anklagend, sondern aufklärend.
Biblisches Griechisch (Septuaginta)
καὶ εἶπεν κύριος τῷ Κάϊν· Ἵνα τί ἐλυπήθης, καὶ ἵνα τί συνεπεσεν τὸ πρόσωπόν σου;
Kai eipen kýrios tō Kaïn: Hína tí elypḗthēs, kai hína tí synepésen to prósōpón sou?
καὶ εἶπεν (kai eipen): Aorist von λέγω, »er sprach«.
κύριος (kýrios): Übersetzung des Gottesnamens JHWH, traditionell mit »Herr«.
τῷ Κάϊν (tō Kaïn): Dativform – »zu Kain«.
Ἵνα τί (hína tí): Wörtlich »damit was?« – in klassischem Griechisch wäre διὰ τί üblicher für »warum«, doch die Septuaginta verwendet hier ἵνα τί, was aus dem Hebräischen למה wörtlich übernommen ist.
ἐλυπήθης (elypḗthēs): Aorist Passiv 2. Person Singular von λυπέω, »traurig sein, betrübt werden«. Wörtlich: »Warum wurdest du betrübt?«
καὶ ἵνα τί συνεπεσεν (kai hína tí synepésen):
συνεπεσεν ist Aorist Aktiv von συμπίπτω, »zusammenfallen, niedersinken«.
τὸ πρόσωπόν σου (to prósōpón sou): »dein Gesicht« – wörtlich wie im Hebräischen.
Bemerkung
Die Septuaginta interpretiert ḥará lakh (Zornglut) bereits als λύπη (Traurigkeit), was psychologisch ein weicheres Bild ergibt: Nicht der Zorn, sondern die Betrübnis steht im Vordergrund. Auch die Wortwahl »synépesen to prósōpon« vermittelt eine bildhafte Darstellung der niedergeschlagenen Miene.
Biblisches Latein (Vulgata)
Dixitque Dominus ad Cain: Quare iratus es? et cur concidit vultus tuus?
Dixitque (dixit + -que): Perfekt von dicere, »er sagte«, + Enklitikon -que, »und«.
Dominus: Übersetzung von JHWH mit »der Herr«.
ad Cain: »zu Kain« – wörtlich.
Quare iratus es?
quare = »warum« (aus qua re = »aus welchem Grund?«).
iratus es = »bist du zornig« – Perfektform von irascor, »zornig sein«.
et cur concidit vultus tuus?
cur = alternative Form für »warum?«
concidit = Perfekt von concidere, »zusammenfallen, niederfallen«.
vultus tuus = »dein Gesicht« (wörtlich: »dein Antlitz«).
Bemerkung
Die Vulgata vermittelt im Stil der klassischen römischen Rhetorik eine ähnliche Bildsprache wie der hebräische Text: »Warum bist du zornig?« und »Warum ist dein Antlitz gefallen?« Das Verb concidit ist dramatischer als das griechische synépesen, fast körperlich-massiv.
Theologische und rhetorische Beobachtung:
Alle drei Textversionen behalten die Doppelstruktur der göttlichen Rede bei:
1. Innere Reaktion (Zorn/Traurigkeit)
2. Äußere Erscheinung (veränderte Miene)
Die hebräische Version betont dabei besonders den Zorn als aktives Gefühl, während die griechische Fassung einen eher passiven, leidenden Zustand (Betrübnis) zeigt. Die lateinische Vulgata balanciert zwischen beiden – Zorn und äußerem Ausdruck sind sprachlich präzise voneinander getrennt, rhetorisch pointiert und theologisch offen gehalten.
Wenn du möchtest, kann ich auch die stilistische Wirkung dieser Varianten im Kontext der biblischen Anthropologie oder Ethik weiter vertiefen.
Vertiefte semantische Analyse
Die Formulierung in der Lutherbibel 1912 ist von dichter archaischer Sprache geprägt. Zwei Elemente sind zentral:
»Warum ergrimmst du?«
Das Verb ergimmen (verwandt mit »grimmen«) deutet auf eine tiefsitzende, brodelnde Wut, eine unkontrollierte innere Bewegung. Es geht nicht um bloßen Ärger, sondern um eine emotionale Verfassung, die auf einen bevorstehenden Ausbruch zielt. Im Hebräischen steht hier das Verb חָרָה (chārā), das »brennen«, »entbrennen« bedeutet – meist im Sinne von glühendem Zorn.
»Warum verstellt sich deine Gebärde?«
Wörtlich übersetzt aus dem Hebräischen: »Und warum ist dein Gesicht gefallen?« (וְלָמָּה נָפְלוּ פָנֶיךָ – wĕ-lāmmāh nāpĕlû pānêkā).
»Verstellen« meint bei Luther hier nicht Täuschung, sondern Veränderung: eine Mimik, die durch die innere Haltung – Zorn, Neid, Enttäuschung – entstellt oder schwer geworden ist. Das »Gesicht fallen lassen« ist ein idiomatischer Ausdruck für Trauer, Scham oder Trotz – eine äußere Manifestation innerer Krise.
Tiefere theologische Deutung
Diese göttliche Frage ist kein Tadel, sondern ein göttliches Innehalten, ein Ruf zur Besinnung. Gott konfrontiert Kain nicht sofort mit Schuld, sondern mit einer Selbsterkenntnisforderung: Warum tobst du? Warum zeigt dein Gesicht eine finstere Wandlung? – Es ist eine Einladung zur Reflexion, nicht zur Verurteilung.
Theologisch kann man diese Stelle als ersten pädagogischen Akt Gottes im Kontext der Sünde deuten. Noch ist nichts geschehen – Kain hat Abel nicht getötet. Gott begegnet Kain im Moment der inneren Versuchung, der gärenden Affekte. Das macht diesen Vers zu einem dramatischen Wendepunkt im biblischen Ethos:
Der Mensch ist zur Entscheidung berufen.
Die Sünde ist keine deterministische Kraft, sondern steht in einem dialogischen Verhältnis zum Willen.
Gottes Frage zielt auf die Möglichkeit der Umkehr. Die Verantwortung wird nicht externalisiert (wie bei Adam), sondern bewusst gemacht.
Manche jüdische Ausleger sehen darin auch einen Akt göttlicher Geduld – Gott begegnet dem enttäuschten Menschen mit einer Frage, nicht mit einem Urteil.
Rezeptionsgeschichtliche Vertiefung
Jüdische Tradition:
In der rabbinischen Literatur wird oft betont, dass Gott Kain nicht verwirft, sondern ihn in das Gespräch ruft. Midraschim deuten diesen Vers als Ausdruck von Gottes Mitleid mit Kain, der an sich selbst zerbricht. Die "gefallene Gebärde" wird als psychischer Zustand des Zorns, aber auch der Verzweiflung verstanden – ein Vorzeichen des kommenden Brudermords.
Frühe Kirche:
Bei den Kirchenvätern (z. B. Augustinus) wird Kains Reaktion als Beispiel für den superbia (Hochmut) gesehen. Nicht die Zurückweisung seiner Opfergabe ist das Problem, sondern sein Stolz, der keine Korrektur zulassen will. Der gefallene Blick symbolisiert die innere Abkehr von Gott.
Reformatorische Deutung:
Martin Luther selbst betont in seinen Genesisvorlesungen (1535–1545), dass Kain nicht »aus Glauben« opfere und deshalb innerlich leer bleibe. Für Luther ist die »verstellte Gebärde« das Zeichen eines Herzens ohne Vertrauen. Gottes Frage wird bei ihm zur Verdeutlichung der Rechtfertigungslehre: nicht das Werk zählt, sondern der Glaube, aus dem es kommt.
Moderne Auslegung:
Psychologisch und existenziell wird der Vers häufig im Sinne einer Anthropologie des Affekts gelesen. Kain steht für den Menschen, der mit Ablehnung, Rivalität und Neid nicht umgehen kann – und daran zerbricht, weil er nicht reflektiert. Die göttliche Frage wird zur frühen Stimme des Gewissens – eine Warnung, die nicht moralisch straft, sondern seelsorgerlich aufruft.
Fazit
Genesis 4,6 ist ein dichter Vers, in dem Gottes Sprache nicht verurteilend, sondern fragend auftritt – als Einladung zur Selbsterkenntnis und freien Entscheidung. Die semantische Tiefe der Begriffe »Ergrimmen« und »verstellte Gebärde« verweist auf das innere Drama menschlicher Emotionalität. Die theologische und rezeptionsgeschichtliche Tradition sieht in diesem Vers den Beginn einer Ethik der Verantwortung, eines göttlichen Rufes, der im Moment der inneren Zerrissenheit nicht schweigt, sondern spricht.
Literarische und kulturgeschichtliche Einordnung
• Der Vers gehört zum sogenannten Kain-und-Abel-Narrativ (Gen 4,1–16), das als eine der frühesten Erzählungen über Gewalt, Schuld, göttliche Anrede und die Folgen menschlichen Handelns gilt. Literarisch gesehen folgt der Text einer dramatischen Struktur: Opferung – göttliche Reaktion – Zorn – göttliche Warnung – Tat – Strafe – Gnade.
• Der Vers 6 markiert dabei eine intradiegetische Unterbrechung, eine Art göttlicher Intervention vor dem dramatischen Höhepunkt (dem Mord). Er gehört zu den seltenen Stellen, an denen Gott in einer fast sokratischen Weise Fragen stellt, die auf Selbsterkenntnis des Menschen zielen. Die Frage nach dem "Zorn" und dem "verstellten Angesicht" eröffnet eine anthropologische Tiefenstruktur: Der Mensch ist innerlich zerrissen – er trägt sein inneres Unrecht in seiner Miene, bevor er es mit der Hand begeht.
• Kulturgeschichtlich ist dieser Moment eine Urszene moralischer Verfehlung, die in vielen Traditionen nachhallt: die Unfähigkeit, den eigenen Neid, die narzisstische Kränkung und den Schmerz über Ablehnung zu sublimieren.
Resonanz in Dantes Divina Commedia
• In Dantes Divina Commedia findet die Kain-Geschichte mehrfach Widerhall – explizit und strukturell-symbolisch.
• In der Inferno, besonders im 34. Gesang, begegnen wir dem Zentrum der Hölle, in dem die größten Verräter bestraft werden. Hier nennt Dante Kain zwar nicht namentlich, aber der Geist des Brudermordes lebt in den dort Verurteilten (z. B. Judas, Brutus). Kain steht sinnbildlich für den ersten, ursprünglichen Verrat an der menschlichen Gemeinschaft.
• Im Purgatorio, Canto XIV, wird Kain direkt erwähnt: Er trägt als Büßer auf der Stirn ein Zeichen, das an seine Tat erinnert – ein Memento culpae. Damit spiegelt Dante die Tradition, wonach Kain nach dem Mord gezeichnet wurde, nicht nur körperlich, sondern geistlich: als Urbild des Getrennten, des Entstellten, dessen »Gebärde sich verstellt«.
• Im Sinne der mittelalterlichen Allegorese steht Kain für die Superbia, den Hochmut, der durch Kränkung zur Todsünde wird. Seine Geschichte wird damit zur Vorform dessen, was Dante als Absturz durch die sieben Todsünden beschreibt.
Anthropologische und mystische Perspektiven
• Anthropologisch zeigt der Vers, dass der Mensch nicht nur handelndes, sondern zutiefst reaktives Wesen ist. Gott spricht nicht im Moment der Tat, sondern davor – was auf eine theologische Konzeption von Freiheit hindeutet. Der Mensch ist nicht determiniert; selbst im Moment innerer Erhitzung bleibt ihm das Du, das göttliche Gegenüber, das ihn fragt.
• Die Gebärde (panim im Hebräischen) verweist auf die Gesichtsverzerrung, das äußerlich sichtbare Zeichen eines inneren Konflikts. Die Mystik – etwa bei Meister Eckhart – deutet solche Momente als Zuspitzung innerer Trennung vom göttlichen Ursprung. Der »verstellte Blick« wird zum Symbol für die Abwendung von der göttlichen Klarheit. In der Theologia Deutsch oder bei Johannes vom Kreuz steht der innere Zorn als Ausdruck der »ungelichteten Seele«, der Dunkelheit des Herzens.
• Im Sufismus ließe sich eine Parallele ziehen zum Konzept des nafs al-ammāra – des niederen Selbst, das zum Bösen drängt. Auch dort gibt es Momente, in denen der Mensch vor der Tat zur Besinnung gerufen wird, und das Gottesbild ist eines, das warnt, nicht verurteilt.
Zusammenfassend
Genesis 4,6 ist ein Schlüsselvers zur Deutung menschlicher Affekte, göttlicher Pädagogik und innerer Freiheit. In Dantes Commedia wirkt er durch Symbolik, Allegorie und Kontrast weiter, insbesondere in der Darstellung des Falls durch Zorn, Neid und Verrat. Die mystische Deutung erkennt darin die Tragik des Menschen, der seine Gottunmittelbarkeit durch ein inneres Verkrümmen verliert – und dessen Angesicht, als Spiegel der Seele, das erste Zeugnis des kommenden Falls ist.