• Luther 1545 ES begab sich aber nach etlichen tagen / das Kain dem HERRN Opffer bracht von den Früchten des feldes /
• Luther 1912 Es begab sich nach etlicher Zeit, daß Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes;
Biblisches Hebräisch
וַיְהִי מִקֵּץ יָמִים וַיָּבֵא קַיִן מִפְּרִי הָאֲדָמָה מִנְחָה לַיהוָה
Vajhi miqēṣ jāmīm vajjāvē’ Qajin miprî hā’adāmāh minḥāh laJHWH
וַיְהִי (vajhi) – Und es geschah:
klassischer narrativer Imperfekt mit Waw-consecutivum; typisch für biblische Erzähltexte.
מִקֵּץ יָמִים (miqēṣ jāmīm) – nach Ablauf von Tagen:
idiomatische Wendung, die unbestimmt eine gewisse Zeitspanne andeutet, nicht notwendig lange Zeit.
וַיָּבֵא (vajjāvē’) – und er brachte:
Imperfekt mit Waw-consecutivum, wie bei וַיְהִי.
קַיִן (Qajin) – Eigenname Kain.
מִפְּרִי הָאֲדָמָה (miprî hā’adāmāh) – von der Frucht des Erdbodens:
prî (Frucht) im Kollektiv, hā’adāmāh betont die Verbindung zum Ackerboden.
מִנְחָה (minḥāh) – Opfergabe, Darbringung:
häufig nicht-blutiges Opfer, auch als Zeichen der Huldigung oder Dankbarkeit.
לַיהוָה (laJHWH) – dem HERRN:
Dativform; Gottesname in Tetragrammform, ungesprochen als Adonai tradiert.
Exegetische Beobachtungen:
• Das Wort minḥāh ist bedeutungsvoll: Es bezeichnet nicht notwendigerweise ein Sühneopfer, sondern eine Gabenopfergabe. Das legt nahe, dass es Kain um Huldigung ging, aber ohne klare Betonung der inneren Haltung.
• Die Zeitangabe miqēṣ jāmīm lässt offen, ob dies ein festgesetzter Opferzeitpunkt war oder ein individueller Entschluss Kains.
• miprî hā’adāmāh hebt hervor, dass Kains Gabe aus seiner beruflichen Sphäre stammt – dem Ackerbau –, im Unterschied zu Abels Tieropfer.
Biblisches Griechisch (Septuaginta)
Καὶ ἐγένετο μετὰ ἡμέρας, προσήνεγκεν Κάιν ἀπὸ τῶν καρπῶν τῆς γῆς θυσίαν τῷ κυρίῳ.
Kai egeneto meta hēmeras, prosēnenken Kain apo tōn karpōn tēs gēs thysian tō Kyriō.
Καὶ ἐγένετο (kai egeneto) – Und es geschah:
typische Erzählformel im Aorist, wie im Hebräischen.
μετὰ ἡμέρας (meta hēmeras) – nach Tagen:
ähnlich wie miqēṣ jāmīm, aber etwas unspezifischer; kein Genitiv.
προσήνεγκεν (prosēnenken) – er brachte dar:
Aorist von prospherō, klassisches Verb für kultisches Darbringen.
ἀπὸ τῶν καρπῶν τῆς γῆς (apo tōn karpōn tēs gēs) – von den Früchten der Erde:
karpoi entspricht prî, gē dem ’adāmāh; Plural unterstreicht Vielfältigkeit.
θυσίαν (thysian) – Opfer:
allgemeiner Begriff für Opfergabe, kann sowohl blutige als auch unblutige Opfer bezeichnen, hier wohl analog zu minḥāh.
τῷ κυρίῳ (tō Kyriō) – dem Herrn:
Standardbezeichnung für JHWH in der LXX (Kyrios als Reverenzform).
Exegetische Beobachtungen:
• Die Septuaginta gibt den Sinn des hebräischen minḥāh relativ weit mit thysia wieder – dadurch wird die Art des Opfers nicht näher bestimmt.
• Die Übersetzung ist formal sehr nah am Hebräischen, bleibt aber in der Idiomatik griechisch verständlich.
• Die Septuaginta übernimmt die kultische Begrifflichkeit, ohne psychologische Bewertung: keine Aussage über Qualität oder Akzeptanz des Opfers.
Biblisches Lateinisch (Vulgata)
Factum est autem post multos dies ut offerret Cain de fructibus terrae munera Domino.
Factum est autem (factum est autem) – Es geschah aber:
klassisch-lateinische Formulierung für narrative Übergänge.
post multos dies – nach vielen Tagen:
deutlicher als das Hebräische (miqēṣ jāmīm) – multi legt längeren Zeitraum nahe.
ut offerret Cain – dass Kain darbrachte:
ut + Konjunktiv Imperfekt gibt einen konsekutiven Zusammenhang.
de fructibus terrae – von den Früchten der Erde:
wie in LXX, allerdings mit de als Ablativus separativus.
munera Domino – Gaben dem Herrn:
munera ist das übliche lateinische Wort für Geschenke, Ehrengaben, auch Opfer. Nicht technisch für Sühneopfer.
Exegetische Beobachtungen:
• munera betont die Gabe als Huldigung oder höfische Zuwendung; möglicherweise weniger kultisch als thysia oder minḥāh.
• Die Umschreibung post multos dies interpretiert den hebräischen Ausdruck als lange Zeit – dies ist bereits eine interpretierende Tendenz.
• Das Verb offerret im Konjunktiv bildet ein temporales Gefüge im abhängigen Satz: Der Fokus liegt auf dem Ereignis, nicht auf der Bewertung.
Zusammenfassung der Befunde
• Hebräisch hebt mit minḥāh die kultische und innere Haltung hervor, bleibt aber in der Zeitangabe vage.
• Griechisch (LXX) bleibt semantisch eng am Hebräischen, ist aber offener in der Opferbezeichnung (thysia).
• Lateinisch (Vulgata) interpretiert vorsichtig mit post multos dies und munera, betont also mehr die soziale Geste als das kultische Opfer.
Vertiefte semantische Analyse
Der Satz gliedert sich in zwei wesentliche Teilsätze:
Es begab sich nach etlicher Zeit
– Der Ausdruck es begab sich (hebräisch wayehî) hat im biblischen Hebräisch häufig eine narrative Funktion: Es eröffnet eine neue Szene. Nach etlicher Zeit (miqqēṣ yāmîm) bedeutet wörtlich nach Ablauf von Tagen, was idiomatisch eine unbestimmte, aber bedeutsame Zeitspanne meint – nicht bloß irgendwann später, sondern eher eine durch Zeit oder zyklischen Rhythmus (z.B. Erntezeit) markierte Phase.
daß Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes
– Kain: Der Erstgeborene Adams und Evas, sein Name wird mit Erwerb oder Erzeugung assoziiert (qānîṯî – ich habe einen Mann erworben).
– Opfer (minḥāh): Das hebräische Wort meint hier eine Gabe, typischerweise ein vegetabilisches Opfer. Es impliziert keine Sühnehandlung, sondern eine Darbringung, die Dank, Huldigung oder Verehrung ausdrückt.
– von den Früchten des Feldes: Die Formulierung lässt offen, ob es sich um die besten Früchte handelt – was im Kontrast zu Abels Opfer (Vers 4: die Erstlinge seiner Herde und ihr Fett) später an Bedeutung gewinnt. Die Semantik weist auf das Verhältnis von Mensch zu Schöpfung und auf die Qualität der Gabe hin.
Tiefere theologische Deutung
Das Opfermotiv im Urtext:
Kain bringt ein Opfer von den Früchten des Feldes. Als Ackerbauer bringt er, was seiner Tätigkeit entspricht. An sich ist daran nichts Makelhaftes. Doch der nachfolgende Vers (4,4) und die Reaktion Gottes (4,5) legen nahe, dass nicht das Opfermaterial allein, sondern die innere Haltung des Opfernden mitgewertet wird.
Fehlende Hervorhebung der Qualität:
Während bei Abel ausdrücklich von Erstlingen und Fett (d.h. dem Besten) die Rede ist, fehlt bei Kain jeder Hinweis auf Auswahl oder Hingabequalität. Theologisch wird das von der jüdisch-christlichen Tradition häufig als Hinweis auf ein unvollkommenes Herz gedeutet. Die Opferhandlung ist äußerlich, aber ohne Herzensfrömmigkeit.
Opfer und Beziehung:
Im biblischen Verständnis ist das Opfer kein Automatismus zur Erwirkung göttlicher Gunst, sondern Ausdruck einer Beziehung: Es manifestiert Dankbarkeit, Demut, Anerkennung der göttlichen Ordnung. Der Text lässt durch die lakonische Kürze offen, ob Kain diese Dimension verstanden hat.
Ein symbolischer Wendepunkt:
Dieser Vers steht am Beginn einer folgenreichen Erzählung: Kains Opfer wird abgelehnt, was Neid und schließlich Brudermord auslöst. Damit wird die Frage nach der rechten Gottesbeziehung, nach Glaube und Haltung, ins Zentrum der anthropologischen Erzählung gestellt.
Rezeptionsgeschichtliche Vertiefung
Frühjüdische Auslegung (z.B. Midrasch, Philo):
– Der Midrasch betont oft, dass Kain zwar Opfer bringt, aber geizig sei – er habe minderwertige Gaben gewählt.
– Philo von Alexandria interpretiert Kain allegorisch als Symbol für den fleischlichen, selbstbezogenen Menschen, Abel hingegen als den geistlich gesinnten. Kains Opfer ist daher formal, ohne geistige Tiefe.
Frühe Christenheit und Kirchenväter:
– Augustinus sieht in Kains Opfer ein Beispiel für opera sine fide – Werke ohne Glauben.
– Hieronymus und Chrysostomos betonen den Unterschied zwischen innerer Gesinnung und äußerer Tat.
– In der Hebräerbrief-Tradition (Hebr 11,4) wird Abel als Vorbild des Glaubens präsentiert – sein Opfer sei durch Glauben besser gewesen als das Kains.
Reformation:
– Martin Luther betont im Zusammenhang der Werke und des Glaubens (etwa in seinen Römerbrief-Vorlesungen), dass Kains Opfer durch das Herz verdorben sei. Er unterscheidet scharf zwischen dem äußeren Werk und der inneren Glaubenshaltung – eine Linie, die sich durch seine Theologie zieht.
Moderne Auslegung:
– In der modernen Bibelwissenschaft wird auch beachtet, dass Kains Opfer womöglich auf einem älteren Opferkult beruht, der in späteren Priesterschriften zugunsten des Tieropfers (wie bei Abel) abgewertet wurde.
– Manche Deutungen (z.B. Girards mimetische Theorie) betonen die soziale Dynamik und den Neid als anthropologische Konstante – das Opfer als Katalysator für Gewalt.
Zusammenfassung
• Genesis 4,3 wirkt zunächst wie ein harmloser Bericht: Kain opfert dem HERRN. Doch unter der sprachlichen Oberfläche verbergen sich Spannungen. Die Zeitangabe schafft Bedeutungsschwere – es geschieht nicht zufällig, sondern im Lauf des menschlichen Daseins. Das Opfer wirkt formal, aber nicht innig. Es fehlt der Hinweis auf Qualität, Hingabe oder innere Haltung. Die Erzählung vergleicht nicht bloß Frucht und Fleisch, sondern Glaube und Herz.
• In der Rezeption wird Kain zum Archetyp des Menschen, der zwar religiös handelt, aber ohne echte Beziehung zu Gott. Sein Opfer steht am Anfang eines Abgrunds – nicht, weil es unrein ist, sondern weil es leer ist. Die Deutungsgeschichte erkennt darin eine frühe, fundamentale Unterscheidung zwischen äußeren religiösen Akten und innerer Wahrheit. Genesis 4,3 markiert so den Beginn einer Erzählung über Neid, Opfer, Beziehung und den Weg des Menschen zu oder von Gott.
• Ein scheinbar schlichter Vers, der jedoch in literarischer, kulturgeschichtlicher und theologischer Hinsicht vielschichtig ist. In diesem Vers kulminieren archaische Vorstellungen von Religion, Schuld und göttlichem Wohlgefallen, die weit über das unmittelbare biblische Geschehen hinausreichen. Im Folgenden eine vertiefende Betrachtung in vier Dimensionen:
Literarische und kulturgeschichtliche Einordnung
• Der Vers markiert den Beginn eines archetypischen Bruderkonflikts, der eine zentrale Rolle in der Mythopoetik des Alten Testaments spielt. Kains Opfer – von den Früchten des Feldes – wird in späterer Auslegung oft kontrastiert mit dem blutigen Opfer seines Bruders Abel. Bereits hier beginnt ein kultureller Diskurs über die Art des rechten Opfers: Ackerbau (Kain) versus Viehzucht (Abel). In vorisraelitischer Kultur war das Opfer nicht nur religiöser Akt, sondern auch ein sozial strukturierendes Element. Die Unterscheidung zwischen pflanzlichem und tierischem Opfer verweist auf unterschiedliche ökonomische und existentielle Grundhaltungen: Sesshaftigkeit und Kontrolle (Kain) gegen nomadische Abhängigkeit und Hingabe (Abel).
• Literarisch beginnt mit diesem Vers eine der ersten narrativen Miniaturen der Bibel, in der Themen wie Eifersucht, Anerkennung, göttliche Gunst und Gewalt in dichter Verdichtung aufscheinen. Die Andeutung – nach etlicher Zeit – wirkt wie eine epische Eröffnung: Der Rhythmus des Alltags (Erntezeit) wird zum Schauplatz eines kosmischen Dramas.
Resonanz in Dantes Divina Commedia
• Dante erwähnt Kain in der Divina Commedia mehrmals – vor allem als Urbild des Neids und der brudermörderischen Selbstverwerfung. Besonders eindrücklich erscheint Kain im Purgatorio (Canto XIV, V. 133ff), wo auf der Stirn der Neidischen eine Gestalt erscheint, die an die Strafe Kains erinnert. Auch im Inferno (Canto XX, V. 126) wird Kain angedeutet, wenn Dante über den Landstrich, wo Kain haust spricht – gemeint ist das Tal Enoc, das mit Sünde und Exil konnotiert ist.
• Die Vorstellung, dass Kains Opfer nicht angenommen wurde, evoziert bei Dante die zentrale Thematik der grazia – des göttlichen Wohlwollens – und die damit verbundene Unsicherheit des Menschen vor dem unergründlichen Urteil Gottes. In der Commedia ist dies kein theologisches Detail, sondern das existenzielle Drama der Seele: Wer bin ich vor Gott, und warum wird der eine bevorzugt, der andere verworfen?
Anthropologische und mystische Perspektiven
• Anthropologisch steht Kain am Beginn der Kultur: als Ackerbauer, Stadtgründer, Werkzeugmacher. Sein Opfer verweist auf die Frühgeschichte des Menschen, der sich von der Wildnis trennt und Ordnung schafft – aber zugleich Schuld auf sich lädt. Der Opferakt ist hier keine harmlose Geste, sondern Ausdruck eines inneren Drangs nach Anerkennung, nach Gesehenwerden durch das Göttliche. In Kains Gabe liegt bereits ein Begehren, das zum Bruch führt.
• Mystisch gelesen – etwa im Sinne Meister Eckharts oder Johannes vom Kreuz – ist das Opfer nicht als äußerer Akt wesentlich, sondern als innere Haltung. Kains Fehler wäre dann nicht die Art des Opfers, sondern sein Mangel an Gelassenheit, an radikaler Selbsthingabe. In dieser Perspektive hat Gott keine Vorlieben für Früchte oder Fleisch, sondern sieht das Herz an (vgl. 1 Sam 16,7). Kains Verhaftung im Werk, im Sichtbaren, im Ich bringe etwas, würde ihn von der reinen mystischen Armut entfernen.
Schlussgedanke
Genesis 4,3 ist weit mehr als ein historischer Bericht über ein Opfer. Es ist ein Spiegel frühmenschlicher Seelenlage: das Bedürfnis, durch Leistung geliebt zu werden – und der Absturz in Gewalt, wenn dieses Bedürfnis unerfüllt bleibt. In der Divina Commedia lebt diese Spannung in transformierter Form weiter: Kain als Bild des Neids, der sich selbst aus dem Paradies der göttlichen Ordnung ausschließt. Mystisch gewendet, steht der Vers als Mahnung, dass kein äußerer Akt Gott näherbringt – sondern nur das durchlichtete Herz.