Genesis 03:22

Luther 1545 VND Gott der HERR sprach / Sihe / Adam ist worden als vnser einer / vnd weis was gut vnd böse ist / Nu aber / das er nicht ausstrecke seine hand / vnd breche auch von dem Bawm des Lebens / vnd esse vnd lebe ewiglich.
Luther 1912 Und Gott der HERR sprach: Siehe, Adam ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, daß er nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich!

genesis 3

Parallelstellen zu Genesis (1Mose) 3:22

1Mo 3:22 Und Gott der HERR sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner, insofern er weiß, was gut und böse ist; nun soll er nicht auch noch seine Hand ausstrecken und vom Baume des Lebens nehmen und essen und ewiglich leben!
1Mo 1:26 Und Gott sprach: Wir wollen Menschen machen nach unserm Bild uns ähnlich; die sollen herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel des Himmels und über das Vieh auf der ganzen Erde, auch über alles, was auf Erden kriecht!
1Mo 3:5 Sondern Gott weiß: welchen Tages ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.
1Mo 11:6 Und der HERR sprach: Siehe, es ist nur ein einziges Volk, und sie sprechen alle nur eine Sprache, und dies ist der Anfang ihres Unternehmens! Nun wird es ihnen nicht unmöglich sein, alles auszuführen, was sie sich vorgenommen haben.
1Mo 11:7 Wohlan, laßt uns hinabfahren und daselbst ihre Sprache verwirren, daß keiner des andern Sprache verstehe!
Jes 19:12 Wo sind denn deine Weisen? Sie sollen dir doch anzeigen und kundtun, was der HERR der Heerscharen über Ägypten beschlossen hat!
Jes 19:13 Die Fürsten von Zoan sind zu Narren geworden, getäuscht sind die Fürsten zu Noph; es haben Ägypten irregeführt die Ecksteine seiner Stämme.
Jes 47:12 Tritt doch hin mit deinen Beschwörungen und mit der Menge deiner Zaubereien, womit du dich von Jugend auf abgemüht hast! Vielleicht vermagst du zu helfen; vielleicht flößest du Schrecken ein.
Jes 47:13 Du bist müde geworden von der Menge deiner Beratungen. So laß nun herzutreten und dich retten, die den Himmel einteilen, die Sternseher, die alle Neumonde kundtun, was über dich kommen soll!
Jer 22:23 Die du jetzt auf dem Libanon wohnst und auf Zedernbäumen nistest, wie wirst du stöhnen, wenn dich Wehen ankommen werden, Krämpfe wie eine, die gebären soll!
Ps 22:26 Die Elenden sollen essen und satt werden; die den HERRN suchen, werden ihn preisen; euer Herz soll ewiglich leben!
Joh 6:48 Ich bin das Brot des Lebens.
1Mo 2:9 Und Gott der HERR ließ allerlei Bäume aus der Erde hervorsprossen, lieblich anzusehen und gut zur Nahrung, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.
Spr 3:18 Sie ist ein Baum des Lebens denen, die sie ergreifen; und wer sie festhält, ist glücklich zu preisen.
Off 2:7 Wer ein Ohr hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt: Wer überwindet, dem will ich zu essen geben von dem Baum des Lebens, welcher im Paradiese Gottes ist.
Off 22:2 und inmitten ihrer Straßen und zu beiden Seiten des Stromes den Baum des Lebens, der zwölfmal Früchte trägt und jeden Monat seine Frucht gibt; und die Blätter des Baumes dienen zur Heilung der Völker.

Biblisches Hebräisch

וַיֹּאמֶר יְהוָה אֱלֹהִים הֵן הָאָדָם הָיָה כְּאַחַד מִמֶּנּוּ לָדַעַת טוֹב וָרָע וְעַתָּה פֶּן־יִשְׁלַח יָדוֹ וְלָקַח גַּם מֵעֵץ הַחַיִּים וְאָכַל וָחַי לְעֹלָם׃
Vajomer Adonai Elohim: Hen ha'adam haya k'echad mimennu ladaʿat tov vara. Ve'atta pen yishlach yado velaqach gam me‘ets hachayim ve'achal vachai le‘olam.
וַיֹּאמֶר יְהוָה אֱלֹהִים – »Und Jahwe Elohim sprach«
– JHWH als Tetragramm, Elohim pluralische Form, aber mit Singularverb, verweist auf Majestät oder Plural der Fülle.
הֵן הָאָדָם הָיָה כְּאַחַד מִמֶּנּוּ – »Siehe, der Mensch ist geworden wie einer von uns«
– hen = »siehe!« (Interjektion der Aufmerksamkeit)
– ka'echad mimmennu – »wie einer von uns«: Ausdruck einer göttlichen Pluralität, oft als Pluralis majestatis gedeutet oder als himmlischer Hofstaat.
לָדַעַת טוֹב וָרָע – »um Gut und Böse zu erkennen«
– ladaʿat = Infinitiv konstrukt »(um zu) erkennen«
– tov vara = Gegensatzpaar, ethisch-moralische Erkenntnis.
וְעַתָּה פֶּן־יִשְׁלַח יָדוֹ – »und nun, damit er nicht seine Hand ausstrecke«
– pen = Warnung: »damit nicht«, »auf dass nicht«
– yishlach yado = »seine Hand ausstrecke«: Volitionaler Jussiv.
וְלָקַח גַּם מֵעֵץ הַחַיִּים – »und nehme auch vom Baum des Lebens«
– gam = »auch« – betont die zusätzliche Gefahr.
וְאָכַל וָחַי לְעֹלָם – »und esse und lebe ewiglich«
– Asyndetisch: achal...vachai – dramatische Steigerung.
– le‘olam = »für immer« – Ausdruck der Ewigkeit.
Bemerkung:
Die Syntax ist bewusst spannungsgeladen: keine abschließende Strafe, sondern ein präventives Eingreifen Gottes. Die offene Konstruktion mit dem ausbleibenden Hauptsatz nach »pen...« suggeriert unterbrochenes Denken, als handle Gott spontan in Sorge.

Biblisches Griechisch (Septuaginta)

Καὶ εἶπεν Κύριος ὁ Θεός· Ἰδοὺ Ἀδὰμ γέγονεν ὡς εἷς ἐξ ἡμῶν τοῦ γινώσκειν καλὸν καὶ πονηρόν· νῦν δὴ μήποτε ἐκτείνῃ τὴν χεῖρα αὐτοῦ καὶ λάβῃ ἀπὸ τοῦ ξύλου τῆς ζωῆς καὶ φάγῃ καὶ ζήσεται εἰς τὸν αἰῶνα.
Kai eipen Kyrios ho Theos: Idou Adam gegonen hōs heis ex hēmōn tou ginōskein kalon kai ponēron; nyn dē mēpote ekteinē tēn cheira autou kai labē apo tou xylou tēs zōēs kai phagē kai zēsetai eis ton aiōna.
Καὶ εἶπεν Κύριος ὁ Θεός – »Und der Herr Gott sprach«
– Kyrios ersetzt den Gottesnamen JHWH.
Ἰδοὺ Ἀδὰμ γέγονεν ὡς εἷς ἐξ ἡμῶν – »Siehe, Adam ist geworden wie einer von uns«
– gegonen = Perfektform »ist geworden« → dauerhafte Veränderung.
– heis ex hēmōn – »einer von uns«: spiegelt dieselbe Pluralität wie im Hebräischen.
τοῦ γινώσκειν καλὸν καὶ πονηρόν – »das Gute und das Böse zu erkennen«
– tou ginōskein = Infinitiv mit Genitivartikel → final/kausal.
– kalon kai ponēron = moralischer Gegensatz; kalon betont Schönheit/Güte, ponēron betont Bösartigkeit/Übel.
νῦν δὴ μήποτε ἐκτείνῃ τὴν χεῖρα αὐτοῦ... – »nun also, damit er nicht etwa seine Hand ausstrecke…«
– mēpote = Vorsichtsformel, ähnlich pen.
– ekteinē = Konjunktiv, ausdruck einer potentiellen Handlung.
καὶ λάβῃ...καὶ φάγῃ...καὶ ζήσεται – »und nehme...und esse...und lebe«
– Dreifacher Konjunktiv, dramatisch gesteigerter Rhythmus.
– zēsetai eis ton aiōna = »lebe in Ewigkeit« – identisch zu le‘olam.
Bemerkung:
Die Septuaginta bewahrt die hebräische Struktur, ergänzt aber mit griechischer Logik: Die drei Konjunktive steigern den Handlungsverlauf, und die Formulierungen sind klar theologisch geprägt – das Leben in Ewigkeit wird als reale Möglichkeit skizziert, nicht nur als Konsequenz.

Biblisches Lateinisch (Vulgata)

Et dixit Dominus Deus: Ecce Adam quasi unus ex nobis factus est sciens bonum et malum. Nunc ergo ne forte mittat manum suam, et sumat etiam de ligno vitae, et comedat, et vivat in aeternum.
Ecce Adam quasi unus ex nobis factus est – »Siehe, Adam ist wie einer von uns geworden«
– quasi unus ex nobis = »gleichsam einer von uns«; quasi bringt eine gewisse Vorsicht oder Ironie ein, die im Hebräischen fehlt.
– factus est = Perfektpassiv: »ist gemacht worden« – betont göttliches Zulassen.
sciens bonum et malum – »wissend Gut und Böse«
– Partizip Präsens → betont den andauernden Zustand des Wissens.
ne forte mittat manum suam... – »damit er nicht etwa seine Hand ausstrecke«
– ne forte = typisch lateinische Konstruktion für hypothetische Gefahr.
et sumat etiam de ligno vitae... – »und auch nehme vom Baum des Lebens«
– etiam = »auch« – wie hebr. gam.
et comedat, et vivat in aeternum – »und esse, und ewig leben«
– Konjunktive → Möglichkeit, Gefahr, Absicht.
– in aeternum = klassisches lateinisches Idiom für »auf ewig«.
Bemerkung:
Die Vulgata ist stilistisch römisch klar: präzise Syntax, schlanker Satzfluss. Das quasi bringt eine interpretierende Nuance ein – als wolle der Text betonen, dass Adams Ähnlichkeit mit Gott nicht vollständig oder endgültig sei. »Sciens« als Partizip impliziert eine bleibende Eigenschaft.

Fazit (vergleichend)

• Alle drei Fassungen behalten die theologische Hauptaussage bei: Der Mensch hat göttliche Erkenntnis erworben, was nun die Gefahr ewigen Lebens (und somit Unsterblichkeit in einem gefallenen Zustand) aufwirft.
Hebräisch ist elliptisch und offen, mit einem abrupten Ende – fast wie ein innerer Monolog Gottes.
Griechisch ist theologisch elaboriert, rhythmisch gesteigert.
Lateinisch ist interpretierend, rhetorisch ausgewogen und »zivilisiert« formuliert.

Vertiefte semantische Analyse

Die Aussage dieses Verses ist aufgeladen mit dichter Bedeutungsstruktur, theologisch ambivalenten Wendungen und mythopoetischen Elementen. Vier zentrale semantische Aspekte sind zu beleuchten:
»Adam ist geworden wie unsereiner«
Das hebräische כְּאַחַד מִמֶּנּוּ (»wie einer von uns«) verwendet eine rätselhafte Pluralform, die in der Forschung oft mit der sogenannten pluralis maiestatis, einem Götterrat (vgl. Gen 1,26), oder einem innergöttlichen Dialog erklärt wird.
Das »geworden wie« (hayah) markiert einen Übergang im Sein – Adam hat eine Qualität erlangt, die bislang nur Gott zugeschrieben war: die Erkenntnis von Gut und Böse.
»und weiß, was gut und böse ist«
»Gut und böse« (טוֹב וָרָע) ist wahrscheinlich als Merismus zu verstehen, d.h. eine Ausdrucksform für alle moralischen Kategorien. Es geht nicht nur um moralische Unterscheidung, sondern um ein Wissen, das normative Kraft beansprucht – quasi ein göttliches Urteilvermögen.
Die Wendung kann auch epistemologisch gelesen werden: Adam verfügt nun über ein Wissen, das sein Selbstverhältnis und seine Freiheit grundlegend verändert hat.
»daß er nicht ausstrecke seine Hand«
Das Verb שָׁלַח (ausstrecken) hat eine aktiv-pragmatische Konnotation: Adam könnte nun aus sich heraus handeln – sich den Baum des Lebens aneignen, statt ihn als Gabe zu empfangen.
Es klingt eine neue Gefahr an: der Mensch als autonomer Akteur, der sich Zugang zu Unsterblichkeit verschafft – nicht als Geschenk, sondern als Griff.
»und lebe ewiglich«
Das hebräische וָחַי לְעֹלָם (und lebe auf ewig) markiert das Ende einer möglichen Entwicklung: der Mensch könnte in einem Zustand der Entfremdung ewig leben – eine ewige Existenz im Zustand der Sünde. Dies scheint von Gott als existenziell problematisch angesehen zu werden.

Tiefere theologische Deutung

Dieser Vers steht am Wendepunkt der biblischen Urgeschichte. Er deutet eine Spannung an, die das ganze biblische Denken durchzieht: Gottesferne durch Erkenntnis und Freiheit, gepaart mit einem Verlust der unmittelbaren Lebensgemeinschaft mit Gott.
a) Der Mensch zwischen Gottesebenbildlichkeit und Hybris
Der Vers nimmt indirekt Gen 1,27 auf: der Mensch wurde im »Bild Gottes« geschaffen. Jetzt aber will er göttliche Attribute besitzen – Erkenntnis und ewiges Leben. Dies überschreitet den Status des Geschöpfes.
Es liegt darin eine Thematik der Grenzüberschreitung – der Mensch möchte nicht mehr nur wie Gott sein, sondern Gott gleich. Das erinnert an die Versuchung in Gen 3,5: »Ihr werdet sein wie Gott«.
b) Der Schutz vor dem ewigen Zustand der Trennung
Gottes Verhinderung des Zugangs zum Baum des Lebens ist kein Akt der Rache, sondern ein Akt der Gnade und Fürsorge: Adam soll nicht ewig in einem Zustand leben, der durch Schuld, Scham und Entfremdung geprägt ist.
Daraus ergibt sich die theologische Vorstellung: Unsterblichkeit ohne Erlösung wäre ein Fluch. Der Zugang zum Leben muss neu eröffnet werden – und das geschieht im weiteren biblischen Verlauf durch Bund, Opfer, letztlich durch Christus (vgl. Offb 2,7; 22,2).
c) Theologie der Unverfügbarkeit
Der Vers etabliert einen zentralen Gedanken: Leben und Erkenntnis sind Gaben, keine menschlichen Errungenschaften. Das göttliche Leben ist nicht erzwingbar, sondern wird im Kontext von Gehorsam, Vertrauen und Beziehung gewährt.

Rezeptionsgeschichtliche Vertiefung

a) Jüdische Auslegung
In der rabbinischen Tradition wurde dieser Vers als Ausdruck göttlicher Sorge interpretiert: Gott schützt den Menschen vor einem Doppelfall – sowohl moralischer als auch ontologischer Selbstverfehlung.
Der Midrasch (Genesis Rabbah) deutet den »Baum des Lebens« auch allegorisch: Er steht für die Tora – der wahre Zugang zum Leben liegt in der göttlichen Weisung, nicht im bloßen biologischen Weiterleben.
b) Kirchenväter
Irenäus von Lyon las diesen Vers heilsgeschichtlich: Der Mensch war kindlich, unreif; Gott schneidet ihm den Weg zur Unsterblichkeit ab, um ihn zu erziehen und zu erlösen.
Augustinus sah hier eine theologische Begründung der Erbsünde: Mit dem moralischen Fall geht ein Verlust der Unsterblichkeit einher – der Mensch wird sterblich als Konsequenz seiner Autonomie.
c) Mystische und gnostische Traditionen
In einigen gnostischen Schriften (z. B. Apokryphon des Johannes) wird dieser Vers umgedeutet: Gott wird zum neidischen Wesen, das dem Menschen das göttliche Wissen und Leben vorenthalten will. Der Baum der Erkenntnis wird dort positiv bewertet – ein radikaler Bruch zur kanonischen Sicht.
Meister Eckhart hingegen deutet den »Gottesgleichen« als Rückkehr ins Innerste: Der Mensch sei zur göttlichen Form bestimmt, aber nicht durch Griff, sondern durch Loslassen und Entwerden.
d) Moderne Auslegung
Dietrich Bonhoeffer sah in diesem Vers den Beginn der Ethik: Der Mensch erkennt Gut und Böse, aber ohne die Gemeinschaft mit Gott. Das moralische Wissen wird nun zur Last, nicht zur Gabe.
Paul Tillich liest diesen Moment existenzialistisch: Der Mensch erkennt sich selbst in der Freiheit – aber in einer Freiheit, die Schuld und Angst gebiert.
Fazit
Genesis 3,22 beschreibt einen Moment existenzieller Zäsur: Der Mensch erkennt, der Mensch greift, der Mensch wird ausgeschlossen – nicht als Strafe, sondern als Schutz. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass der Zugang zum Baum des Lebens nicht für immer versperrt ist – sondern in einem tieferen, heilsgeschichtlichen Sinne neu eröffnet werden kann.

Literarische und kulturgeschichtliche Einordnung

• Dieser Vers markiert den dramatischen Wendepunkt der sogenannten Urgeschichte (Genesis 1–11), nämlich die Verstoßung des Menschen aus dem Paradies. Literarisch steht der Vers am Übergang von Mythos zur Geschichte – von einem idealen Anfangszustand zur Realität menschlicher Existenz in Mühsal, Endlichkeit und moralischer Verantwortung. Der Vers thematisiert das Motiv der göttlichen Eifersucht oder Vorsicht gegenüber einer menschlichen Grenzüberschreitung.
• Die Formulierung »wie unsereiner« deutet eine göttliche Pluralität an, die entweder als innergöttlicher Plural (Pluralis majestatis), als Hinweis auf ein himmlisches Ratskollegium (wie in altorientalischen Mythen), oder als Trinitätsvorahnung gelesen wurde. Der »Baum des Lebens« steht symbolisch für Unsterblichkeit, die dem Menschen nach der Erkenntnis von Gut und Böse nun explizit verwehrt wird. Dies lässt sich kulturgeschichtlich als Grenzziehung zwischen Mensch und Gott lesen: Die Erkenntnis hat der Mensch erhalten, aber nicht die Macht über Leben und Tod.

Resonanz in Dantes Divina Commedia

• In Dantes Commedia wird dieser Vers nicht direkt zitiert, aber er wirkt strukturell und theologisch stark nach – insbesondere in der Frage nach Erkenntnis, Sünde, Strafe und Erlösung.
• Im Inferno wird der Fall des Menschen (peccatum originale) als Ursprung aller späteren Sünden verhandelt. Die Erkenntnis von Gut und Böse hat den Menschen in einen Zustand gebracht, in dem er nun moralisch verantwortlich ist – eine Idee, die Dante durch die konkrete Einteilung der Höllenkreise nach Sündenkategorien entfaltet.
• Im Purgatorio tritt das Thema erneut hervor, etwa in der Szene des irdischen Paradieses (Purg. XXVIII–XXXIII). Dante begegnet dort dem Baum der Erkenntnis, nun aber als Teil eines Läuterungsprozesses. Der Baum wird nicht mehr als verbotene Schwelle, sondern als Zeichen einer kommenden Versöhnung zwischen Mensch und Gott gedeutet. Das ursprüngliche Verbot wird aufgehoben durch Gnade, durch Christus, die neue Lebensquelle.
• Im Paradiso schließlich ist die Vereinigung mit dem Göttlichen das Ziel – aber nicht durch Übertretung, sondern durch Gnade und Läuterung, durch eine Liebe, die im Unterschied zur Übergriffigkeit Adams geordnet ist. Dante dreht also den Vers aus Genesis 3,22 ins Positive: Das Paradies ist wieder erreichbar, aber nur auf dem Weg der Selbstverneinung, Buße und Gnade – nicht durch Anmaßung.

Anthropologische Perspektiven

• Genesis 3,22 eröffnet einen fundamentalen Diskurs über das Menschsein: Der Mensch wird hier als zwischen Gott und Tier verortet – er ist erkenntnisfähig, moralisch urteilsfähig (»weiß, was gut und böse ist«), aber zugleich sterblich und gefährlich.
• Anthropologisch ist dies der Beginn eines bewussten Menschenbildes: Der Mensch ist nicht mehr unschuldig Naturwesen, sondern Träger von Verantwortung, Wissen und Schuld. Der Vers stellt somit eine Schwelle dar – eine Initiation in das moralische Bewusstsein, aber auch in das Bewusstsein der Endlichkeit.
• Die Angst Gottes, der Mensch könne auch vom Baum des Lebens essen, zeigt eine Grenzziehung: Der Mensch darf zwar wie Gott erkennen, aber er darf nicht leben wie Gott. Hier wird ein tiefes Unbehagen gegenüber menschlicher Selbstvergottung sichtbar – ein Thema, das in der Kulturgeschichte immer wiederkehrt, sei es in der hybris tragischer Helden, in Goethes Faust oder in modernen Debatten über Transhumanismus.

Fazit

Genesis 3,22 ist ein Schlüsselvers der biblischen Anthropologie. Er markiert die Spannung zwischen göttlichem Wissen und menschlicher Sterblichkeit, zwischen Anmaßung und Erlösung. Dante transformiert diese Spannung in eine heilsgeschichtliche Bewegung, in der der Mensch nicht durch Eigenmächtigkeit, sondern durch göttliche Gnade zum »Baum des Lebens« gelangt – im Empyreum, dem ewigen Licht.

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01 Die Schoepfung

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