Genesis 03:11

Luther 1545 Vnd er sprach / Wer hat dirs gesagt / das du nacket bist? Hastu nicht gessen von dem Bawm / da von ich dir gebot / Du soltest nicht da von essen?
Luther 1912 Und er sprach: Wer hat dir's gesagt, daß du nackt bist? Hast du nicht gegessen von dem Baum, davon ich dir gebot, du solltest nicht davon essen?

genesis 3

Biblisches Hebräisch

וַיֹּאמֶר מִי הִגִּיד לְךָ כִּי עֵירֹם אַתָּה הֲמִן־הָעֵץ אֲשֶׁר צִוִּיתִיךָ לְבִלְתִּי אֲכָל־מִמֶּנּוּ אָכָלְתָּ׃
Vajómer: Mi higgíd ləcha ki ʿêróm attá? Hamin-haʿêts asher ziwwíticha ləvilti achól mimménnu, acháltá?
וַיֹּאמֶר (vajómer) – »Und er sprach«: Imperfekt mit Waw-Konjunktion, narrativer Stil (waw consecutivum). Das Subjekt »er« ist implizit (Gott).
מִי (mi) – »Wer?«: Ein echtes Fragewort, das nicht hypothetisch ist, sondern direkte Erkundigung nach der Quelle einer Information ausdrückt.
הִגִּיד (higgíd) – »hat gesagt, mitgeteilt«: Piʿel-Perfekt 3. masc. sing.; betont die Mitteilung als eine bewusste Handlung. Der Piʿel-Stamm verstärkt hier die Aussagekraft.
לְךָ (ləcha) – »dir«: Dativsuffix 2. masc. sing.; Objekt der Aussagehandlung.
כִּי עֵירֹם אַתָּה (ki ʿêróm attá) – »dass du nackt bist«: ki leitet einen Inhaltssatz ein (indirekte Rede). Die Wortstellung betont »nackt bist du« → existenzielle Feststellung.
הֲמִן־הָעֵץ (hămin-haʿêts) – »hast du etwa von dem Baum…?«: Interrogativpartikel הֲ vor einem Präpositionalsatz; signalisiert eine rhetorische Frage – eine sanfte Anklage.
אֲשֶׁר צִוִּיתִיךָ (asher ziwwíticha) – »von dem ich dir geboten habe«: Relativsatz mit Verb im Piʿel (ziwwá – »gebieten«), was den offiziellen, autoritativen Charakter des Gebots unterstreicht.
לְבִלְתִּי אֲכָל־מִמֶּנּוּ (ləvilti achól mimménnu) – »nicht davon zu essen«: Verneinung eines Infinitivs (אכל) durch לְבִלְתִּי → verstärkt die strikte Untersagung.
אָכָלְתָּ (acháltá) – »hast du gegessen?«: Perfekt 2. masc. sing., abschließende rhetorische Frage. Der Satz kulminiert im Vorwurf.
🡺 Beobachtung: Der Vers ist eine doppelte Frage: erst die Quelle der Erkenntnis, dann der mögliche Ungehorsam. Die hebräische Syntax erzeugt eine Steigerung in Richtung des impliziten Schuldbekenntnisses.

Biblisches Griechisch (Septuaginta)

καὶ εἶπεν αὐτῷ ὁ θεός· τίς εἶπεν σοι ὅτι γυμνὸς εἶ; μὴ ἀπὸ τοῦ ξύλου οὗ ἐνετειλάμην σοι τοῦ μὴ φαγεῖν ἀπ᾽ αὐτοῦ ἔφαγες;
Kai eipen autō ho Theós: Tís eipen soi hóti gymnós ei? Mē apò tou xýlou hou eneteílāmēn soi tou mē phageîn ap' autoû ephages?
καὶ εἶπεν (kai eipen) – »Und er sprach«: Aorist → abgeschlossenes Sprechen Gottes. Standardformel in biblischem Griechisch.
ὁ θεός (ho Theós) – »Gott«: explizit genannt, anders als im Hebräischen.
τίς εἶπεν σοι (tís eipen soi) – »Wer hat dir gesagt«: Frage mit tís (»wer«), analog zum hebräischen מִי.
ὅτι γυμνὸς εἶ (hóti gymnós ei) – »dass du nackt bist«: hóti leitet Inhaltssatz ein, gymnós (»nackt«) ist Adjektiv im Prädikatsnominativ.
μὴ ἀπὸ τοῦ ξύλου… ἔφαγες (mē apò tou xýlou... ephages?) – »Hast du etwa von dem Baum gegessen?«: μή zeigt hier eine rhetorische Frage mit erwarteter negativer Antwort – verdeckte Anklage.
οὗ ἐνετειλάμην σοι (hou eneteílāmēn soi) – »von dem ich dir geboten habe«: Mittelpassiv von entéllomai (»gebieten«), zeigt eine Reflexion auf göttliche Autorität.
τοῦ μὴ φαγεῖν (tou mē phageîn) – »nicht zu essen«: Finaler Infinitivsatz, Genitiv mit Art. τοῦ → modaler Nebensatz. Stark formalisiert.
ἀπ᾽ αὐτοῦ (ap' autoû) – »von ihm (dem Baum)«: präzise Ortsangabe.
ἔφαγες (ephages) – »hast du gegessen?«: Aorist Indikativ → konkrete Handlung in der Vergangenheit.
🡺 Beobachtung: Die LXX hält sich sehr nah an den hebräischen Text, verwendet aber typisch griechische Konstruktionen (Infinitiv mit τοῦ, rhetorische μή-Frage). Die Frage bleibt anklagend, aber formal gefasst.

Biblisches Latein (Vulgata)

Qui enim indicavit tibi quod nudus esses, nisi quod ex ligno, de quo praeceperam tibi ne comederes, comedisti?
Exegetische Analyse:
Qui enim indicavit tibi (Wer hat dir denn gezeigt) – »qui« als Fragepronomen, »enim« verstärkt (»denn«); »indicavit« = Perfekt → abgeschlossene Mitteilung.
quod nudus esses – »dass du nackt bist«: »esses« = Imperfekt Konjunktiv (indirekte Rede).
nisi quod… comedisti? – »etwa weil du gegessen hast?«: nisi quod ist hier kausal zu verstehen (»etwa weil«), deutet auf einen impliziten Zusammenhang → rhetorische Konstruktion.
ex ligno, de quo praeceperam tibi – »vom Baum, von dem ich dir geboten habe«: klassische Relativsatzkonstruktion, »praeceperam« = Plusquamperfekt → Hinweis auf frühere Anordnung.
ne comederes – »dass du nicht essen solltest«: finaler Nebensatz mit Konjunktiv → Ausdruck des göttlichen Verbots.
comedisti? – »hast du gegessen?«: abschließende rhetorische Frage; Perfekt betont die Handlung als abgeschlossen und schuldbeladen.
🡺 Beobachtung: Die Vulgata folgt im Sinn klar der Septuaginta und dem Hebräischen, stellt aber syntaktisch stärker auf lateinische Logik um. Das »nisi quod« lenkt direkt auf die Schuld hin – fast wie ein gerichtliches Urteil.

Zusammenfassung: Theologisch-exegetische Bemerkungen

Gemeinsames Motiv: Alle drei Versionen transportieren die Doppelfrage: Woher die Erkenntnis? Und hast du das Gebot übertreten?
Rhetorik: In jeder Sprache wird durch Syntax und Wortwahl ein Fragecharakter hergestellt, der jedoch mit wachsender Schärfe auf die Schuld zielt – besonders durch die letzten Verbformen (»hast du gegessen?«).
Erkenntnis der Nacktheit als metaphysischer Wendepunkt – nicht nur moralische, sondern existentielle Dimension. Das hebräische עֵירֹם wie das griechische γυμνός und das lateinische nudus stehen symbolisch für »bloßgestellt«, »schutzlos«, »entblößt« im geistlichen Sinn.

Sprachliche Feinheiten

Der Vers besteht aus zwei rhetorischen Fragen Gottes an Adam. Beide sind bewusst nicht beschuldigend, sondern eröffnen Raum zur Selbstoffenbarung:
»Wer hat dir's gesagt, daß du nackt bist?«
Die Wendung ist indirekt. Gott fragt nicht direkt: Was hast du getan?, sondern: Wie bist du zu dieser Erkenntnis gekommen? Im Hebräischen steht hier: מִי הִגִּיד לְךָ כִּי עֵירֹם אָתָּה (»Mi higgid ləcha ki 'erom attah?«). Das Verb הִגִּיד (higgid – »verkünden, sagen«) betont die Vermittlung durch ein Gegenüber. Die Frage impliziert also: Es muss eine fremde, nicht von Gott autorisierte Erkenntnisquelle gegeben haben.
»Hast du nicht gegessen von dem Baum …?«
Diese Frage ist grammatisch negativ formuliert (ein sogenannter Verhörsatz), zielt aber auf ein Geständnis ab. Es ist keine Informationssuche, sondern eine Konfrontation mit der Konsequenz des Gehorsamsbruchs.
Das Gespräch ist dialogisch und enthält Socratische Züge: Gott führt Adam durch Fragen zur Selbsterkenntnis, nicht durch direkten Tadel.

Tiefere theologische Deutung

Dieser Vers steht im Zentrum der theologischen Idee vom Sündenfall:
Erkenntnis der Nacktheit symbolisiert das Erwachen des Menschen zur moralischen Selbstreflexion und Scham. Die Nacktheit ist nicht an sich sündhaft, sondern Ausdruck eines durch die Übertretung veränderten Selbstverhältnisses. Der Mensch ist sich seiner Gebrochenheit bewusst geworden.
Die Gottesfrage als Spiegel der Gewissensbildung: Der Mensch ist zur Antwort aufgerufen – nicht nur vor Gott, sondern vor sich selbst. Gott »weiß« bereits, was geschehen ist, doch sein Fragen initiiert ein Drama der Verantwortung.
Theologischer Kern: Der Mensch wird zum sich verantwortenden Subjekt. In dieser Spannung zwischen göttlichem Anspruch und menschlichem Versagen entfaltet sich die ganze Heilsgeschichte. Der Vers steht somit am Anfang der Notwendigkeit von Erlösung und Gnade.

Literarische und kulturgeschichtliche Einordnung

Der Vers ist Teil eines mythischen Urtextes, der nicht als Bericht, sondern als paradigmatische Erzählung zu verstehen ist. Er bringt archetypische Erfahrungen zum Ausdruck: Schuld, Scham, Angst, das Bewusstsein von Gut und Böse.
Dialogstruktur: Die Fragen strukturieren die Szene dramatisch – fast theatralisch. Der allwissende Gott tritt als fragender Gegenüber auf, wodurch eine literarische Spannung zwischen Wissen und Nicht-Wissen entsteht.
Kulturgeschichtlich: Die Erkenntnis von Nacktheit als Symbol des Übergangs vom paradiesischen Zustand zur Kultur. Kleidung, Scham und Moral entstehen hier als Produkte der zivilisatorischen Selbstwahrnehmung des Menschen.
Diese Szene wurde unzählige Male in Kunst, Dichtung und Theologie gedeutet: von Augustinus bis Freud, von Michelangelo bis Milton.

Resonanz in Dantes Divina Commedia

Dante bezieht sich indirekt, aber wirkungsvoll auf diesen Vers:
• In der Commedia, insbesondere im Purgatorio (z.B. Canto XXIX), wird der Garten Eden wiederhergestellt – nicht als verlorener Ort, sondern als Ziel der Läuterung. Der Mensch kann, durch Gnade und Einsicht, zurückkehren.
• Die Frage Gottes in Genesis 3,11 klingt in Dantes Vorstellung vom freien Willen nach: Die göttliche Frage ist kein mechanisches Urteil, sondern eine Einladung zur Einsicht. Dies entspricht Dantes Überzeugung, dass der Mensch stets zur Umkehr befähigt ist – aber diese Freiheit auch verantwortlich gebrauchen muss.
• Im Paradiso (z. B. Canto VII), wenn Beatrice über den Fall Adams spricht, betont sie: Der Ungehorsam Adams sei kein bloßer Akt, sondern eine kosmische Störung der Ordnung. Doch diese Ordnung ist durch Christus wiederherstellbar – was Genesis 3,11 antizipiert, da Gott den Dialog trotz der Sünde nicht abbricht.
• Dantes Werk ist durchzogen von der Idee, dass göttliche Fragen, so wie in Genesis 3,11, nicht verdammen, sondern zur Selbsterkenntnis führen – und damit zur Möglichkeit der Läuterung. Der Ton dieser Frage Gottes wirkt bei Dante nach als Modell des göttlichen Gerichts: nicht kalt, sondern personal und rettend.

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01 Die Schoepfung

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