Genesis 03:09

Luther 1545 Vnd Gott der HERR rieff Adam / vnd sprach zu jm / Wo bistu? Vnd er sprach /
Luther 1912 Und Gott der HERR rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du?

genesis 3

Biblisches Hebräisch

וַיִּקְרָא יְהוָה אֱלֹהִים אֶל־הָאָדָם וַיֹּאמֶר לוֹ אַיֶּכָּה׃
Vayyikrā YHWH ʼĔlōhîm el-hāʼādām vayyōmer lō ʼayyēkāh
וַיִּקְרָא (vayyikrā) – »und er rief«
→ Imperfekt mit Waw-Konsekutiv (narrativ), 3. Person maskulin Singular vom Verb qārāʼ (»rufen«).
יְהוָה אֱלֹהִים (YHWH ʼĔlōhîm) – »der HERR, Gott«
→ Kombination des Tetragrammatons (YHWH) mit dem Gattungsnamen »Elohim«. Doppelnennung betont Hoheit und Nähe zugleich.
אֶל־הָאָדָם (el-hāʼādām) – »zum Menschen / zu Adam«
→ Präposition el (»zu, nach«) + bestimmter Artikel ha + ʼādām. Im Kontext spezifisch: Adam als Eigennamen, aber auch archetypisch.
וַיֹּאמֶר לוֹ (vayyōmer lō) – »und er sprach zu ihm«
→ Wieder Imperfekt mit Waw-Konsekutiv; ʼāmar (»sagen«) + lō (»zu ihm«).
אַיֶּכָּה (ʼayyēkāh) – »Wo bist du?«
→ Interrogativpartikel ʼayyē (»wo?«) + 2. Person maskulin Singular Suffix -kāh (»du«).
→ Bedeutet nicht nur physisches Fragen, sondern hat existenzielle Dimension: Wo stehst du in Bezug zu Gott?
Theologisch-exegetisch:
Diese erste direkte Gottesrede an den gefallenen Menschen ist nicht anklagend, sondern suchend. Die Frage ist nicht, weil Gott unwissend wäre, sondern lädt zur Selbstoffenbarung und zum Schuldbekenntnis ein. Sie ist relational, nicht nur informativ.

Biblisches Griechisch (Septuaginta)

καὶ ἐκάλεσεν κύριος ὁ θεὸς τὸν Ἀδὰμ καὶ εἶπεν αὐτῷ· ποῦ εἶ;
kai ekalesen kyrios ho theos ton Adam kai eipen autō· pou ei?
καὶ ἐκάλεσεν (kai ekalesen) – »und er rief«
→ Aorist Aktiv Indikativ 3. Pers. Sg. von kaleō (»rufen, nennen«); narrativer Stil.
κύριος ὁ θεός (kyrios ho theos) – »der Herr, der Gott«
→ Kyrios (Übersetzung von YHWH), ho theos (Gott); entspricht der hebräischen Doppelbezeichnung.
τὸν Ἀδὰμ (ton Adam) – »den Adam«
→ Akkusativ; der Eigenname bleibt im Griechischen transliteriert.
καὶ εἶπεν αὐτῷ (kai eipen autō) – »und er sprach zu ihm«
→ Aorist von legō (»sagen«) + Dativpronomen autō (»zu ihm«).
ποῦ εἶ; (pou ei?) – »Wo bist du?«
→ ποῦ (»wo?«) + εἶ (»du bist«); Präsens Indikativ 2. Pers. Sg. von eimi (»sein«).
→ Entspricht exakt der hebräischen Frageform, aber ohne Pronomenendung – neutraler.
Theologisch-exegetisch:
Die griechische Septuaginta überträgt die Frage in ein ebenso direktes Griechisch, das weniger poetisch klingt, aber die Spannung aufrechterhält. Sie bleibt offen für eine existentielle Deutung.

Biblisches Lateinisch (Vulgata)

Vocavit autem Dominus Deus Adam et dixit ei: Ubi es?
Vocavit autem (vocāvit autem) – »aber er rief«
→ Perfekt von vocō (»rufen«); autem markiert eine erzähltechnische Wendung, keine starke Konjunktion.
Dominus Deus – »der Herr, Gott«
→ Wörtliche Entsprechung des hebräischen YHWH Elohim.
Adam – Eigenname im Akkusativ (wie im Griechischen).
et dixit ei – »und er sprach zu ihm«
→ Perfekt von dīcō (»sagen«) + Dativ ei (»ihm«).
Ubi es? – »Wo bist du?«
→ Ubi (»wo«) + 2. Pers. Sg. Präsens von esse (»sein«): es.
Theologisch-exegetisch:
Die Vulgata bietet eine schlichte, klar strukturierte Version. Ubi es? hat – wie das Hebräische – eine Dimension der Nähe, Beziehung und Verantwortung. Im Kontext kirchlicher Exegese wurde dieser Ruf oft als »Anruf des Gewissens« verstanden.

Zusammenfassung

In allen drei Sprachversionen bleibt der göttliche Ruf inhaltlich gleich: Er ist kein Ruf der Strafe, sondern der Suche. Die Frage »Wo bist du?« ist existenziell, ruft zur Selbsterkenntnis, zum Eingeständnis der Entfremdung und zur Wiederherstellung der Beziehung. Der hebräische Originaltext legt durch seine Formulierung besonderen Nachdruck auf die persönliche Ansprache (אַיֶּכָּה mit der Endung -ךָ), während die griechische und lateinische Übersetzung eine eher nüchterne, aber dennoch klare Umsetzung bieten.

Sprachliche Feinheiten

אַיֶּכָּה (ajekah) ist ein seltenes hebräisches Wort, das wörtlich »Wo bist du?« bedeutet. Es handelt sich um ein direktes Anredepronomen mit Ortsfrage, wobei auffällt, dass Gott als Allwissender eigentlich keine Information benötigt – die Frage ist nicht informativ, sondern relational und existenziell.
Das Verb וַיִּקְרָא (wa-yikra) – »er rief« – signalisiert eine Art feierlicher, ritueller Aufruf. Es ist ein Ruf, kein Befehl, kein Vorwurf, sondern eine Anrufung.
»Adam« steht hier nicht nur für den historischen Urmenschen, sondern im Hebräischen zugleich allgemein für den »Menschen« (אָדָם = Mensch).

Tiefere theologische Deutung

1. Die Frage als Spiegel menschlicher Entfremdung:
Gottes Ruf »Wo bist du?« steht am Anfang des menschlichen Selbstverlusts. Nach dem Sündenfall verbirgt sich der Mensch – nicht Gott wendet sich ab, sondern der Mensch versteckt sich vor Gott. Der Ruf Gottes ist der erste Ausdruck göttlicher Barmherzigkeit: Gott sucht den entfremdeten Menschen.
2. Existenzielle Anrede:
Die Frage ist keine Erkundigung nach Ort oder Koordinaten, sondern eine Frage nach dem Sein, nach dem »Da-Sein« des Menschen in seiner Beziehung zu Gott. Theologisch gesehen ist dies der erste Ruf zur Umkehr, zur Selbsterkenntnis.
3. Anthropologische Grundfrage:
In dieser Szene zeigt sich die fundamentale Spannung zwischen Freiheit und Verantwortung, zwischen Wissen und Schuld. Die Frage Gottes ist der Beginn des Gewissens: Der Mensch wird zur Rechenschaft gerufen, aber nicht vernichtet.

Literarische und kulturgeschichtliche Einordnung

Diese Szene ist eine Ur-Szene der Literatur: Sie verbindet Drama, existenzielle Spannung und symbolische Tiefe.
Die Frage »Wo bist du?« ist nicht nur religiös, sondern auch literarisch archetypisch: Sie durchzieht westliche Literatur und Philosophie als Topos der Suche, des Rufens, des Getrenntseins – von Homer bis Kafka.
Kulturgeschichtlich ist diese Frage Grundlage der Idee von Verantwortung und Gewissen: Der Mensch kann sich nicht ewig verbergen. Er ist angesprochen – und zwar nicht als Teil der Natur, sondern als dialogisches Gegenüber Gottes.

Resonanz in Dantes Divina Commedia

Die göttliche Frage »Wo bist du?« hat in Dantes Commedia eine leise, aber eindringliche Resonanz:
In Inferno I begegnet Dante in der dunklen Waldszene einer ähnlichen Frage, allerdings innerlich: »Wo bin ich?« Der smarrito (»verirrte«) Dante ist ein adamischer Mensch – er hat sich vom rechten Weg entfernt.
Vergil als Stimme der Vernunft ist dann die Antwort auf den göttlichen Ruf – so wie Gott Adam ruft, ruft Beatrice (von göttlicher Gnade gesandt) Dante.
Die Commedia als Ganze ist ein Weg der Antwort auf diese göttliche Frage: Sie ist eine Bewegung vom Verbergen zum Offenbarwerden, von der Entfremdung zur Wiedervereinigung.
Besonders in Purgatorio wird die innere Haltung Adams – die Flucht, das Verschweigen, das sich Nicht-Zeigen – explizit gebrochen durch das Eingeständnis der eigenen Verfehlung. In Canto XXX zitiert Beatrice Dante gegenüber beinahe wörtlich die göttliche Anklage: »Warum hast du dich mir entzogen?« – ein Echo auf Gottes Frage an Adam.

Fazit

»Wo bist du?« ist nicht nur eine Frage an Adam – sie richtet sich an jeden Menschen, in jeder Zeit. Sie ist die erste theologische Frage der Bibel, aus der sich alle weiteren ergeben. Sie markiert den Beginn von Schuld, Freiheit, Verantwortung – und von Gnade. In Dantes Commedia ist sie als stilles Echo überall präsent: in der Sehnsucht, der Umkehr, dem göttlichen Aufbruch.

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01 Die Schoepfung

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