Luther 1545
DA lies Gott der HERR einen tieffen Schlaff fallen auff den Menschen / vnd er entschlieff. Vnd nam seiner Rieben eine / vnd schlos die stet zu mit Fleisch.
Luther 1912
Da ließ Gott der HERR einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm seiner Rippen eine und schloß die Stätte zu mit Fleisch.
Genesis 2,21 ist ein zentraler Vers in der biblischen Anthropologie, der die Erschaffung der Frau beschreibt. Er markiert einen bedeutenden Wendepunkt im Schöpfungsbericht der Genesis – den Übergang von der Erschaffung des einzelnen Menschen zur Gemeinschaft der Geschlechter.
Biblisches Hebräisch
וַיַּפֵּל יְהוָה אֱלֹהִים תַּרְדֵּמָה עַל־הָאָדָם וַיִּישָׁן; וַיִּקַּח אַחַת מִצַּלְעֹתָיו וַיִּסְגֹּר בָּשָׂר תַּחְתֶּנָּה
Vayyappēl YHWH Elohim tardēmāh ʿal-haʾādām vayyîšān; vayyiqqaḥ aḥat miṣṣalʿōtāw, vayyisgōr bāśār taḥtenāh.
Da ließ der HERR, Gott, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, und er schlief; und er nahm eine von seinen Rippen und verschloss das Fleisch an ihrer Stelle.
Anmerkung zur Terminologie:
• tardēmāh – „tiefer Schlaf“: ein seltenes Wort, das in der hebräischen Bibel oft auf eine von Gott verursachte Bewusstseinsveränderung verweist (z. B. bei Abram in Gen 15,12).
• ṣēlāʿ – traditionell „Rippe“, aber im Hebräischen kann es auch „Seite“ bedeuten, was eine tiefere symbolische Bedeutung nahelegt (z. B. „Hälfte“, „Seite eines Gebäudes“).
Biblisches Griechisch (Septuaginta)
Καὶ ἐπέβαλεν ὁ Θεὸς ἔκστασιν ἐπὶ τὸν ἄνθρωπον, καὶ ἐκάθευδεν· καὶ ἔλαβεν μίαν τῶν πλευρῶν αὐτοῦ, καὶ ἀνεπλήρωσεν σάρκα ἀντ᾿ αὐτῆς.
Kai epébalen ho Theòs ékstasin epi ton ánthrōpon, kai ekátheuden; kai élaben mían tōn pleurōn autoû, kai aneplḗrōsen sárka ant’ autês.
Und Gott ließ eine Ekstase (Verzückung) über den Menschen kommen, und er schlief; und er nahm eine seiner Seiten und füllte Fleisch an ihre Stelle.
Anmerkung:
• ἔκστασις (ekstasis) – bezeichnet mehr als nur „Schlaf“: eine Art tranceartiger Zustand, ein ekstatisches Heraustreten aus dem normalen Bewusstsein – eine theologische Tiefenschicht wird hier betont.
• πλευρά (pleura) – „Seite“ statt „Rippe“, was eine konzeptionell symmetrische Teilung impliziert.
Biblisches Latein (Vulgata)
Immisit ergo Dominus Deus soporem in Adam: cumque obdormisset, tulit unam de costis eius, et replevit carnem pro ea.
Da sandte der Herr, Gott, einen Schlaf über Adam. Und als er eingeschlafen war, nahm er eine von seinen Rippen und füllte Fleisch an ihre Stelle.
Anmerkung:
• sopor – deutet auf einen von Gott gewirkten tiefen, bewusstseinsverändernden Schlaf hin.
• costa – klassisches lateinisches Wort für „Rippe“, im Gegensatz zur griechischen pleura, lässt weniger Spielraum für eine metaphorische oder symbolische Deutung.
Anthropologisch-theologische Dimension
Genesis 2,21 beschreibt einen fundamentalen Schritt in der Erschaffung des Menschen: Der Mensch wird durch einen Teil von sich selbst vervollständigt – der Frau. Das hebräische Wort ṣēlāʿ lässt auf eine „Seite“ statt nur eine Rippe schließen, was auf eine komplementäre Gleichheit hindeuten kann. Der Mensch wird nicht verdoppelt, sondern geteilt, um in der Vereinigung wieder zur Ganzheit zu finden (siehe V. 24: „Ein Fleisch“).
Schöpfung als chirurgischer Akt Gottes
Die Szene hat beinahe sakral-operative Züge: Gott versetzt Adam in einen tiefen Schlaf, entnimmt einen Teil seines Körpers und „verschließt das Fleisch“. Es ist die erste Operation der Weltgeschichte, aber zugleich ein Sakrament: die Geburt der Gemeinschaft.
Ekstase statt Schlaf – spirituelle Symbolik
Die griechische LXX wählt „ἔκστασις“ (ekstasis), was auf ein Heraustreten aus dem Alltagszustand und eine Vorbereitung für eine neue Offenbarung verweist. So wird der Akt zur „Verwandlung“ – Adam tritt heraus aus sich, um sich in der Frau wiederzufinden.
Christologisch-symbolische Vordeutung
In der christlichen Patristik wurde oft eine Typologie gezogen:
• Wie aus der Seite Adams Eva hervorgeht, so fließt aus der durchbohrten Seite Christi am Kreuz Wasser und Blut – Symbol der Sakramente (Taufe und Eucharistie) und der Geburt der Kirche (vgl. Johannes 19,34).
• Adam als „Erster Mensch“ und Christus als „Letzter Adam“ (1 Kor 15,45) – die Schöpfung der Frau antizipiert die Neuschöpfung der Menschheit durch Christus.
Bezug zu Dantes Divina Commedia
Anthropologische Tiefenschicht in Inferno, Purgatorio und Paradiso
• Dante nimmt keine direkte Bezugnahme auf Genesis 2,21, aber die Struktur der Commedia selbst spiegelt den Gedanken der geteilten und wieder vereinigten menschlichen Natur:
• Beatrice ist für Dante, wie Eva für Adam, eine Form des anderen Selbst – seine geistige Ergänzung und höhere Vermittlung.
• In Paradiso 33 begegnet Dante der visio Dei nach einer Art „Ekstase“ (ähnlich wie Adams tardēmāh), in der sein io sich selbst transzendiert – eine Ekstase im wörtlichen Sinne.
• Inferno 5 (Paolo und Francesca) thematisiert eine entstellte Form von Gemeinschaft – eine Liebe, die nicht aus gegenseitiger Ganzheit, sondern aus Begierde entsteht.
Philosophische Übereinstimmungen
• Wie Genesis 2 eine Ontologie des Menschen als relationales Wesen (Mensch nur in Gemeinschaft vollständig) zeichnet, so betont Dante in seiner Theologie die Beziehung zwischen Geschöpf und Schöpfer sowie zwischen Seelen.
• In Purgatorio 30–33 wird Dantes tiefste Reue (ähnlich Adams „Narkose“) zum Moment der Heilung und Neugeburt – Beatrice als eine Art „himmlische Eva“.
Fazit
Genesis 2,21 ist nicht bloß ein historischer Bericht über die Erschaffung der Frau, sondern ein dichter, symbolischer Text über:
• die komplementäre Natur des Menschseins,
• die Bedeutung göttlicher Ekstase als Voraussetzung für tiefere Erkenntnis,
• das theologische Prinzip der Einheit durch Teilung.
• ese Themen korrespondieren tief mit der Struktur und Symbolik der Divina Commedia, insbesondere mit dem Gedanken der spirituellen Vervollständigung durch das Andere – sei es der Geliebte, die Gemeinschaft oder Gott selbst. Die „Schlaf-Ekstase“ Adams findet ihre dichterisch-theologische Spiegelung in Dantes ekstatischer Gottesvisio