Luther 1545
Vnd Gott der HERR gebot dem Menschen / vnd sprach / Du solt essen von allerley Bewme im Garten.
Luther 1912
Und Gott der HERR gebot dem Menschen und sprach: Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten;
Parallelstellen zu Genesis (1Mose) 2:16
1Mo 2:16 Und Gott der HERR gebot dem Menschen und sprach: Du sollst essen von allen Bäumen des Gartens;
1Sa 15:22 Samuel aber sprach: Hat der HERR Wohlgefallen an Opfern und Brandopfern gleichwie am Gehorsam gegen die Stimme des HERRN? Siehe, Gehorsam ist besser denn Opfer und Aufmerken besser als das Fett von Widdern!
1Mo 2:9 Und Gott der HERR ließ allerlei Bäume aus der Erde hervorsprossen, lieblich anzusehen und gut zur Nahrung, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.
1Mo 3:1 Aber die Schlange war listiger als alle Tiere des Feldes, die Gott der HERR gemacht hatte; und sie sprach zum Weibe: Hat Gott wirklich gesagt, ihr dürft nicht essen von jedem Baum im Garten?
1Mo 3:2 Da sprach das Weib zur Schlange: Wir essen von der Frucht der Bäume im Garten;
1Tim 4:4 Denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, wenn es mit Danksagung genossen wird;
1Tim 6:17 Den Reichen im jetzigen Zeitalter gebiete, daß sie nicht stolz seien, auch nicht ihre Hoffnung auf die Unbeständigkeit des Reichtums setzen, sondern auf den lebendigen Gott, der uns alles reichlich zum Genuß darreicht,
Biblisches Hebräisch
וַיְצַו יְהוָה אֱלֹהִים עַל־הָאָדָם לֵאמֹר מִכֹּל עֵץ־הַגָּן אָכֹל תֹּאכֵל׃
Vayetzav YHWH Elohim al-ha'adam lemor: mikol 'etz-hagan akhol to'khel.
Und JHWH, Gott, gebot dem Menschen und sprach: Von jedem Baum des Gartens darfst du essen, essen.
• e Wiederholung „אָכֹל תֹּאכֵל“ ist eine hebräische Intensivform („essen wirst du essen“), die nachdrücklich die völlige Freiheit und Fülle des Zugangs unterstreich
Biblisches Griechisch (Septuaginta)
καὶ ἐνετείλατο κύριος ὁ θεὸς τῷ Ἀδὰμ λέγων· ἀπὸ παντὸς ξύλου τοῦ παραδείσου βρώσει φάγῃ·
kai eneteílato kýrios ho theòs tōi Adam légōn: apo pantòs xýlou tou paradeísou brṓsei phágēi.
Und der Herr, Gott, gebot dem Adam und sprach: Von jedem Baum des Paradieses darfst du mit Essen essen.
• Auch hier die griechische Doppelung „βρώσει φάγῃ“ („essen wirst du essen“) als Semitismus zur Betonung der großzügigen Erlaubnis.
Biblisches Lateinisch (Vulgata)
Praeceperat autem ei Dominus Deus, dicens: De omni ligno paradisi comede.
Der Herr, Gott, hatte ihm aber geboten und sprach: Von jedem Baum des Paradieses iss!
• Die Vulgata verwendet das einfachere „comede“ (Imperativ von comedere), ohne die hebräische Intensivform nachzubilden – was die lateinische Eleganz widerspiegelt, aber die hebräische Betonung abschwächt.
Sprachlich-stilistische Beobachtung:
• Die hebräische Struktur betont durch die Doppelform das „Genießen-Dürfen“. Es geht nicht nur um Erlaubnis, sondern um ein freudiges, ungehemmtes Empfangen des göttlichen Geschenks.
• Die Verwendung von וַיְצַו (vayetzav – „und er gebot“) markiert die erste ausdrückliche göttliche „Mitzwa“ (Gebot), wodurch das Verhältnis zwischen Mensch und Gott erstmals rechtlich-ethisch konturiert wird.
• Das Verb צוה (tzawah, „gebieten“) leitet in der Tora oft Bundes- oder Ordnungsstrukturen ein.
Theologisch-anthropologische Bedeutung:
Freiheit in Begrenzung: Vers 16 steht im direkten Kontrast zu Vers 17 (dem Verbot). Es handelt sich um ein Paradigma für das theologische Spannungsfeld zwischen Freiheit und Verantwortung.
Gnade vor Gesetz: Der erste göttliche Imperativ ist eine Erlaubnis, kein Verbot. Dies könnte als Grundstruktur der biblischen Anthropologie gedeutet werden: Der Mensch ist primär zur Freude und Fülle geschaffen, nicht zur Askese.
Die Struktur des Bundes: Gott als Souverän, der dem Menschen als seinem Bildteilhaber eine göttliche Gabe (die Früchte des Gartens) in Vertrauen anvertraut.
Philosophisch-existenzielle Deutung:
Der Mensch wird als frei essender dargestellt, nicht als bloßer Befehlsempfänger. Diese Freiheit enthält jedoch bereits in sich den Keim der Möglichkeit zum Missbrauch, was in Vers 17 entfaltet wird.
Die Identität des Menschen ist hier von Anfang an an eine göttliche Ordnung geknüpft, die auf Verantwortung im Genuss basiert – eine radikale Alternative zur modernen Trennung von Freiheit und moralischer Ordnung.
Bezug zur „Divina Commedia“ Dantes
Paradies und Urzustand in der „Divina Commedia“
• Dante greift den Garten Eden im irdischen Paradies am Ende des Purgatorio (Gesang XXVIII–XXXIII) auf. Dort begegnet Dante der Matelda, die im Garten wandelt und von einem Zustand spricht, der dem von Gen 2,16 entspricht – eine Welt ohne Sünde, in der Genuss erlaubt ist, aber nicht entartet.
• In Purg. XXVIII, 139–144 heißt es etwa:
Non gustò il piè mortal del suo costume
la donna, ch'è qui giù benedetta,
sì ch'altrui piacque aver la vista, il lume.
• Die Reinheit des Blickes ist hier mit der Reinheit des Genusses verknüpft – ein Echo auf die ungebrochene Gabe des Essens in Gen 2,16.
Der Baum im „Paradiso“ und das „wahre“ Essen
• In Paradiso XXVI–XXXIII wird das Bild der übernatürlichen Nahrung durchdrungen: der Mensch ist berufen, das „höhere Brot“ zu essen (pane degli angeli), das nicht wie das des verbotenen Baumes zur Sünde führt.
• Beatrice erläutert in Par. XXVII, dass das himmlische Sehen und Genießen eine Rückkehr zur ursprünglichen Ordnung ist, deren Echo in Gen 2,16 anklingt.
Theologisch-symbolischer Bezug:
• Für Dante ist der Sündenfall (Gen 3) keine bloße Übertretung, sondern ein Verlassen des rechten Gebrauchs von Freiheit – genau jener, der in Gen 2,16 als Geschenk erscheint.
• Das göttliche Gebot in Gen 2,16 wird in der Divina Commedia zur Chiffre des ordo amoris, des rechten Maßes im Umgang mit den geschaffenen Dingen – zentral für Dantes ethisch-kosmologische Ordnung.
Fazit
• Genesis 2,16 ist der theologisch erste Moment des Geschenks in der Ordnung. Der Mensch erhält nicht bloß Nahrung, sondern ein strukturiertes Leben, in dem Freiheit, Vertrauen und moralische Verantwortung bereits ineinander verwoben sind.
• Dante erkennt in diesem Gebot den Ursprung jener Ordnung, die durch die Commedia hindurch wiederhergestellt wird: Der Mensch darf essen – aber recht. Genuss ist gut – wenn er in Liebe geordnet ist. Die „Divina Commedia“ ist somit eine dramatische Wiederentfaltung von Gen 2,16 – vom Missbrauch der Freiheit (Inferno) zur geheilten Teilnahme am wahren Lebensbaum (Paradiso).