Luther 1545
Aber ein Nebel gieng auff von der Erden / vnd feuchtet alles Land.
Luther 1912
Aber ein Nebel ging auf von der Erde und feuchtete alles Land.
Hebräisch (MT – Masoretischer Text)
וְאֵד יַעֲלֶה מִן־הָאָרֶץ וְהִשְׁקָה אֶת־כָּל־פְּנֵי הָאֲדָמָה׃
Ve’ed ya‘aleh min-ha’aretz, ve-hishqah et-kol penei ha’adamah.
Ein Dunst stieg auf von der Erde und befeuchtete die ganze Fläche des Erdbodens.
Griechisch (Septuaginta / LXX)
πηγὴ δὲ ἀνέβαινεν ἐκ τῆς γῆς καὶ ἐπότιζεν πᾶν τὸ πρόσωπον τῆς γῆς.
Pēgē de anebainen ek tēs gēs kai epotizen pan to prosōpon tēs gēs.
Eine Quelle aber stieg aus der Erde auf und tränkte die ganze Oberfläche der Erde.
Die Septuaginta interpretiert „אֵד“ (’ēd) nicht als „Dunst“, sondern als „Quelle“ (πηγή), was eine geologisch-hydrologische Umdeutung darstellt.
Lateinisch (Vulgata)
sed fons ascendebat e terra irrigans universam superficiem terrae
Aber eine Quelle stieg aus der Erde auf und bewässerte die ganze Oberfläche der Erde.
Die Vulgata folgt der Lesart der Septuaginta.
Theologisch
Dieser Vers beschreibt eine prä-schöpfungsartige Bewässerung der Erde vor der Erschaffung des Menschen (vgl. Gen 2,5). Der ‘ēd (Dunst/Quelle) ist Zeichen göttlicher Fürsorge: Gottes Schöpfung beginnt mit einer Lebensgrundlage – Wasser. Hier beginnt die anthropozentrische Schöpfungserzählung: nicht der Regen (von oben), sondern das Wasser (von unten) ist Grundlage des Lebens.
Liturgisch
In liturgischer Rezeption (z.B. Ostervigil, Schöpfungsgebete) wird dieser Vers als Symbol der Vorbereitung des Paradieses gelesen – die Erde ist noch nicht bestellt, aber bereit gemacht. Es ist ein Bild für sakramentale Gnade: Gottes Wirken durch verborgene Mittel (wie Wasser, das „emporsteigt“), das die Seele nährt.
Philosophisch
Der Aufstieg des ‘ēd kann platonisch als Verbindung des Materiellen mit dem Geistigen interpretiert werden: das Elementare (Erde) bringt das Lebensnotwendige (Wasser) hervor – die Welt trägt in sich selbst das Potenzial zur Belebung. In aristotelischer Tradition könnte dies als Hinweis auf die „potentia“ der Materie verstanden werden: noch ungeformt, aber zur Vollendung disponiert.
Moralisch
Moralisch gelesen verweist dieser Vers auf die Notwendigkeit von Voraussetzungen und Pflege: noch bevor der Mensch wirkt, bereitet Gott das Lebensumfeld. Daraus folgt die Verantwortung des Menschen, nicht zu zerstören, was er nicht geschaffen hat. Es geht um Achtung vor dem Lebensraum – eine ökologische Mahnung avant la lettre.
Allegorisch
Allegorisch wird der aufsteigende ‘ēd oft als Figur des Heiligen Geistes interpretiert (vgl. Augustinus, De Genesi ad litteram), der „vom Grund des Herzens aufsteigt“ und den „Garten der Seele“ bewässert. Der Dunst ist dann ein inneres Erwecken, ein Bild der Gnade, die von innen heraus wirkt, nicht von außen herabfällt.
Symbolisch
Wasser: Leben, Reinigung, Gottes Gnade
Dunst/Quelle: Unsichtbare, stille Wirksamkeit Gottes
Erde: Potenzial des Lebens, der menschliche Leib
Symbolisch entfaltet sich ein Bild des „Innen-Wachsens“: Gottes Geist wirkt in der Tiefe, bevor etwas sichtbar wird.
Metaphorisch
Die Metapher des aufsteigenden Dunstes kann für das Erwachen des Bewusstseins oder die Ahnung des Lebens stehen. Der ‘ēd ist ein Übergangsphänomen – weder ganz Wasser noch ganz Luft – ein Symbol für Zwischenzustände: Vorbereitung, Schwebe, Schöpfungsvorbereitung.
Topos
Der „bewässerte Garten“ oder die „trinkende Erde“ ist ein uralter topos im Alten Orient (vgl. ägyptische und mesopotamische Paradiesbilder). Der ‘ēd entspricht dem Bild des urzeitlichen Wassers, das den Anfang des Fruchtbarmachens kennzeichnet. Es ist der hortus conclusus der Schöpfung, Vorbild des Gartens Eden.
Literarisch-poetisch
Dieser Vers bildet eine Poesie des Unscheinbaren: kein dramatischer Akt, sondern eine stille Geste – ein leiser Dunst, der aufsteigt. Die sanfte Bewegung (ya‘aleh = „emporsteigen“) verbindet Himmel und Erde. Die Reihung von Verben (ya‘aleh – hishqah) erzeugt eine lyrische Spannung, die in der Bewässerung kulminiert. Es ist eine poetische Antizipation des Lebens.
Fazit
Genesis 2,6 ist mehr als nur ein geologischer Hinweis auf eine Wasserquelle. Es ist eine symbolische Verdichtung der Vorbereitung des Lebens: göttlich initiiert, verborgen wirksam, vorauslaufend dem menschlichen Wirken. In diesem unscheinbaren Vers bündelt sich eine tiefe Theologie der Gnade, eine Ethik der Achtsamkeit, eine Philosophie der inneren Bewegung und eine Poesie der Anfänge.