Luther 1545
VND Gott sprach / Die Erde bringe erfür lebendige Thier / ein jglichs nach seiner art / Vieh / Gewürm vnd Thier auff Erden / ein jglichs nach seiner art / Vnd es geschach also.
Luther 1912
Und Gott sprach: Die Erde bringe hervor lebendige Tiere, ein jegliches nach seiner Art: Vieh, Gewürm und Tiere auf Erden, ein jegliches nach seiner Art. Und es geschah also.
Biblisches Hebräisch (Masoretischer Text)
וַיֹּאמֶר אֱלֹהִים, תּוֹצֵא הָאָרֶץ נֶפֶשׁ חַיָּה לְמִינָהּ—בְּהֵמָה וָרֶמֶשׂ וְחַיַּת-אֶרֶץ לְמִינָהּ; וַיְהִי-כֵן.
Analyse:
• וַיֹּאמֶר אֱלֹהִים (vayyómer Elohím): "Und Gott sprach" – klassisches performatives Schöpfungswort.
• תּוֹצֵא הָאָרֶץ (totzé ha'áretz): "Die Erde bringe hervor" – die Erde wird aktiv als Medium göttlicher Schöpfung.
• נֶפֶשׁ חַיָּה (néfesch chayyáh): "lebendige Seele/Wesen" – betont die Beseeltheit des Lebendigen.
• לְמִינָהּ (lemináh): "nach ihrer Art" – betont die Ordnung und Diversität der Schöpfung.
• Dreifache Klassifikation:
• בְּהֵמָה (behemáh): Nutztiere/Vieh
• וָרֶמֶשׂ (varemés): Kriechtiere/Kleingetier
• וְחַיַּת-אֶרֶץ (vᵉchayyat-éretz): wilde Tiere
Biblisches Griechisch (Septuaginta)
καὶ εἶπεν ὁ Θεός· ἐξαγαγέτω ἡ γῆ ψυχὴν ζῶσαν κατὰ γένος, τετράποδα καὶ ἑρπετὰ καὶ θηρία τῆς γῆς κατὰ γένος· καὶ ἐγένετο οὕτως.
Begriffe:
• ψυχὴν ζῶσαν (psychēn zōsan): „lebendige Seele“ – griech. Entsprechung zu נֶפֶשׁ חַיָּה.
• κατὰ γένος (kata génos): "nach Art/Gattung" – Begriff mit philosophischer Tiefe (s. Platon/Aristoteles).
• θηρία (thēría): wilde Tiere, ein Begriff später für wilde Leidenschaften im Menschen verwendet.
Biblisches Lateinisch (Vulgata)
Dixit quoque Deus: Producat terra animam viventem in genere suo, iumenta et reptilia et bestias terrae secundum species suas. Et factum est ita.
Anmerkungen:
• anima vivens: "lebendige Seele" – entspricht ψυχὴ ζῶσα und נֶפֶשׁ חַיָּה.
• in genere suo / secundum species suas: frühe Vorlage für die aristotelische/biologische Taxonomie.
• iumenta: Zugtiere/Nutztiere
• reptilia: Kriechtiere
• bestiae: wilde Tiere – im Mittelalter oft allegorisch negativ konnotiert.
Parallelstellen zu Genesis (1Mose 1:24)
1Mo 1:24 Und Gott sprach: Die Erde bringe hervor lebendige Wesen nach ihrer Art, Vieh, Gewürm und Tiere des Feldes nach ihrer Art! Und es geschah also.
1Mo 6:20 aller Art Vögel und aller Art Vieh und von allem, was auf Erden kriecht, sollen je zwei von jeder Art zu dir kommen, damit sie am Leben bleiben.
1Mo 7:14 sie und alle Arten der Tiere und des Viehs und allerlei Kriechendes, was auf Erden kriecht, von jeglicher Art, auch aller Art Geflügel, Vögel und Federvieh;
1Mo 8:19 Alle Tiere, alles, was kriecht und fliegt, alles, was sich auf Erden regt, nach seinen Gattungen, das verließ die Arche.
Hiob 38:39 Jagst du der Löwin ihre Beute und stillst die Begierde der jungen Löwen,
Hiob 38:40 wenn sie in ihren Höhlen kauern, im Dickicht auf der Lauer liegen?
Hiob 39:1 Kennst du die Zeit, da die Steinböcke gebären, oder hast du beobachtet, wann die Hindinnen werfen?
Hiob 39:5 Wer hat den Wildesel frei laufen lassen, und wer hat die Bande des Wildlings aufgelöst,
Hiob 39:9 Wird der Büffel willig sein, dir zu dienen? Bleibt er an deiner Krippe über Nacht?
Hiob 39:19 Hast du dem Roß Stärke verliehen und seinen Hals mit der flatternden Mähne umhüllt?
Hiob 40:15 Siehe doch das Flußpferd, das ich gemacht habe wie dich: Gras frißt es wie ein Ochs!
Ps 50:9 Ich will keinen Farren aus deinem Hause nehmen, noch Böcke aus deinen Ställen!
Ps 50:10 Denn mein sind alle Tiere des Waldes, das Vieh auf den Bergen zu Tausenden.
Ps 104:18 Die hohen Berge sind für die Steinböcke, die Felsenklüfte sind der Klippdachsen Zuflucht.
Ps 104:23 der Mensch aber geht aus an sein Tagewerk, an seine Arbeit bis zum Abend.
Ps 148:10 wilde Tiere und alles Vieh, alles, was kriecht und fliegt;
Theologische Deutung
• Schöpferische Ordnung: Gott erschafft nicht willkürlich, sondern "nach ihrer Art" – Hinweis auf eine geordnete, strukturierte Welt.
• Mit-Schöpfertum der Erde: Die Erde wird zur aktiven Teilnehmerin am Schöpfungsakt – theologisch relevant für eine Sakramentalität der Schöpfung.
• Anthropozentrische Vorbereitung: Die Erschaffung der Tiere ist die unmittelbare Vorbereitung der Krönung der Schöpfung: des Menschen (Vers 26).
• Göttliche Transzendenz und Immanenz: Gott wirkt durch sein Wort, bleibt dabei aber von der Materie getrennt – zentral im jüdischen und christlichen Gottesbild.
Rezeptionsgeschichte
• Judentum: Midraschim betonen die Weisheit in der Ordnung der Artenvielfalt und interpretieren Tiere oft symbolisch (z. B. Leviathan als Chaosmacht).
• Christentum: Kirchenväter wie Augustinus oder Ambrosius lasen den Vers allegorisch: Tiere = Sinnbilder für Triebe, Seelenkräfte, Dämonen.
• Mittelalterliche Zoologie: Der Vers wird Grundlage für Bestiarien – moralisch-allegorische Tierkunde.
• Reformation: Luther betont die Güte Gottes in der Schöpfung auch der "niederen" Kreaturen; Calvin hebt die göttliche Ordnung hervor.
Philosophische Deutung
• Aristotelisch: "Nach ihrer Art" = frühes Konzept von Spezies/Gattungen (γένος, εἶδος); Ordnung als Ausdruck der logischen Struktur der Natur.
• Platonisch: Tiere als Abbilder idealer Formen; die Erde bringt sie hervor, aber sie verweisen auf transzendente Ideen.
• Spinoza: Tiere sind Teil des göttlichen Natura naturans; kein qualitativer Unterschied zum Menschen (Monismus).
• Heidegger: Der Mensch „existiert“, das Tier ist lediglich „weltarm“ – in Genesis wird der Tierwelt jedoch eine positive Eigenbedeutung zugeschrieben.
Psychologische Deutung
• Heidegger: Tiere als Spiegel der menschlichen Triebe: In der Tiefenpsychologie (Freud/Jung) stehen Tiere oft für unbewusste Anteile des Menschen.
• "nach ihrer Art" könnte psychologisch für die Vielfalt innerseelischer Kräfte stehen – Ordnung der Psyche.
• Erde bringt hervor: Das Unbewusste (Erde) bringt Lebenskräfte (Tierseelen) hervor – Entwicklung der Psyche als schöpferischer Prozess.
Naturwissenschaftliche Deutung
• Evolutionstheorie: Der Text spricht von Artenvielfalt und Differenzierung, was sich mit modernen Konzepten wie „adaptive radiation“ berühren lässt – allerdings ohne evolutionäre Mechanismen.
• "Die Erde bringe hervor": Ansatzpunkt für theistische Evolution – Gott wirkt durch natürliche Prozesse.
• Taxonomie: Die dreifache Einteilung (Nutztier, Wildtier, Kriechtier) ist archaisch, aber die Idee einer Gliederung des Tierreichs ist grundlegend.
• Lebendige Seele: Spannend im Kontext moderner Diskussionen über Tierbewusstsein und tierisches Leiden.