Luther 1545
Da ward aus abend vnd morgen der fünffte Tag.
Luther 1912
Da ward aus Abend und Morgen der fünfte Tag.
1. Biblisches Hebräisch
וַיְהִי־עֶ֥רֶב וַיְהִי־בֹ֖קֶר י֥וֹם חֲמִישִֽׁי׃
Wa-yehi ʿerev, wa-yehi voqer – yom ḥămīšî.
Wort-für-Wort:
wa-yehi – „und es war“
ʿerev – „Abend“
voqer – „Morgen“
yom – „Tag“
ḥămīšî – „fünfter“
Bedeutung:
• Ein weiteres Glied im rhythmischen Aufbau des Schöpfungsberichtes: Das Tagespaar Abend-Morgen markiert den Abschluss des fünften Schöpfungstags.
Biblisches Griechisch (Septuaginta)
Καὶ ἐγένετο ἑσπέρα καὶ ἐγένετο πρωί, ἡμέρα πέμπτη.
• ἐγένετο – „es geschah / es wurde“
• ἑσπέρα – „Abend“
• πρωί – „Morgen“
• ἡμέρα – „Tag“
• πέμπτη – „fünfter“
• Hinweis: Die griechische Version wahrt die Struktur, jedoch mit einem anderen Verb (ἐγένετο statt wa-yehi), das stärker die Werdenhaftigkeit betont.
Biblisches Lateinisch (Vulgata)
Et factum est vespere et mane, dies quintus.
• factum est – „es wurde“ (perfekt passiv)
• vespere – „am Abend“
• mane – „am Morgen“
• dies quintus – „der fünfte Tag“
Hinweis:
Auch hier dominiert das klassische Muster. Die Vulgata hat in der westlichen Rezeption über Jahrhunderte entscheidende Bedeutung erlangt.
Theologische Deutung
Zeitstruktur als göttlicher Ordnungsakt:
Die Formulierung „es ward Abend und es ward Morgen“ stellt einen liturgischen Refrain dar, der die Schöpfung als geordnete, rhythmische und zielgerichtete Tat Gottes inszeniert.
Tageseinheit:
Abend und Morgen markieren nicht einfach eine Tageszeit, sondern symbolisieren den Abschluss eines kreativen Akts. Die jüdische Zeitrechnung beginnt den Tag mit dem Abend – diese Ordnung hat ihren Ursprung hier.
Symbolik des fünften Tages:
In den Versen zuvor (Gen 1,20–22) wurden die Tiere des Wassers und des Himmels erschaffen. Die Fülle des Lebens beginnt sich zu zeigen – der fünfte Tag steht für Bewegung, Vielfalt und Segen.
Rezeptionsgeschichte
Liturgie und Gebetszeiten:
Die Formulierung inspirierte die liturgische Tagesstruktur (Vesper – Morgenlob). Die Ordnung der Tage wurde in Klostertraditionen und Tageszeitengebeten übernommen.
Kirchliche Kosmologie:
Die Zahl „sechs Schöpfungstage + Ruhetag“ wurde zur Grundlage kirchlicher Zeitstruktur, Kalenderordnung und mittelalterlicher Kosmologie (z. B. bei Augustinus oder Thomas von Aquin).
Jüdische Rezeption:
Der Tagesbeginn mit dem Abend beeinflusste die jüdische Liturgie (Schabbat beginnt am Freitagabend) und das liturgische Denken im rabbinischen Judentum.
Philosophische Deutung
Zeit und Ordnung:
Der Vers unterstreicht eine nicht-zirkuläre, sondern lineare Auffassung von Zeit: Zeit entsteht mit der Schöpfung und ist durch göttliche Setzung strukturiert.
→ Augustinus: confessiones XI – Zeit ist ein „Streckmaß der Seele“, entsteht mit der Schöpfung.
Kosmische Rhythmik:
Der Refrain suggeriert einen kreativen Rhythmus. Der Kosmos ist kein Produkt des Zufalls, sondern musikalisch, numerisch und harmonisch geordnet (Kosmos als „Harmonia“ – platonisch).
Pädagogik der Ordnung:
Der Text wird als Erziehungsmodell gelesen: Ordnung, Abfolge, Zäsuren – alle diese Aspekte verweisen auf ein anthropozentrisches Weltverständnis mit göttlicher Pädagogik.
Psychologische Deutung
Übergänge und Zyklen:
Abend und Morgen symbolisieren archetypische Übergänge: Vergehen und Neubeginn. Der Mensch erlebt im Alltag ständig solche „kleinen Schöpfungstage“.
Schöpfung als innerpsychischer Prozess:
Der kreative Akt des Tages kann auf die innere Entwicklung des Menschen gedeutet werden: Aus Chaos (Abend) wird Klarheit (Morgen).
→ Symbolisch für Transformation, Reifung, Identitätsbildung.
Urbilder des Unbewussten:
C. G. Jung könnte diesen Rhythmus als Ausdruck eines archetypischen Ordnungsprinzips im kollektiven Unbewussten interpretieren: Selbststrukturierung des Geistes entlang göttlicher Muster.
Naturwissenschaftliche Deutung
Entwicklung des Lebens:
• Der fünfte Tag beschreibt die Entstehung von Leben in Wasser und Luft – biologisch gesehen ist dies erstaunlich „chronologisch stimmig“:
• Erst Wasserlebewesen, dann Landtiere (am sechsten Tag)
• Der Übergang entspricht einem groben evolutionären Fortschritt (vom Wasser zum Land, einfache zu komplexeren Lebensformen)
Zeitverständnis:
Die biblische Tagesstruktur ist theologisch motiviert, nicht naturwissenschaftlich präzise. Dennoch stellt sie ein frühes Ordnungsmodell für Naturprozesse dar.
Kosmologie:
Das biblische Abend-Morgen-Modell beruht auf alltäglicher Beobachtung, nicht astronomischer Analyse. Die moderne Definition eines Tages (Rotation der Erde) war nicht bekannt, aber der intuitive Sinn für Zyklen war vorhanden.