Luther 1545 VND Gott sprach / Es errege sich das Wasser mit webenden vnd lebendigen Thieren / vnd mit Geuogel / das auff Erden vnter der Feste des Himels fleuget.
Luther 1912 Und Gott sprach: Es errege sich das Wasser mit webenden und lebendigen Tieren, und Gevögel fliege auf Erden unter der Feste des Himmels.
Biblisches Hebräisch (Masoretischer Text)
וַיֹּאמֶר אֱלֹהִים יִשְׁרְצוּ הַמַּיִם שֶׁרֶץ נֶפֶשׁ חַיָּה וְעוֹף יְעוֹפֵף עַל־הָאָרֶץ עַל־פְּנֵי רְקִיעַ הַשָּׁמָיִם׃
Wajómer Elohím: Jischretsú hammajím schérez néfesch chajjáh we'óf je'oféf al-ha'áretz al-pené reqíʿa ha-schamájim.
Wichtige Begriffe:
• יִשְׁרְצוּ (jischretsu): „wimmeln, wimmeln lassen“ – intensive Bewegung im Wasser
• שֶׁרֶץ (šéretz): „Gewürm“, allgemein für kleine, sich rasch bewegende Tiere
• נֶפֶשׁ חַיָּה (néfesch chajjáh): „lebendige Seele“ bzw. „lebendes Wesen“
• עוֹף (ʿóf): „Geflügel“ bzw. „Vogeltier“
• יְעוֹפֵף (jeʿoféf): „soll fliegen“ – im Partizip, andauernd oder regelmäßig
• רְקִיעַ הַשָּׁמָיִם (reqíʿa haschamájim): „Feste des Himmels“ – das Gewölbe des Himmels
Biblisches Griechisch (Septuaginta)
καὶ εἶπεν ὁ Θεός· ἐξαγαγετω τὸ ὕδωρ ἐρπετὰ ψυχῶν ζώσης, καὶ πετεινὰ πετόμενα ἐπάνω τῆς γῆς κατὰ τὸ στερέωμα τοῦ οὐρανοῦ.
Begriffe:
• ἐξαγαγετω τὸ ὕδωρ (exagagetō to hydōr): „Das Wasser bringe hervor“ – Betonung auf schöpferischer Kraft des Wassers
• ἐρπετὰ ψυχῶν ζώσης (herpeta psychōn zōsēs): „Kriechende Tiere lebendiger Seelen“
• πετεινὰ πετόμενα (peteina petomena): „fliegende Vögel“
• κατὰ τὸ στερέωμα (kata to stereōma): „entlang dem Gewölbe“ – wie im Hebräischen „reqíʿa“
Biblisches Lateinisch (Vulgata)
Dixit quoque Deus: Producant aquae reptile animae viventis, et volatile super terram sub firmamento caeli.
Begriffe:
• Producant aquae: „Die Wasser sollen hervorbringen“
• reptile animae viventis: „Kriechtiere lebendiger Seele“
• volatilia: „Vögel“
• sub firmamento caeli: „unter dem Himmelsgewölbe“
Parallelstellen zu Genesis 1:20
1Mo 1:20 Und Gott sprach: Das Wasser soll wimmeln von einer Fülle lebendiger Wesen, und es sollen Vögel fliegen über die Erde, an der Himmelsfeste dahin!
1Mo 1:22 Und Gott segnete sie und sprach: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet das Wasser im Meere, und das Geflügel mehre sich auf Erden!
1Mo 2:19 Und Gott der HERR bildete aus Erde alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und brachte sie zu dem Menschen, daß er sähe, wie er sie nennen würde, und damit jedes lebendige Wesen den Namen trage, den der Mensch ihm gäbe.
1Mo 8:17 Alle Tiere, die bei dir sind, von allem Fleisch: Vögel, Vieh und alles Kriechende, was auf Erden kriecht, sollen mit dir hinausgehen und sich regen auf Erden und sollen fruchtbar sein und sich mehren auf Erden!
Ps 104:24 HERR, wie sind deiner Werke so viel! Du hast sie alle weislich geordnet, und die Erde ist voll deiner Geschöpfe.
Ps 104:25 Da ist das Meer, so groß und weit ausgedehnt; darin wimmelt es ohne Zahl, kleine Tiere samt großen;
Ps 148:10 wilde Tiere und alles Vieh, alles, was kriecht und fliegt;
Apg 17:25 ihm wird auch nicht von Menschenhänden gedient, als ob er etwas bedürfte, da er ja selbst allen Leben und Odem und alles gibt.
1Mo 1:30 aber allen Tieren der Erde und allen Vögeln des Himmels und allem, was auf Erden kriecht, allem, was eine lebendige Seele hat, habe ich alles grüne Kraut zur Nahrung gegeben. Und es geschah also.
Pred 2:21 Denn das Vermögen, das einer sich erworben hat mit Weisheit, Verstand und Geschick, das muß er einem andern zum Erbteil geben, der sich nicht darum bemüht hat; das ist auch eitel und ein großes Unglück!
1Kön 4:33 Er redete auch von den Bäumen, von der Zeder auf dem Libanon bis zum Ysop, der aus der Mauer wächst. Auch redete er vom Vieh, von den Vögeln, von den Reptilien und von den Fischen.
Theologische Deutung
1. Schöpfermacht Gottes:
Gott spricht – und das Wasser wird zur Quelle des Lebens. Der Befehl zur Bewegung („jischretsu“) drückt schöpferische Dynamik aus. Hier wird Gott als Urheber und Lenker von Lebensfülle dargestellt.
2. Leben aus dem Chaos:
Wasser, anfangs Symbol des formlosen Chaos (Gen 1,2), wird hier zum Ursprung differenzierten Lebens – eine Ordnung aus dem ursprünglichen „Tohuwabohu“.
3. Hierarchie der Schöpfung:
Die Trennung zwischen Tieren im Wasser und in der Luft betont Gottes Ordnung. Es ist ein Übergang zur Erschaffung höherer Lebensformen, die sich dann in Gen 1,26 mit dem Menschen kulminieren.
4. „Nefesch Chajjáh“ – Lebendige Seele:
Dies ist der erste explizite Auftritt dieses Begriffs für nichtmenschliches Leben – später auch für Tiere an Land und für den Menschen. Die Verbindung von „Seele“ und Tier wird hier theologisch relevant für die Diskussion um tierliche Beseelung.
Rezeptionsgeschichte
Judentum:
• Midrasch Bereschit Rabba: Betonung auf der Fülle des Lebens – das Wasser als Symbol göttlicher Großzügigkeit.
• Diskussion um die Seele der Tiere – ob auch sie eine Form von „Nefesch“ besitzen.
Christentum:
• Kirchenväter: Augustinus betont die Stufenordnung in der Schöpfung (vita vegetativa → sensitiva → rationalis). Tiere hier auf der Stufe der sensiblen Seele.
• Thomas von Aquin (ST I, q. 70-72): Natur wirkt gemäß göttlichem Willen; die Elemente dienen als Instrumente göttlicher Wirkkraft.
Neuzeit:
• Naturtheologie: Diese Passage wurde häufig als Beweis für Gottes Schöpferweisheit in der Vielfalt der Arten interpretiert (z. B. bei William Paley).
• Ökologische Theologie: Betonung der Lebendigkeit und Eigenwertigkeit der Geschöpfe – besonders angesichts von Artenschutz und Schöpfungsverantwortung.
Philosophische Deutung
1. Begriff des Lebens (Bios / Zoē):
Der Vers ist eine erste Explikation von „Leben“ im Sinne einer schöpferischen Potenz. In aristotelischer Tradition kann man hier die erste Manifestation von „seelenbegabten Wesen“ erkennen – Leben mit innerer Bewegung.
2. Platonisch-gnostische Deutungen:
In spätantiker Gnosis war das Wasser oft ein Bild des Materiellen. Die Tatsache, dass daraus Leben entsteht, wird als göttliche Durchlichtung des Materiellen interpretiert – ein Lichtblick in der „materia confusa“.
3. Leibniz / Goethe (Naturphilosophie):
Der Impuls des „Wimmelns“ oder „Triebes“ kann als Vorläufer moderner Ideen von Selbstorganisation gesehen werden. Die Natur bringt gemäß innerem Gesetz Leben hervor – eine Vorstellung, die sowohl theistisch als auch pantheistisch gedeutet werden kann.
4. Moderne Hermeneutik (z. B. Paul Ricoeur):
Die Sprache von Genesis 1 ist poetisch-symbolisch – der Schöpfungsbefehl als Narrativ des Sinns, nicht als biologisches Protokoll. Das „Wasser, das wimmelt“, ist eine Metapher für das Werden selbst.
Zusammenfassung
Genesis 1,20 ist ein Schlüsselvers der biblischen Kosmologie, in dem aus der göttlichen Rede das Leben im Wasser und in der Luft entsteht. In allen drei Originalsprachen wird eine dynamische, schöpferische Bewegung beschrieben. Theologisch steht der Vers für Fülle, Ordnung und göttliche Lebensmacht. Philosophisch regt er zum Nachdenken über das Wesen des Lebens, der Seele und der Naturordnung an. Rezeptionsgeschichtlich war er fruchtbar für mystische, naturtheologische, aber auch ökologische Deutungen.