Luther 1545 VND Gott sprach / Es samle sich das Wasser vnter dem Himel / an sondere Örter / das man das Trocken sehe / Vnd es geschach also.
Luther 1912 Und Gott sprach: Es sammle sich das Wasser unter dem Himmel an besondere Örter, daß man das Trockene sehe. Und es geschah also.
Parallelstellen zu Genesis (1Mose) 1:9
1Mo 1:9 Und Gott sprach: Es sammle sich das Wasser unter dem Himmel an besondere Örter, daß man das Trockene sehe. Und es geschah also.
Hiob 38:8 Wer hat das Meer mit Türen verschlossen, da es herausbrach wie aus Mutterleib,
2Pet 3:5 Aber aus Mutwillen wollen sie nicht wissen, daß der Himmel vorzeiten auch war, dazu die Erde aus Wasser, und im Wasser bestanden durch Gottes Wort;
Hebräisch (Masoretischer Text)
וַיֹּאמֶר אֱלֹהִים: יִקָּווּ הַמַּיִם מִתַּחַת הַשָּׁמַיִם אֶל־מָקוֹם אֶחָד וְתֵרָאֶה הַיַּבָּשָׁה; וַיְהִי כֵן׃
> Wajjómer ʾElohîm: Jiqḳāwû hammáyim mittáḥat haššāmajim ʾel-māqôm ʾeḥād, wəterāʾeh hayyabbašāh; wajəhî kēn.
Sprachlich-exegetische Analyse
• וַיֹּאמֶר | Waw-consecutivum + Imperfekt Qal 3ms von אָמַר („sagen“); markiert eine narrative Fortschreitung.
• אֱלֹהִים | Subjekt, Pluralform mit singularischem Verb – klassisch als Majestätischer Plural interpretiert.
• יִקָּווּ | Imperfekt Nifal 3mp von קָוָה („sammeln“); reflexive/passive Bedeutung: „Es möge sich versammeln“.
• הַמַּיִם | Definierter Plural von מַיִם („Wasser“).
• מִתַּחַת הַשָּׁמַיִם | Lokale Präposition „unter dem Himmel“.
• אֶל־מָקוֹם אֶחָד | „An einen Ort“ – ʾeḥād betont Einheit, nicht bloß numerisch, sondern geordnet.
• וְתֵרָאֶה | Waw-consecutivum + Imperfekt Nifal 3fs von רָאָה („sehen“): „möge sichtbar werden“.
• הַיַּבָּשָׁה | Fem. Substantiv „das Trockene“ – erscheint erstmals hier.
• וַיְהִי כֵן | Klassischer Abschlussformel: „und es war so“ – Bestätigung göttlicher Effizienz.
Theologische Hinweise
• Die Trennung und Ordnung ist ein zentrales Schöpfungsmotiv.
• מָקוֹם אֶחָד = göttliche Ordnung schafft Raum, Einheit und bewohnbares Land.
• יִקָּווּ... וְתֵרָאֶה zeigt zwei verbundene Handlungen: Rückzug des Wassers und Offenbarung des Landes.
Griechisch (Septuaginta)
Καὶ εἶπεν ὁ Θεός· συναχθήτω τὸ ὕδωρ τὸ ὑποκάτω τοῦ οὐρανοῦ εἰς συναγωγὴν μίαν, καὶ ὀφθήτω ἡ ξηρά· καὶ ἐγένετο οὕτως.
Sprachlich-exegetische Analyse
• συναχθήτω | Aorist Passiv Imperativ 3.sg. von συνάγω – „es werde versammelt“ (wörtl. passivisch wie Hebräisch).
• τὸ ὕδωρ τὸ ὑποκάτω τοῦ οὐρανοῦ | Umschreibung des „unter dem Himmel“; ὕδωρ = Wasser (Singular).
• εἰς συναγωγὴν μίαν | „in eine Versammlung / Sammlung“ – betont strukturelle Einheit (συναγωγή = „Zusammenbringung“, auch später jüdische Gemeinde!).
• καὶ ὀφθήτω | Aorist Passiv Imperativ von ὁράω – „es werde gesehen“ / „sichtbar werde“.
• ἡ ξηρά | Fem. Nomen „das Trockene“, ξηρός = „trocken“, auch metaphorisch für Entbehrung oder geistliche Dürre.
• ἐγένετο οὕτως | Standardformel – göttliches Wort verwirklicht sich im Kosmos.
Theologische Hinweise
Das Wort συναγωγή bringt sakrale Konnotation: Sammlung = Ordnung = Heil.
• ὀφθήτω betont Offenbarungsperspektive: Das Land wird sichtbar, nicht nur „erscheint“.
Lateinisch (Vulgata)
Dixit vero Deus: Congregentur aquae, quae sub caelo sunt, in locum unum: et appareat arida. Factumque est ita.
Sprachlich-exegetische Analyse
• Dixit vero Deus | „Wahrlich sprach Gott“ – vero verstärkt die göttliche Autorität.
• Congregentur | Konjunktiv Präsens Passiv 3.pl. von congregare – „sie mögen sich versammeln“; klassische Passivform für göttliche Verfügung.
• aquae, quae sub caelo sunt | Relativsatz – „die unter dem Himmel sind“ – klare Lokalangabe.
• in locum unum | „an einen Ort“ – betont geordnete Struktur, ähnlich wie Hebr. מָקוֹם אֶחָד.
• appareat arida | Konjunktiv Präsens Aktiv von appareo – „sie möge erscheinen“, wörtl. „sichtbar werden“.
• Factumque est ita | Wörtlich: „und so wurde es gemacht“ – betont göttliche Umsetzungskraft (vgl. fiat lux).
Theologische Hinweise
Congregentur... appareat – zwei göttliche Willensäußerungen: Rückzug und Sichtbarwerden als göttlicher Doppelschritt.
• Das Vulgata-Latein unterstreicht stark die Kausalität göttlichen Willens: factum est ita = es geschah nicht von selbst, sondern durch Gottes Verfügung.
Vergleich & Zusammenfassung
• Bild für Ordnung | מָקוֹם אֶחָד – „ein Ort“ | συναγωγή μία – sakral konnotierte Sammlung | in locum unum – Raumstruktur
• Sichtbarkeitsverb | וְתֵרָאֶה (Nifal – passiv-reflexiv) | ὀφθήτω (sichtbar gemacht) | appareat (erscheine)
• Theologischer Akzent | Kosmische Ordnung als Raum für Leben | Sammlung als heilsgeschichtliche Bewegung | Willensäußerung als schöpferische Kraft
Theologische Deutung
a) Schöpfung durch das Wort (creatio per verbum)
Gott schafft nicht durch Kampf oder durch bereits bestehende Materie, sondern durch das Wort: „Und Gott sprach...“. Dies ist Ausdruck der biblischen Logos-Theologie, wie sie im Johannesprolog vertieft wird („Im Anfang war das Wort...“). Die göttliche Sprache hat schöpferische Kraft – ein Zeichen des transzendenten und souveränen Gottes, der allein durch Willen und Sprache Ordnung schafft.
b) Gott als Ordner und Unterscheider
Die Sammlung des Wassers impliziert eine Ordnung des vormals chaotischen Elements. Dies reflektiert das zentrale biblische Motiv der Trennung von Chaos und Kosmos: Gott schafft Raum, Differenzierung und Struktur. Das Trockene, das sichtbar wird, ist die Voraussetzung für bewohnbares Land und somit auch für Leben.
c) Zielgerichtete Schöpfung
Die Ordnung dient einem Zweck: „daß man das Trockene sehe“. Die Sichtbarkeit ist mehr als optisch zu verstehen – es ist eine Offenbarung des Raums, in dem sich Geschichte und Heil entfalten können. Gott schafft nicht aus Zufall, sondern mit teleologischer Intention.
Systematisch-Philosophische Perspektive
a) Ontologische Trennung: Sein und Nicht-Sein
Die Scheidung von Wasser und Land kann als frühe Form der Ontologie verstanden werden: Wasser steht im semitischen Denken oft für das Ursprungschaos (tehom), das Trockene für Sein, Struktur, Ort und Dauer. Die Erde tritt als stabiler, tragender Grund hervor – das ist eine Bewegung vom Potential zum Aktuellen, vom Nicht-Ort (Utopie) zum bestimmten Ort (Topos).
b) Raum als Bedingung von Erscheinung
Heidegger könnte hier ansetzen: Das Trockene wird sichtbar – das heißt, es erscheint im Horizont des Seins. Damit beginnt Welt im eigentlichen Sinne: die Welt als Offenheit, als Raum der Entbergung. Der Schöpfungsakt ist somit auch ein Ereignis der Weltwerdung im Sinne einer phänomenologischen Entfaltung.
c) Kosmologische Rationalität
Der Vers impliziert eine rationale Strukturierung der Welt. Im Gegensatz zu mythischen Kosmologien, in denen Götter in chaotischem Wettkampf das Land aus dem Wasser heben (z.B. Marduk vs. Tiamat in der babylonischen Mythologie), ist der biblische Gott ein rationales Prinzip, das durch geistige Verfügung Ordnung schafft – das hat tiefe Konsequenzen für die westliche Wissenschaftsauffassung, die eine ordnende, gesetzmäßige Natur voraussetzt.
Anthropologische Perspektive
a) Vorbereitung des Lebensraums
Durch die Sammlung des Wassers entsteht Land – ein Raum für Leben, insbesondere für den Menschen. Der Schöpfungsakt ist also nicht nur ontologisch, sondern anthropozentrisch motiviert. Die Welt ist auf den Menschen hin geordnet – eine Idee, die später in der christlichen Schöpfungstheologie zur Imago-Dei-Lehre führt.
b) Symbolik des Trockenen
Im alttestamentlichen Denken steht das Trockene oft für das Gelobte Land, für Heimat, für das, was Frucht trägt. Das Wasser dagegen symbolisiert Fremde, Bedrohung, Chaos. Die Heraushebung des Landes ist also ein heilsgeschichtliches Symbol: Die Ordnung Gottes schafft Ort, Sicherheit und Richtung für den Menschen.
Typologische und spirituelle Lesart (Patristik & Mystik)
a) Typologie: Land als Ecclesia
Die Kirchenväter (z.B. Origenes, Augustinus) lesen diesen Vers typologisch: Das sichtbar werdende Land steht für die Kirche, die aus dem Chaos der Welt (Wasser) heraustritt. Sie ist das Gefäß des Lebens, Fruchtbarkeit und Wahrheit.
b) Mystik: Die Sammlung des Inneren
Mystisch gedeutet (z.B. bei Gregor von Nyssa oder Meister Eckhart) ist die Sammlung des Wassers die Beruhigung des inneren Chaos, die Voraussetzung für das Aufscheinen der wahren geistigen Substanz – also des „Trockenen“ als festem Grund des Ich, der Seele oder des göttlichen Funkens im Menschen.
Fazit
Genesis 1:9 ist mehr als ein naturmythologischer Bericht über die Entstehung des Festlandes. In ihm verdichten sich tiefgreifende theologische, metaphysische und anthropologische Konzepte:
• Gott ist Logos, der durch Sprache Ordnung schafft.
• Das Wasser steht für das amorphe, chaotische Potential – das Land für aktualisiertes, gegliedertes Sein.
• Der sichtbare Raum ist Bedingung für Offenbarung, Geschichte und Heil.
• Philosophisch gesehen ist dieser Vers ein Schlüssel zum Verständnis der abendländischen Auffassung von Welt, Natur, Ordnung und Person.