faust-1-08-02-auerbachs keller

Faust.
Der Tragödie erster Theil

Johann Wolfgang von Goethe

Auerbachs Keller in Leipzig. (2)
Zeche lustiger Gesellen.

Frosch, Brandner, Siebel, Altmayer.

Frosch. singt.
2101 Schwing’ dich auf, Frau Nachtigall,
Frosch beginnt mit einem Lied, das auf den ersten Blick eine harmlose, volkstümlich-liebevolle Anrufung eines Vogels ist. Die Nachtigall ist seit der Antike ein Symbol der Liebe, der Dichtung und auch der Klage. Ihre Stimme steht für Sehnsucht, Natur und Poesie. Frosch benutzt diese traditionelle Symbolik, um sich selbst als empfindsam und liebevoll darzustellen – doch das bleibt aufgesetzt. Die Sprache ist überhöht, fast parodistisch, besonders im Vergleich zur groben Atmosphäre des Kellers. Der Ton ist kokettierend und soll wohl Eindruck schinden – entweder auf die Zechkumpanen oder (theatralisch) auf eine imaginierte Geliebte.
Die kulturell hochstehende Figur der »Frau Nachtigall« wird von einem trunkenen, derben Studenten bemüht – ein komischer Kontrast. Goethes Ironie zielt auf das Missverhältnis zwischen Poesie und Trivialität, zwischen Ideal und der Realität des Spießertums. Es ist ein ironisches Spiel mit bürgerlicher Empfindsamkeit.

2102 Grüß’ mir mein Liebchen zehentausendmal.
Diese übertriebene Zahl betont die Künstlichkeit und Schwulstigkeit des Ausdrucks. Zehntausend Grüße sind eine rhetorische Eskalation, die nicht mehr Zärtlichkeit, sondern Sentimentalität verrät – eine Gefühlsduselei, wie sie in studentischen Trinkliedern oder sentimentalen Liedern des 18. Jahrhunderts verbreitet war.
Hier parodiert Goethe das Pathos bürgerlicher Liebeslyrik. Die Ironie liegt im Überschwang, der durch den Kontext – Frosch in einem Saufkeller – ad absurdum geführt wird. Liebe wird zur Pose, zur Routinefloskel in einem Lied, das in diesem Milieu nicht ernst gemeint sein kann.

Siebel.
2103 Dem Liebchen keinen Gruß! ich will davon nichts hören!
Siebel widerspricht barsch – sein Ausruf deutet auf eigene Verletzungen oder auf Zynismus gegenüber dem Thema Liebe hin. Die Verweigerung jeglichen Grußes lässt auf Enttäuschung, Misogynie oder Eifersucht schließen. Es ist ein Bruch mit dem geselligen Spiel der Trinklieder, ein Moment persönlicher Bitterkeit im ansonsten ausgelassenen Rahmen.
Siebel steht exemplarisch für die Schattenseite der romantischen Liebe: Enttäuschung, Verbitterung, möglicherweise Verletzung durch Zurückweisung oder Untreue. Auch das kann als Spiegel bürgerlicher Doppelmoral gelesen werden: die Liebe wird idealisiert und zugleich entwertet. Vielleicht steht Siebel auch für eine andere Männlichkeitsauffassung – er will sich dem romantischen Pathos nicht anschließen, sondern kontert mit realistischem (oder verbittertem) Widerstand.

Frosch.
2104 Dem Liebchen Gruß und Kuß! du wirst mir’s nicht verwehren!
Frosch bleibt beim romantischen Klischee, verstärkt es sogar durch die Hinzufügung des »Kuß«. Gleichzeitig attackiert er Siebels Einwand direkt und macht sich zum Verteidiger der Liebe – oder zumindest ihrer Rhetorik. Er nimmt die Pose des wahren Liebenden ein, obwohl der Ton übertrieben und herausfordernd ist. Es entsteht ein männlich-rituelles Kräftemessen unter Trinkern.
Frosch benutzt das Thema der Liebe nicht als echtes Gefühl, sondern als Mittel zur Selbstdarstellung im Konkurrenzspiel mit Siebel. Der »Kuß« ist hier kaum als zärtliche Geste gemeint, sondern steht für sexuelle Eroberung und männliche Besitzbehauptung. Die Betonung liegt weniger auf dem Objekt der Liebe als auf dem sozialen Rangkampf unter Männern. Der Liebesdiskurs wird zum Wettbewerb.

Zusammenfassend 2101-2104
1. Ironisierung der bürgerlich-sentimentalen Liebesrhetorik:
Goethe spielt mit der Kluft zwischen echter Emotion und ihrer formelhaften Darstellung. Die »zehntausend Grüße« und der Gesang an die Nachtigall stehen für eine konventionelle, inflationäre Rhetorik, die die Substanz verloren hat.
2. Liebe als Spiel und Ritual:
In dieser Szene wird deutlich, dass Liebe hier nicht als existenzielles Gefühl, sondern als sozialer Akt inszeniert wird. Die Trinklieder funktionieren als Rituale, in denen Männlichkeit, Macht und Hierarchie ausgehandelt werden – nicht Gefühle.
3. Entfremdung und Zynismus:
Siebels Reaktion offenbart eine existentielle Leere oder Kränkung. Die Philosophie der Entfremdung zeigt sich darin, dass das Gefühl, das ursprünglich als »authentisch« gilt (die Liebe), ins Lächerliche gezogen oder verweigert wird. Die Szene berührt damit bereits Themen der Moderne.
4. Der Kontrast von Ideal und Wirklichkeit:
Die Nachtigall, Symbol der romantischen Liebe und Schönheit, wird hier durch Froschs Gesang in die Saufkneipe gezerrt – ein drastischer Kontrast, der das Scheitern idealistischer Vorstellungen im Alltag markiert.
5. Die poetologische Selbstreflexion:
Goethe reflektiert auf literaturtheoretischer Ebene das Verhältnis zwischen echter Poesie und ihrer Parodie. Frosch, der eine Nachtigall anruft, parodiert den Dichter selbst – ein Meta-Kommentar über die Gefährdung des Poetischen durch Übernutzung und Entfremdung.
6. Vorbereitung auf Mephistos Spott-Rhetorik:
Die Szene wirkt wie ein satirisches Vorspiel zur dämonischen Ironie Mephistos, der später in der Szene auftaucht. Die Trinksprüche und Zankereien bereiten das Feld für seine manipulative Rhetorik. Die Leere und Lächerlichkeit menschlicher Beziehungen wird durch Mephisto dann nur noch verstärkt.

Singt.

2105 Riegel auf! in stiller Nacht.
Wörtlich: Das nächtliche Öffnen eines Riegels – sinnbildlich für das heimliche Öffnen einer Tür (vermutlich zu einer Kammer oder Schlafstube).
Erotische Konnotation: Die Formulierung evoziert ein sexuelles Eindringen, eine heimliche nächtliche Begegnung. Die Nacht bietet Deckung, Verheimlichung, Intimität.
Subtext: In der »stillen Nacht« erwacht das Begehren, das Gesetz des Tages ist suspendiert. Das Öffnen des Riegels symbolisiert nicht nur einen körperlichen, sondern auch einen sozialen Tabubruch – das Übertreten gesellschaftlicher Schranken.
Intertextueller Hintergrund: Die Nacht als Zeit der Leidenschaft und des Triebs ist ein Topos der Liebesdichtung (z. B. im Minnesang oder bei Shakespeare).

2106 Riegel auf! der Liebste wacht.
Wörtlich: Der Liebhaber ist wach und wartet – möglicherweise draußen vor der Tür. Der Reim »wacht« / »Nacht« verstärkt die intime Atmosphäre.
Handlungsdynamik: Der Impuls geht vom wartenden Liebhaber aus, nicht vom Subjekt der Tür – es handelt sich vermutlich um ein heimliches Stelldichein, bei dem die Geliebte (implizit) den Riegel öffnet.
Symbolisch: Der »wachende Liebste« ist nicht nur Ausdruck sinnlicher Begierde, sondern auch des Begehrens nach Nähe, Verbindung, Einswerden.
Subtext: Es klingt eine gewisse Sehnsucht an, aber auch eine erotische Dringlichkeit. Wachsein bedeutet hier nicht nur körperliche Präsenz, sondern emotionale Alarmbereitschaft.

2107 Riegel zu! des Morgens früh.
Wörtlich: Sobald der Morgen graut, wird der Riegel wieder geschlossen – das Heimliche muss verheimlicht bleiben, das gesellschaftliche Tageslicht fordert Ordnung.
Poetische Umkehr: Nacht = Freiheit, Tag = Einschränkung. Was sich im Dunkel regt, muss im Hellen verschwinden.
Subtext: Das Flüchtige, das Verbotene, das Körperliche wird nicht verleugnet, aber auch nicht in den Alltag integriert. Es bleibt episodisch, verdrängt.
Sozialer Kommentar: Die Sexualität der Studenten ist flüchtig, triebhaft, und wird nie zu verantwortlicher Beziehung. Die Nacht erlaubt, was der Tag verbietet.

Zusammenfassend 2105-2107
1. Eros und Thanatos – Liebe, Trieb, Endlichkeit:
Der erotische Impuls wird als nächtliches, triebhaftes Geschehen inszeniert, das außerhalb der Vernunft steht. Die zeitliche Begrenzung verweist auf die Sterblichkeit und das Unwiederholbare des Augenblicks.
2. Spaltung von Tag und Nacht – Moral und Trieb:
Die Ordnung des Tages (symbolisch: Gesellschaft, Moral, Institution) steht im Gegensatz zur Triebentfaltung der Nacht (symbolisch: Natur, Unterbewusstes, Libido). Diese Spannung reflektiert die Goethesche Anthropologie zwischen Natur und Geist.
3. Öffnung und Verschluss – das Motiv der Schwelle:
Der Riegel als Schwellen-Symbol markiert den Übergang zwischen zwei Sphären: öffentlich / privat, moralisch / unmoralisch, wach / träumend. Die Bewegung von »auf« zu »zu« folgt einem rituellen Zyklus – wie Geburt und Tod, Wunsch und Entsagung.
4. Die Entfremdung des Begehrens:
Das Liebesmotiv ist entleert von Beziehung – es geht um flüchtige Lust, nicht um Begegnung. Der Liebste ist anonym, das Begehren bleibt isoliert. Diese Trennung spiegelt eine Entfremdung der Sexualität wider, die Goethe auch in anderen Figuren kritisch beleuchtet.
5. Zynischer Hedonismus der Studentenwelt:
In dieser Studentenparodie offenbart sich ein flacher, körperlich fixierter Hedonismus, der zur Karikatur echter Lebens- oder Liebesbedeutung wird. Das Lied dient als ironisches Kontrastbild zu Fausts existenzieller Sehnsucht nach Erfüllung.
6. Vorwegnahme von Gretchens Schicksal:
Das Motiv des nächtlichen Eindringens, der Verführung im Verborgenen und des anschließenden Verschweigens antizipiert das Schicksal von Gretchen. Was hier verspielt und anzüglich erscheint, erhält im Verlauf des Dramas tragische Tiefe.

Siebel.
2108 Ja, singe, singe nur, und lob’ und rühme sie!
Ton und Haltung: Sarkasmus und Bitterkeit bestimmen diesen Vers. Siebel reagiert auf das Lied (bzw. auf die verliebte Begeisterung) eines anderen Zechbruders, vermutlich Frosch, über eine Frau. Das wiederholte »singe« und der imperativische Tonfall (»lob’ und rühme«) zeigen nicht nur Ironie, sondern auch Verachtung.
Subtext: Die Frau, die besungen wird, war offenbar einst auch Siebels Angebetete, oder zumindest hat sie ihn abgewiesen oder enttäuscht. Seine Worte sind keine neutralen Kommentare, sondern entlarven eine persönliche Verletzung, die er ins Lächerliche zu ziehen versucht.
Psychodynamik: Siebel positioniert sich als Erfahrener, als einer, der durch Enttäuschung »erwacht« ist – im Gegensatz zum Naiven, der noch singt und schwärmt.

2109 Ich will zu meiner Zeit schon lachen.
Tonfall: Drohend, aber auch selbstgefällig. Der Sprecher kündigt an, dass der Moment kommen werde, in dem er sich über den anderen lustig machen kann.
Dramaturgische Funktion: Dieser Vers fungiert als eine Art Prophezeiung des Scheiterns romantischer Schwärmerei – eine Wiederholung dessen, was Siebel offenbar selbst erlebt hat.
Zeitstruktur: Interessant ist die Formulierung »zu meiner Zeit« – sie verweist auf eine zukünftige Genugtuung, auf einen Moment des »gerechten« Ausgleichs, der aber noch aussteht.
Subtext: Rachsucht, Groll, die heimliche Hoffnung, dass sich das Leid des Sprechers wiederholt – allerdings am anderen. Es ist eine psychologische Abwehrreaktion auf gekränkte Liebe: Wenn ich schon leide, sollst du es auch.

2110 Sie hat mich angeführt, dir wird sie’s auch so machen.
Aussage: Die Frau, um die es geht (sie bleibt ungenannt), hat ihn »angeführt« – d. h. betrogen, getäuscht, vielleicht nur mit Zuneigung gelockt, ohne diese wirklich zu meinen.
Subtext und Rollentausch: Der Vorwurf gegen die Frau maskiert die eigene Verletzlichkeit. Die Projektion auf den anderen (»dir wird sie’s auch so machen«) verdeckt, dass hier eigentlich das eigene Scheitern verarbeitet wird.
Sprachliche Funktion: Das Wort »angeführt« ist mehrdeutig – es schwingt etwas Theatralisches, ja vielleicht eine Narrenkappe mit. Der Sprecher ist nicht nur betrogen worden, sondern fühlt sich vorgeführt, wie ein Dummkopf.

Zusammenfassend 2108-2110
1. Gekränkte Männlichkeit und das verletzte Ich
Der Monolog ist Ausdruck männlicher Gekränktheit. Die Frau erscheint nicht als autonomes Subjekt, sondern als Objekt, das entweder bestätigt oder verletzt. Ihre Handlungen dienen der Selbstdefinition des Mannes: Liebe gibt ihm Macht oder macht ihn zum Narren.
2. Die Projektion des Schmerzes als Selbstschutz
Siebel schützt sich vor dem Schmerz der Zurückweisung durch eine Umdeutung des Geschehenen: Nicht er hat falsch geliebt, sondern sie war falsch. Dies entspricht einer grundlegenden menschlichen Abwehrstrategie, wie sie etwa in Freuds Theorie der Projektion oder im stoischen Denken (»Nicht die Dinge an sich verletzen uns, sondern unsere Urteile über sie«) eine Rolle spielt.
3. Zynismus als Ersatz für Trauer
Die heitere Trinkgesellschaft wird durchbrochen von einem Moment des Zynismus. Anstelle von Offenheit oder Reflexion steht Spott und Bitterkeit. Dies verweist auf eine entmenschlichende Verdrängung des Leids – eine Haltung, die sich in Fausts Weltbild, besonders im Umgang mit Gretchen, wiederholen wird.
4. Fatalismus in zwischenmenschlichen Beziehungen
Siebel stellt ein deterministisches Weltbild auf: Wenn er getäuscht wurde, dann wird auch der andere getäuscht. Er glaubt nicht mehr an individuelle Freiheit oder echte Zuneigung, sondern an ein mechanisches Muster von Täuschung und Enttäuschung. Das verweist auf ein negatives Menschenbild, das später auch Mephistopheles in seinen zynischen Weltdeutungen vertreten wird.
5. Verschwörung gegen das Weibliche
Ohne es offen zu benennen, fügt sich Siebels Aussage in eine tiefere misogyn motivierte Erzählstruktur ein, wie sie an mehreren Stellen des Dramas auftaucht: Frauen sind verführerisch, falsch, trügerisch – eine Sichtweise, die in der späteren Gretchentragödie tragische Dimensionen annimmt und auf biblische Archetypen (Eva, Pandora) verweist.

2111 Zum Liebsten sey ein Kobold ihr bescheert!
Siebel wünscht einem Mädchen, das ihn wohl abgewiesen oder verspottet hat, dass ihr nächster Liebhaber ein Kobold sein möge – ein listiger, oft boshafter Naturgeist der Volksüberlieferung.
Die Wendung »zum Liebsten« ist ironisch, ja spöttisch konnotiert – was normalerweise Zärtlichkeit ausdrückt, wird hier zum Fluch umgewendet.
Das Wort »bescheert« (regional und veraltet für »beschert«) impliziert eine Art Geschenk oder Zuteilung, allerdings in einem böswilligen, sarkastischen Sinn.
Der Wunsch nach einem Kobold als Liebhaber offenbart tiefe Kränkung, Rachsucht und eine sexuell aufgeladene Kränkungsmystik. Der Kobold steht nicht nur für das Unheimliche, sondern auch für das dämonisch Verführerische – ein Spiegel dunkler Begierden, die sich in höhnischer Sprache äußern.
In mythologischer Hinsicht ist der Kobold eine zwielichtige Figur: Zwischen Mensch und Dämon, zwischen Scherz und Ernst, zwischen Spiel und Gewalt. Siebel projiziert seine Demütigung auf das Weibliche, das er dämonisiert.

2112 Der mag mit ihr auf einem Kreuzweg schäkern;
Der Kobold soll mit dem Mädchen auf einem Kreuzweg »schäkern«, d.h. tändeln oder schamloses Liebesspiel treiben – wiederum in einer herabsetzenden, spöttischen Absicht.
In der Volksüberlieferung ist der Kreuzweg ein Ort der Unsicherheit, des Übergangs, aber auch der Begegnung mit Dämonen und Geistern. Hier kreuzen sich nicht nur Straßen, sondern auch symbolisch: Leben und Tod, Diesseits und Jenseits, Entscheidung und Verlorenheit.
Der Ort des Kreuzwegs ist mehr als ein Schauplatz: Er ist mythisch übercodiert. Er steht für Ungewissheit, Verwirrung, dämonische Begegnung – häufig auch für erotische Grenzerfahrungen oder sogar sexuelle Gewalt in Volksmärchen. Das Schäkern auf einem Kreuzweg bekommt in diesem Kontext eine unheimlich obszöne Doppeldeutigkeit.
Die Sexualität, die hier unterstellt wird, ist weder zärtlich noch menschlich, sondern dämonisch, exzessiv, entmenschlicht. Siebel äußert seine Verachtung gegenüber weiblicher Autonomie, indem er sie in einen dämonischen Raum verbannt.

Zusammenfassend 2111-2112
1. Verletzter männlicher Stolz und Projektion auf das Dämonische
Siebels Spott verdeckt ein verletztes männliches Ego, das sich durch Spott, Flüche und phantasmagorische Bilder (Kobold, Kreuzweg) entlädt. Die Frau wird nicht mehr als Subjekt, sondern als Objekt dämonischer Bestrafung imaginiert – eine Form misogynen Magiedenkens.
2. Grenzräume des Bewusstseins – Kreuzweg als psychischer Topos
Der Kreuzweg steht nicht nur für einen Ort, sondern für innere Zerrissenheit. In der Mystik wie in der Psychoanalyse ist der Kreuzweg ein Ort der Entscheidung, aber auch der Verführung und des Absturzes. Hier geraten Instinkt und Moral, Trieb und Hemmung in Konflikt – ein Mikrokosmos des gesamten Faust-Dramas.
3. Erotik, Dämonie und Volksglaube
Die Verbindung von Erotik und Dämonie ist ein durchgehendes Motiv bei Goethe – vor allem im Umfeld Mephistopheles. Hier zeigt sich eine Volksreligiosität, in der Lust mit dem Teuflischen assoziiert wird. Der Kobold ist Träger dieser Projektion – ein Lüstling, der aus dem Jenseits kommt, um das Weibliche zu strafen oder zu verderben.
4. Sprache als Medium der Gewalt
Siebels Worte sind keine harmlosen Späße. Die Sprache wird zum Werkzeug der Rachefantasie, zur sprachlichen Dämonisierung eines anderen Menschen. Das »Wünschen« (dass ein Kobold beschert werde) ist performativ – es ist nicht nur Rede, sondern Aggression in sprachlicher Form.
5. Vorahnung mephistophelischer Dynamiken
Schon in dieser »bäurischen« Szene taucht Mephistos Welt auf – in vulgärerer, volkstümlicher Form. Die Verbindung von Sexualität, Spott, Zauberglauben und Grenzräumen (Kobold, Kreuzweg) antizipiert Mephistopheles' Wirken in Gretchens Welt.
Was hier als Spott erscheint, ist ein Schattenriss des späteren Verderbens.

2113 Ein alter Bock, wenn er vom Blocksberg kehrt,
Dieser Vers spielt auf eine volkstümlich-magische Vorstellungswelt an, insbesondere auf die Walpurgisnacht auf dem Blocksberg (Brocken im Harz), einem mythisch aufgeladenen Ort, an dem sich laut germanischem Volksglauben Hexen und Dämonen zur Frühlingsnacht versammeln.
Der »alte Bock« ist ein vielschichtiges Bild:
Wörtlich meint es ein Ziegenbock, ein Tier, das in der christlichen Ikonographie häufig mit dem Teufel assoziiert ist.
Im übertragenen Sinn kann es sich um eine maskuline, triebhafte, alte Gestalt handeln, die in der Hexennacht »aktiv« war – also sexuell, orgiastisch, dämonisch.
Schließlich schwingt auch eine karikierende Herabsetzung mit: Wer am Hexensabbat teilnimmt, wirkt von außen lächerlich – ein alter, geiler Bock, der aus dem Jenseits der Dämonenwelt zurückkehrt.
Der Satz »wenn er vom Blocksberg kehrt« suggeriert Rückkehr aus einem anderen Reich – dem Reich der Magie und der Grenzüberschreitung –, was den Bezug zu Faust und Mephistopheles andeutet, ohne diese direkt zu nennen. Es entsteht eine dunkle Folie, in der das Profane und das Dämonische ineinander übergehen.

2114 Mag im Galopp noch gute Nacht ihr meckern!
Dieser Vers ist in seinem Tonfall spöttisch, doppeldeutig und sexuell aufgeladen:
»Im Galopp« evoziert das Bild eines überstürzten, schnellen, vielleicht animalischen Aktes. Es ist eine Anspielung auf einen triebhaften, hastigen Geschlechtsakt, der zugleich grotesk und animalisch erscheint.
»Gute Nacht ihr meckern« ist ein zweideutiger Ausdruck:
Auf der Oberfläche meint es, dass der Bock meckernd »Gute Nacht« sagt.
»Meckern« ist aber auch ein lautmalerisches Verb, das den Laut der Ziege imitiert – wiederum eine Verbindung zur dämonischen Gestalt.
»Gute Nacht« könnte ironisch sein – entweder als Spott über eine sexuelle Erschöpfung (»danach sagt man Gute Nacht«) oder als makabre Anspielung auf ein dämonisches Nachtleben.
Der ganze Vers schwingt also in einer mischtonalen Schwebe zwischen Spott, Volksglaube, Sexualität und teuflischer Karikatur. Die Zeile zieht eine Parallele zwischen tierischer Triebbefriedigung und dämonischem Treiben – was sich im größeren Kontext des Werks als Satire auf menschliche Gier, Verblendung und Entfremdung deuten lässt.

Zusammenfassend 2113-2114
1. Karnevalisierung des Dämonischen
Goethe lässt durch Siebels Spott das Teuflische ins Lächerliche kippen. Was bei Faust (z. B. im Pakt mit Mephisto) eine metaphysische Dimension hat, erscheint hier als groteskes Volksmärchen. Das zeigt die Mehrdeutigkeit des Bösen: Für die einen existenziell, für andere Anlass zum derben Witz.
2. Entzauberung durch Spott
Die Spottrede ist ein Akt der Entmystifizierung. Das »Böse« wird im Lachen des Stammtischs banalisiert. Siebel steht damit für den trivialisierten Blick auf das Unheimliche, der das Dämonische nur als Anekdote oder Possenspiel versteht.
3. Sexualität als dämonische Triebhaftigkeit
Der Bock wird zur Chiffre einer triebhaften, entgrenzten Männlichkeit, die sich im Rahmen des Volksglaubens und Hexenmythos Ausdruck verschafft. Hier wird die Sexualität nicht als romantisch, sondern als dämonisch-exzessiv karikiert – ein Spiegel dunkler anthropologischer Konstellationen.
4. Faustisches Echo im Spott
Obwohl Faust in der Szene nicht spricht, reflektiert Siebels Bemerkung indirekt das Treiben Mephistos – der sich ja tatsächlich mit Faust auf einen Weg begibt, der ihn zum Blocksberg führen wird. Der Spott wird ungewollt prophetisch.
5. Grenze zwischen Tier und Mensch
Die Gleichsetzung des Menschen mit dem »alten Bock« zielt auf die Zertrümmerung humanistischer Selbstbilder. Der Mensch wird als animalisch-triebgesteuert entlarvt. Dies entspricht Goethes Anthropologie, in der der Mensch immer wieder zwischen Geist und Trieb, zwischen Logos und Libido zerrissen erscheint.
6. Dämonie als Lächerlichkeit
Goethe spielt mit der Möglichkeit, dass das Dämonische nicht nur schrecklich, sondern auch komisch und grotesk ist. Dies knüpft an eine tiefe Traditionslinie – von der mittelalterlichen Narrenfigur bis zur Teufelssatire der Aufklärung –, die zeigt, dass das Böse nicht majestätisch sein muss, sondern auch lächerlich und peinlich.

2115 Ein braver Kerl von echtem Fleisch und Blut
Wörtliche Bedeutung: Siebel beschreibt eine männliche Person – wahrscheinlich einen der Zechkumpane oder eine allgemein gedachte männliche Figur – als »brav«, also anständig, aufrichtig, rechtschaffen. »Von echtem Fleisch und Blut« betont seine Menschlichkeit, Echtheit, Bodenständigkeit. Der Ausdruck hebt seine körperliche Lebendigkeit und vielleicht auch seine Sinnlichkeit hervor.
Subtext: Die Formulierung wirkt wie ein »Männerlob«, das jedoch vor allem im Kontrast zur angesprochenen Frau (der »Dirne«) Bedeutung gewinnt. Die Redewendung verweist auf eine Vorstellung von männlicher Integrität, wie sie in der bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Moral des 18. Jahrhunderts hochgehalten wird: Ehrlichkeit, Treue, Ehrbarkeit.
Sprechhaltung: Der Ton ist jovial, halb mitleidig, halb moralisch überlegen. Siebel reklamiert hier eine Art »moralische Ordnung«, nach der bestimmte Männer zu schade seien für bestimmte Frauen.

2116 Ist für die Dirne viel zu gut.
Wörtliche Bedeutung: Die angesprochene Frau – mit dem abwertenden Ausdruck »Dirne« bezeichnet – sei des »braven Kerls« nicht würdig. Sie sei moralisch unter ihm angesiedelt, vielleicht promiskuitiv, liederlich, jedenfalls nicht tugendhaft genug.
Subtext: Der Ausdruck »viel zu gut« lässt tief blicken: Die Frau ist durch den Begriff »Dirne« stigmatisiert – vermutlich handelt es sich um Gretchen, die in der Männerrede hier herabgewürdigt wird. Gleichzeitig zeigt sich ein patriarchaler Besitzanspruch: Die Wertigkeit von Frauen wird in Relation zu männlicher Tugend und Moral gemessen. Zudem deutet sich eine Doppelmoral an: Die Männer trinken, grölen, sind derb und lüstern – urteilen aber moralisch über Frauen.
Ironie/Goethes Haltung: Die Szene bei Auerbach ist komödiantisch-satirisch gefärbt. Goethe lässt durch Überzeichnung, Spott und derbe Sprüche die Engstirnigkeit und moralische Selbstgefälligkeit des Kleinbürgertums bloßstellen. Die Aussage Siebels wirkt wie ein hohles Sprichwort, das eher die Dummheit des Sprechers als die Tugendhaftigkeit des Besprochenen offenlegt.

2117 Ich will von keinem Gruße wissen,
Die narzisstische Kränkung führt zum vollständigen Rückzug. Kein »Gruß« mehr – keine soziale Geste, kein Kontakt, keine Anerkennung. Siebel verschließt sich. Er will nicht einmal mehr ein Minimum an Höflichkeit oder sozialen Austausch zulassen.
Hier offenbart sich kindliches Trotzverhalten, das aber von verletztem Stolz gespeist ist. Der Satz ist auch performativ: In dem Moment, wo er das sagt, markiert er das Ende der Beziehung, obwohl es in Wahrheit keine formelle Beziehung gegeben haben muss. Es ist Ausdruck einer gekränkten Männlichkeit.

2118 Als ihr die Fenster eingeschmissen!
Siebel schlägt in offene Aggression um. Fenster einzuschlagen ist eine klassische Rachegeste: das Zerstören von etwas, das zum »Heim«, zur Intimität einer Person gehört. Es ist ein Angriff auf die Sphäre der Frau – symbolisch eine gewaltsame Penetration ihrer Rückzugsräume.
Der Übergang von Enttäuschung zur Gewalt verdeutlicht die tieferliegende Problematik: das Verhältnis zwischen Männlichkeit, Besitzdenken und verletztem Stolz. Was nicht zu besitzen war, wird zerstört. Diese Form der Gewalt entspringt keiner »Liebe«, sondern einem patriarchal geprägten Selbstbild, das sich durch Zurückweisung entwertet fühlt.

Zusammenfassend 2115-2118
1. Subjektive Kränkung und Narzissmus:
Siebels Verhalten illustriert die Mechanik narzisstischer Kränkung: die Unfähigkeit, Zurückweisung oder emotionale Frustration zu verarbeiten, ohne das eigene Selbstbild zu retten – durch Abwertung des anderen.
2. Frauenbild und patriarchale Machtstrukturen:
Die Szene zeigt, wie weibliche Autonomie (die Frau erwidert Siebels Gefühle nicht) als Provokation männlicher Gewalt erlebt wird. Das aggressive Potential entspringt einem Besitzanspruch, der im Scheitern umschlägt in destruktive Handlung.
3. Der Mensch als triebgesteuertes Wesen (Materialismus):
Die Berufung auf »echtes Fleisch und Blut« betont das Leibliche, Reale – nicht das Ideale. Damit steht Siebel in einem materialistischen Selbstverständnis, das jedoch von psychischem Affekt (nicht Vernunft) gesteuert ist.
4. Anthropologische Fragilität männlicher Identität:
Die Szene legt die Fragilität der männlichen Selbstkonstruktion offen: Siebel kann seine Identität nur über Bestätigung durch das Weibliche aufrechterhalten. Entzug dieser Bestätigung führt zur Destruktion (innen wie außen).
5. Goethes kritischer Realismus:
Goethe entlarvt im Wirtshausmilieu die dunklen Triebe, die unterhalb der Schicht von Bildung und Kultur liegen. Auerbachs Keller wird zur Bühne für die primitive Seite des Menschen – ein Kontrast zu Fausts metaphysischem Streben.
6. Gesellschaftliche Sphäre des Dionysischen:
Inmitten von Trunkenheit und Ausgelassenheit tritt das Dionysische (triebhafte, ungezügelte, gewaltsame) offen zutage. Siebels Ausbruch ist nicht rational, sondern emotional, impulsiv – er gehört zur Sphäre der Affekte.

Brander. auf den Tisch schlagend.
2119 Paßt auf! paßt auf! Gehorchet mir!
Die Szene beginnt mit einer lauten, imperativen Geste: Brander schlägt auf den Tisch, um Aufmerksamkeit zu erzwingen. Die Dopplung »paßt auf!« hebt seine Ungeduld und den lärmenden, dominanten Ton hervor. Mit »Gehorchet mir!« erhebt er sich autoritär über die Runde – eine ironisch übersteigerte Geste der Selbstinszenierung.
Brander sucht nicht bloß Aufmerksamkeit, sondern Macht über den Moment. In der theatralischen Geste spiegelt sich ein Bedürfnis nach Kontrolle und Selbstbehauptung im Trunke – in einem Raum, der von Instabilität, Maskerade und Rausch geprägt ist. Es ist ein Versuch, durch Lautstärke und Gebaren die eigene Leere zu übertönen.

2120 Ihr Herrn gesteht, ich weiß zu leben,
Brander betont seinen Lebensstil: »ich weiß zu leben« ist ein typischer Ausdruck der Genussmenschen des 18. Jahrhunderts. Das Verb »gesteht« impliziert, dass seine Geselligkeit oder vielleicht sein sittliches Verhalten zuvor in Frage gestellt wurde – nun aber verlangt er Anerkennung.
Brander versteht unter »leben« das sinnliche Dasein: Trinken, Spott, Spottlied. Im subtextuellen Kontrast zur Faust-Figur bedeutet dies eine Reduktion des Lebenssinns auf Lust. Doch diese Behauptung wirkt aufgesetzt – als müsse er sich selbst davon überzeugen, dass sein Leben erfüllt sei. Das wahre ars vivendi bleibt fraglich.

2121 Verliebte Leute sitzen hier,
Hier kündigt Brander sein Zielpublikum an: »Verliebte«. Ob dies ironisch, sarkastisch oder ernst gemeint ist, bleibt offen – aber der Ausdruck bereitet auf ein Lied vor, das eine romantisch-erotische Thematik ins Lächerliche ziehen wird.
Die Nennung der »verliebten Leute« deutet auf eine inszenierte Romantik, die gleich gebrochen wird. Brander stellt sich als entlarvender Spötter dar, der das Ideal der Liebe durch derbe Lieder untergräbt. Dies bereitet auf das kommende Lied über den »Rattenfänger« vor, in dem die Liebe in eine Fabel von Lust und Verfall umgewandelt wird.

2122 Und diesen muß, nach Standsgebühr,
Der Ausdruck »nach Standsgebühr« verknüpft das kommende Lied mit einem ironischen Ehrenkodex. Es handelt sich um eine gespielte Höflichkeit, die in Wahrheit eine Entschuldigung für das Folgende ist – Brander beansprucht dabei die Rolle des Hofnarren, der durch Spott die Wahrheit sagt.
Hier kippt das Kompliment zur Karikatur: Brander nimmt eine »ritterliche« Haltung ein, doch nur, um Spott salonfähig zu machen. Das Wort »Standsgebühr« ist überzogen und parodistisch – es imitiert die Sprechweise der höfischen Welt, um deren Werte ins Groteske zu ziehen. Es zeigt: Auch der Spott ist ritualisiert.

2123 Zur guten Nacht ich was zum Besten geben.
Brander kündigt ein Lied zur guten Nacht an – ein vermeintlich harmloser, fast zärtlicher Rahmen. Doch »was zum Besten geben« ist ein Redewendung, die ironisch unterläuft, was folgen wird: ein deftiges, zotiges Lied, das weder tröstet noch erhebt, sondern entblößt und verspottet.
Brander gibt nichts »zum Besten«, sondern entzieht dem Moment Würde. Der Ausdruck suggeriert eine Geste des Schenkens, doch was folgt, ist eher ein Zerrbild von Romantik. Der scheinbare Akt der Gastfreundschaft entpuppt sich als narzisstische Selbstdarstellung. In dieser Verkehrung liegt eine tiefe Ironie – und eine Ahnung von Leere.

Zusammenfassend 2119-2123
1. Verkehrung des Feierlichen ins Groteske:
Die Szene parodiert höfische Formen des Feierns und höfischer Etikette (Lied, Ehrenbezeugung), indem sie sie ins Derbe, Lärmende, Trunkene kippt. Damit entsteht eine Karikatur gesellschaftlicher Rituale.
2. Zerfall des romantischen Ideals:
Liebe, Zartheit, »gute Nacht« – diese Begriffe werden angekündigt, nur um gleich darauf im Lied in eine obszöne Groteske verwandelt zu werden. Brander repräsentiert ein Umfeld, in dem Liebe nur noch als Objekt der Lächerlichkeit überlebt.
3. Spott als Selbstschutz:
Brander benutzt Spott, um sich über das zu erheben, was er innerlich vielleicht als Bedrohung empfindet: Romantik, Emotion, Schwäche. Der Humor wird zur Abwehrstrategie gegen existenzielle Unsicherheit.
4. Rausch und Maskerade:
Die gesamte Szene in Auerbachs Keller ist eine Bühne des Scheins. Die Figuren sind betrunken, laut, überzeichnet. In dieser alkoholisierten Welt verschwimmen Wahrheit und Lüge, Sein und Rolle. Brander spielt den Entertainer, doch die Figur zeigt auch Tragik: Der Lärm kaschiert Leere.
5. Kontrast zu Fausts existenzieller Suche:
Brander steht in radikalem Gegensatz zu Faust, der im Innersten nach Erkenntnis und Transzendenz strebt. Die Szene wirft damit indirekt die Frage auf, ob die Alternative zur geistigen Verzweiflung nur die dumpfe Heiterkeit des Rausches ist.
6. Das Theaterhafte des Alltags:
Branders Auftritt gleicht einer kleinen Bühnennummer: Ankündigung, Publikum, Darbietung. Goethe zeigt hier, dass selbst der Alltag eine Bühne ist, auf der Rollen gespielt, Positionen behauptet und soziale Rituale vorgeführt werden.

2124 Gebt Acht! Ein Lied vom neusten Schnitt!
Brander erhebt sich demonstrativ und schlägt auf den Tisch – eine performative Geste, die die Aufmerksamkeit auf sich zieht und eine Wendung in der Szene einleitet. Die Aufforderung »Gebt Acht!« ist nicht nur ein bloßer Appell zur Aufmerksamkeit, sondern ein autoritäres Einfordern der Gemeinschaft, sich dem Spektakel zu unterwerfen. Dies spiegelt die kulturelle Praxis des Biersingens und Trinkens wider, in der der Einzelne durch Lautstärke und Witz kurzfristig Bedeutung gewinnt.
Der Ausdruck »vom neusten Schnitt« verweist auf Modernität und Aktualität – ein Gassenhauer, der gerade in Mode ist. Damit wird ein Anspruch auf zeitgenössischen Geschmack erhoben: Brander stellt sich selbst als Kenner und Vermittler populärer Unterhaltung dar. Im Subtext verbirgt sich jedoch auch ein ironisches Licht auf die geistige Leere dieser »neuen« Kunstform: was »neu« ist, ist zugleich flach, schal und beliebig reproduzierbar. Goethes Wortwahl spiegelt so eine tiefe Ambivalenz gegenüber der Massenkultur.

2125 Und singt den Rundreim kräftig mit!
Die Einladung zum »Rundreim« zeigt, dass es sich um ein geselliges Trinklied handelt – jeder singt mit, der Refrain kehrt zurück, man verliert sich im kollektiven Rhythmus. Doch diese »kräftige« Beteiligung ist keine freie Entscheidung, sondern fast ein Zwang zur Konformität: Wer nicht mitsingt, stört die Runde. Die Individualität wird im Rausch der Masse nivelliert.
Die Betonung auf »kräftig« unterstreicht das Körperliche, Laute, Deftige – die Sinnlichkeit der Szene wird überdeutlich, aber sie ist zugleich Zeichen für geistige Rohheit. Die gemeinsame Lautstärke ersetzt kritische Reflexion; die rhythmisch-gesellige Wiederholung gleicht einem Ritual des Selbstverlusts.

Zusammenfassend 2124-2125
1. Kritik an oberflächlicher Geselligkeit:
Goethe entlarvt in dieser Szene die Trivialität einer geselligen Runde, die sich durch Alkohol, Gesang und Lärm definiert. Die kulturelle »Leistung« reduziert sich auf das Reproduzieren modischer, inhaltsleerer Lieder – »vom neusten Schnitt« – als Symptom eines geistlosen Zeitgeistes.
2. Subtile Gesellschaftssatire:
Branders Verhalten karikiert bürgerliche Männlichkeitsideale: Der Drang zur Aufmerksamkeit, zur Kontrolle über die Gruppe, zur Dominanz durch Unterhaltung, verweist auf eine tiefere Lächerlichkeit. Die Szene ist eine Parodie auf Macht, die sich nicht durch Vernunft, sondern durch Lautstärke und Trinksprüche behauptet.
3. Kollektive Konformität versus individuelle Freiheit:
Der Zwang, beim Rundreim mitzusingen, stellt die Frage nach Freiheit im sozialen Raum. Der Einzelne wird vereinnahmt, muss sich dem Rhythmus der Gruppe unterordnen. Hier kündigt sich eine Thematik an, die Fausts Daseinskrise fundamental betrifft: Wie lebt man ein selbstbestimmtes Leben in einer Welt, die kollektive Anpassung fordert?
4. Theatralität als Selbstinszenierung:
Brander agiert auf einer Bühne. Der Schlag auf den Tisch ist theatralisch – er inszeniert sich selbst als Mittelpunkt, als Dirigent des Abends. Goethe lässt hier eine Meta-Ebene aufscheinen: Wie oft ist unser gesellschaftliches Handeln bloß Rolle, Maske, ritualisierte Selbstdarstellung?
5. Dekadenz und »moderne« Unterhaltung:
Die Phrase »vom neusten Schnitt« wird zum ironischen Kommentar auf Fortschrittsglauben und Modefixierung. Was neu ist, ist nicht notwendig besser. Vielmehr wirft Goethe einen skeptischen Blick auf kulturellen Verfall, in dem Neues nur zur Verdrängung der Leere dient.
6. Vorwegnahme des Tragikomischen:
In der Mischung aus Lärm, Lachen und Alkohol liegt eine Grundstimmung des Tragikomischen. Die Szene ist heiter, aber leer – und darin liegt ein tiefer Ernst. Dieser Ton ist typisch für Goethes Fähigkeit, Komödie als Vehikel der metaphysischen Skepsis einzusetzen.

Er singt.

2126 Es war eine Ratt’ im Kellernest,
Dieser erste Vers eröffnet mit einer Tierfabelhaften Einleitung: Die Ratte lebt verborgen, unterirdisch, im "Kellernest" – ein Ort des Verstecks, der Dunkelheit, aber auch des Überflusses, wie sich zeigt. Die Ratte ist eine klassische Allegorie auf Habgier, Verschlagenheit, niederes Begehren – eine Figur des animalisch Triebhaften. Der Keller als Schauplatz evoziert archaische Triebe und Instinkte – das Unbewusste, in dem sich das Animalische mit dem Dionysischen (Rausch, Trieb, Trunk) verbindet.

2127 Lebte nur von Fett und Butter,
Der Lebensstil der Ratte ist rein genussorientiert: Sie nährt sich nicht von Notwendigem, sondern von Luxus und Überfluss. »Fett und Butter« stehen symbolisch für Dekadenz, Maßlosigkeit, Wohlleben – möglicherweise auch für protestantische (scheinbare) Doppelmoral, wenn man den Bezug zu Luther im nächsten Vers bedenkt. Es wird eine Art Karikatur auf ein gefräßiges, sinnlich verwöhntes Wesen entworfen – was auch auf den menschlichen Genussmenschen in Auerbachs Keller anspielungsreich verweist.

2128 Hatte sich ein Ränzlein angemäst’t,
Die Ratte mästet sich – hier wird das Bild weiter grotesk aufgeladen. Das »Ränzlein« (Bäuchlein) steht für übermäßigen Konsum, für Trägheit, aber auch für eine niedliche Verniedlichung, die in Kontrast zur Lächerlichkeit oder gar Verächtlichkeit der Figur steht. Das Bild kippt vom bloß Tierisch-Komischen ins Moralisch-Satirische: Wer lebt so maßlos, so hemmungslos, so selbstvergessen?

2129 Als wie der Doctor Luther.
Die überraschende Pointe. Mit diesem Vergleich wird die Tierfabel zur satirischen Kritik. Martin Luther, der Begründer der Reformation, wird als dickbäuchiger Genussmensch karikiert. Der Spott geht hier in eine doppelte Richtung:
1. Antiklerikal: wie die katholische Tradition einst den »dicken Mönch« Luther verspottete.
2. Antibürgerlich: Kritik an der bürgerlichen Scheinmoral, die zwar reformatorisch-asketisch auftritt, aber doch irdischen Genuss (Speis und Trank) nicht meidet.
Der Reim schlägt hier um in eine politische Satire, die im studentischen, trinkfreudigen Kontext ironisch gefeiert wird. Die Verbindung von Ratte und Luther ist provokativ und entlarvt Frömmigkeit als Verstellung – ein Motiv, das sich durch Goethes Faust zieht.

Zusammenfassend 2126-2129
1. Kritik an Scheinheiligkeit und religiöser Maskerade
Der Vergleich Luthers mit der Ratte karikiert die Diskrepanz zwischen religiösem Anspruch (Reform, Geist) und körperlichem Verhalten (Genuss, Maßlosigkeit).
Goethe stellt hier (vielleicht augenzwinkernd, vielleicht scharf) die Frage, ob Reformatoren sich nicht ebenso irdischen Gelüsten hingeben wie die, die sie kritisieren.
2. Tiermetaphorik als Spiegel menschlicher Triebe
Die Ratte ist nicht nur ein Tier, sondern ein Bild für das in jedem Menschen lauernde Triebhafte.
Im Rauschmilieu des Kellers wird das Animalische freigelegt – analog zur Psychoanalyse ein Vorgriff auf das Unbewusste.
3. Keller als Ort des Dionsyischen (Nietzsche!)
Wie bei Nietzsche: Die Tiefe (Keller) ist Ort des Dionysischen, des Rausches, der Enthemmung, aber auch der Wahrheit jenseits der Apollinischen Maske.
In diesem Keller erklingt eine Wahrheit über den Menschen, die die Oberfläche der Moral unterwandert.
4. Ironisierung von Autorität und Ideologie
Durch das Lied wird nicht nur Luther verspottet, sondern jede Form von moralischer oder geistiger Autorität relativiert.
Die Szene zeigt: Die Wahrheit ist betrunken, die Weisheit hat Bauch. Es ist ein Umsturz der Hierarchien – subversiv und karnevalesk.
5. Parodie als Erkenntnisform
In der komisch-derben Form der Parodie (Lied, Reim, Tiermetapher) liegt eine tiefere Einsicht: dass der Mensch nicht einfach Geist ist, sondern ein hybrides Wesen – voller Widersprüche, Triebe, Lüste.
6. Vorbereitung auf Fausts eigene Versuchung und Doppelmoral
Die Szene spielt im Vorfeld von Fausts »Gretchen-Tragödie«.
Auch Faust wird, wie die Ratte, ein animalisches Verlangen ausleben, das mit seinen geistigen Ambitionen in Konflikt steht.
Der Spott über Luther trifft indirekt auch Faust – als Mahnung oder Spiegel.

2130 Die Köchin hatt’ ihr Gift gestellt;
Dieser Vers beginnt mit einer scheinbar simplen Aussage: Eine Köchin hat »ihr Gift gestellt« – also ein Gift zubereitet oder bereitgestellt.
Doch bereits in diesem Bild liegt eine doppelte Bedeutung:
Wörtlich: Die Köchin hat jemandem vergiftete Nahrung oder Trank zubereitet.
Metaphorisch: Das »Gift« steht auch für eine erotische Wirkung oder eine leidenschaftliche Verwirrung. In volkstümlichen Liedern und der Barocklyrik ist das Bild des Liebestranks bzw. der giftähnlichen Wirkung der Liebe geläufig.
Subtext: Das »Gift« kann sowohl Todesbringer als auch erotisches Erregungsmittel sein – eine doppeldeutige Metapher für sexuelle Erweckung oder emotionale Überwältigung.

2131 Da ward’s so eng’ ihr in der Welt,
Dieser Vers beschreibt die Folge des »Gifts«: Der Frau (vermutlich einem jungen Mädchen) wurde »so eng in der Welt«.
Wörtlich: Sie fühlt sich körperlich unwohl, eingeengt.
Psychologisch: Ein Gefühl der Beklemmung, als ob die ganze Welt ihr zu klein wird – eine bekannte Metapher für sexuelle Erregung, aber auch für ein durch Leidenschaft ausgelöstes Existenzbeben.
Barocke Liebeslyrik: Der Ausdruck »eng in der Welt« ist dort oft mit unerfülltem Liebesverlangen, Seufzen, Herzensnot oder unstillbarem Begehren verbunden.
Subtext: Die beklemmende Enge ist Ausdruck eines aufkeimenden erotischen Begehrens oder einer seelischen Überforderung durch ein neues Gefühl – sie ist aus der Ordnung geraten.

2132 Als hätte sie Lieb’ im Leibe.
Der Konjunktiv »als hätte« verstärkt die Ambiguität: Es wird angedeutet, aber nicht gesagt, dass sie »Lieb’ im Leibe« habe.
»Lieb’ im Leibe« ist ein derbes, zugleich volkstümliches Bild: Es bedeutet körperliche Begierde oder auch eine Schwangerschaft – beides als direkte körperliche Manifestation der Liebe.
In diesem Kontext ist es vor allem als Hinweis auf erotische Erregung oder sexuelle Anspannung zu verstehen.
Subtext: Die Frau wirkt so, als sei sie von Liebe durchdrungen – körperlich, spürbar, unausweichlich. Auch hier schwingt sowohl Lust als auch Unbehagen mit.

Chorus. jauchzend.
2133 Als hätte sie Lieb’ im Leibe.
Der Chor wiederholt diesen Vers »jauchzend«, also laut, fröhlich, ausgelassen – was einen kräftigen Kontrast zur vorher beschriebenen »Enge« und »Beklemmung« bildet.
Funktion des Chors: Die Wiederholung durch den Chor verwandelt das individuelle Leid oder die peinvolle Erregung in ein kollektives, fast ekstatisches Lachen – ein typisch bierzeltartiger Humor, der in Auerbachs Keller dominierend ist.
Es verstärkt die Derbheit und Trivialität der Szene – das, was vielleicht als seelische Erschütterung erlebt wurde, wird hier verharmlost und verspottet.
Subtext: In der Wiederholung des Chores zeigt sich ein drastisches Abgleiten ins Vulgäre, eine Reduktion der »Liebe« auf körperliches Verlangen. Das ursprünglich tiefere Gefühl wird in der Groteske auf eine triviale Pointe reduziert.

Zusammenfassend 2130-2133
1. Liebe als zwiespältige Macht
Die »Lieb’ im Leibe« erscheint zugleich als Erweckung und als Krankheit. Das »Gift« der Köchin steht für die ambivalente Natur der Liebe: Sie kann heilen und zerstören, beglücken und beklemmen.
2. Die Entgrenzung des Ich durch das Begehren
Die Enge, die die Frau empfindet, ist Ausdruck einer Existenzkrise: Das Begehren führt zu einem Verlust von Selbstkontrolle, Raumgefühl und Ordnung. Diese Dynamik spiegelt die späteren Erfahrungen Fausts mit Gretchen auf höherem Niveau.
3. Reduktion des Eros zur Groteske
Die chorische Wiederholung zeigt, wie kollektive Trivialität und derbe Männerrunden die Komplexität der Liebe zerstören. Aus Seelenbewegung wird Witz, aus Leidenschaft Albernheit.
Diese profane Verzerrung des Eros spiegelt Mephistos Geist – ein Geist, der Tiefe verspottet und Transzendenz ins Lächerliche zieht.
4. Vorwegnahme des Verführungsprinzips
Die kleine Geschichte der »Köchin« wirkt wie ein parodistisches Vorspiel auf das, was Faust mit Gretchen geschieht: Eine Frau wird durch ein äußeres Mittel (hier: »Gift«, später: Mephistos Trank) in einen Zustand gebracht, der sie empfänglich, verletzlich, aus ihrer Welt gerissen macht.
5. Goethes Spiel mit Volkston und Subversion
Goethe nutzt eine volkstümliche Liedform, um existentielle Themen zu adressieren – gleichzeitig kritisiert er das Verflachen des Heiligen im bürgerlichen Wirtshausmilieu.
Der Spott und die Derbheit des Chores sind nicht nur Komik, sondern auch Kritik an einer entgeistigten Gesellschaft, die das Höchste ins Banale zieht.

Brander.
2134 Sie fuhr herum, sie fuhr heraus,
Die Wiederholung des Verbs »fuhr« deutet auf eine ungestüme, rasende Bewegung hin. Die Ratte ist nicht mehr zu zähmen, sie »fährt herum«, was einen Verlust jeglicher Ordnung und Rationalität andeutet.
Subtext: Die Ratte steht sinnbildlich für einen entgrenzten Trieb oder eine hemmungslos gewordene Begierde, vielleicht auch für zerstörerische Instinkte in Menschengestalt. Ihr »Herausfahren« lässt eine eruptive Entladung vermuten – ein Durchbrechen innerer oder sozialer Schranken.

2135 Und soff aus allen Pfützen,
Der Ausdruck »soff« ist roh, derb, beinahe vulgär. Er passt zur niederträchtigen Bildwelt. Die Ratte säuft nicht nur – sie tut es wahllos, aus »allen Pfützen«.
Subtext: Maßlosigkeit, Unterscheidungslosigkeit, Gier: Die Ratte nimmt auf Qualität keinen Bezug mehr. Dies evoziert ein Bild des moralisch entgrenzten Trinkers oder auch allgemein eines von Lust beherrschten Menschen. Die Pfützen können auch als Symbol für moralische Abgründe gelesen werden – verschmutzt, niedrig, randständig.

2136 Zernagt’, zerkratzt’ das ganze Haus,
Die Ratte ist nicht nur maßlos, sondern auch zerstörerisch. Das Haus – oft Symbol für das Selbst, die Seele, oder die Ordnung – wird von innen heraus zerlegt.
Subtext: Die Ratte wirkt hier wie ein innerer Zersetzungsprozess. Sie nagt und kratzt – sie zerstört nicht offen, sondern schleichend und mit vielen kleinen Angriffen. Dies lässt sich deuten als Bild für untergründige seelische Korrosion: Laster, Schuld, Reue oder Sucht.

2137 Wollte nichts ihr Wüthen nützen;
Trotz ihres Wütens hat es ihr nichts genützt – am Ende wird sie vernichtet. Der Satz enthält eine Art moralisierende Pointe: Die Zerstörung führt zu keiner Erfüllung, im Gegenteil, sie endet vergeblich.
Subtext: Der Mensch (oder das triebhafte Tier im Menschen), der seinen Leidenschaften ungezügelt folgt, richtet sich letztlich selbst zugrunde. Das »Wüthen« verweist auf blinde Raserei – eine Art existenzieller Amoklauf, der im Nichts endet.

Zusammenfassend 2134-2137
1. Das allegorische Tier als Spiegel des Menschen:
Die Ratte fungiert als animalisches Spiegelbild des Menschen in seiner triebhaften Entgrenzung. Sie verkörpert Unmäßigkeit, Triebverfallenheit und Selbstzerstörung. Dies ist ein archetypisches Motiv, das sich in der abendländischen Literatur von den mittelalterlichen Moralitaten bis zu Dostojewskij findet.
2. Begierde und Maßlosigkeit als metaphysische Krankheit:
Das unreflektierte »Saufen« aus allen Pfützen steht für die Maßlosigkeit des Begehrens, das kein Ziel kennt außer sich selbst. Dies erinnert an die Vorstellung aus der Gnosis und der christlichen Mystik, dass das vom Göttlichen getrennte Ich im rastlosen Begehren untergeht.
3. Zerstörung des Inneren durch das Innere selbst:
Das »Haus« als Symbol für das Selbst wird von innen zerkratzt und zernagt – es handelt sich um eine innere Zersetzung. Dies spiegelt zentrale Gedanken der romantischen Psychologie und der existenzialistischen Philosophie (Søren Kierkegaard, Jean-Paul Sartre): Der Mensch zerstört sich selbst, wenn er sich selbst entfremdet.
4. Ironische Katharsis im Volkston:
Obwohl das Lied komisch wirkt, wirkt es zugleich wie eine Tragödie im Tierkostüm. Die Ratte stirbt einen absurden, aber verdienten Tod. Die Zuschauer lachen, aber es bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Goethe spielt hier mit volkstümlicher Moraldidaxe und tiefer existenzieller Ironie.
5. Vorgeschmack auf Fausts eigene innere Korrosion:
Die Ratte kann als Vorgriff auf Faust selbst verstanden werden, der ebenfalls »säuft aus allen Pfützen« – er will alles erleben, ohne Maß, ohne Grenze. Auch sein »Haus« wird durch innere Zerrissenheit bedroht. Die Episode ist nicht bloß Einschub, sondern dunkle Parallelstruktur.
6. Die poetische Funktion des Grotesken:
Die groteske Darstellung der Ratte öffnet ein Doppellesen: einerseits ist das Lied lärmende Bierseligkeit, andererseits wirkt es wie eine moralisch-philosophische Parabel. Dieses Spannungsverhältnis ist typisch für Goethe, der tiefste Wahrheit mit szenischer Leichtigkeit zu vermitteln weiß.

2138 Sie thät gar manchen Ängstesprung,
Brander beschreibt die Qualen einer Ratte, die er vergiftet hat – ein zentrales Motiv im Lied, das er zum Besten gibt. Der »Ängstesprung« verweist nicht nur auf die körperliche Reaktion des Tieres auf das Gift, sondern auch auf eine vermenschlichende Zuschreibung: Angst wird zur psychischen Qualität, die das Tier befällt. Die Formulierung wirkt zwar vordergründig komisch oder derb, trägt aber bereits Züge einer dunklen Anthropomorphisierung: Die Ratte wird zur Projektionsfläche für menschliches Empfinden – ein Effekt, den Goethe nutzt, um die Zuschauerrolle der Zechkumpanen (und der Theaterzuschauer) zu spiegeln. Brander zeigt sich gleichzeitig sadistisch und theatralisch – sein Ton changiert zwischen Possenspiel und Grausamkeit.

2139 Bald hatte das arme Thier genung,
Die Formulierung »das arme Thier« enthält eine subtile Ironie. Einerseits suggeriert sie Mitleid, andererseits bleibt sie im Modus der distanzierten Unterhaltung. Das lyrische Ich (Brander) beendet die Leidensgeschichte mit lapidarer Kürze. Das Wort »genung« (statt »genug«) betont mundartlich den volkstümlichen Ton und schafft eine Nähe zurbenigen Geselligkeit. Inhaltlich spricht es aber von einem Ende – Tod oder völlige Erschöpfung. So entsteht eine groteske Spannung zwischen Form (heiteres Trinklied) und Inhalt (sterbende Kreatur).
Gleichzeitig wird hier – auf unterschwellige Weise – das Motiv des Endes durch Übermaß eingeführt: Die Ratte stirbt, weil sie »zu viel« genommen hat. Ein Spiegel der späteren Exzesse im Faust-Drama?

2140 Als hätt’ es Lieb’ im Leibe.
Diese Wendung ist doppeldeutig und enthält eine bittere Ironie. Im Volksmund bezeichnet »Lieb’ im Leibe haben« eine gesteigerte Lebendigkeit oder Triebhaftigkeit, oft mit erotischer Konnotation. Die Vorstellung, dass das zitternde, springende, sterbende Tier »Lieb’ im Leibe« habe, überlagert die Todeskrämpfe mit einer obszön anmutenden Deutung: Es sei nicht von Gift, sondern von Liebe oder Lust bewegt worden.
Die Ambivalenz dieses Bildes – zwischen Todeskampf und erotischer Raserei – dient als grotesker Spiegel für das Menschliche: Wie oft wird Liebe mit Wahnsinn, Begehren mit Selbstzerstörung verwechselt? Das Publikum lacht über ein Tier, das sinnbildlich dem eigenen Triebwesen ähnelt. Es zeigt sich Goethes dichterische Kunst, wie er im Bänkellied banale Unterhaltung zur Allegorie menschlicher Verirrung steigert.

Chorus.
2141 Als hätt’ es Lieb’ im Leibe.
Die Wiederholung durch den Chor verstärkt die Wirkung des Verses und gibt ihm ein Echo im Raum. Hier kommt ein klassisches Stilmittel des Theaters zum Tragen: Der Chor tritt als kollektive Stimme auf, die das Gesagte aufnimmt und bestätigt. In dieser Verstärkung liegt auch eine weitere Degradierung des ursprünglichen Leids – der Tierqual – zum lärmenden Gelächter der Zechkumpanen.
Gleichzeitig evoziert der Chor durch die Wiederholung eine Art makabre Leitmotivik – ein Thema, das später im Stück tiefer schwingen wird: Das Missverständnis von Liebe als bloßer Trieb, die Verwechslung von Körper und Geist, das Auslachen des Leidens – und damit das moralische Abstumpfen der Gesellschaft.

Zusammenfassend 2138-2141
1. Anthropomorphisierung und Projektion:
Die Ratte wird zur Projektionsfläche menschlicher Empfindungen. Ihre Krämpfe werden als Ausdruck von »Lieb’« gedeutet – ein Bild für die menschliche Tendenz, das Tierische mit Triebhaftigkeit gleichzusetzen.
2. Ironisierung des Leidens:
Leid wird ins Lächerliche gezogen, indem es als Liebesrausch verkannt wird. Dies zeigt Goethes kritischen Blick auf die menschliche Vergnügungskultur, die Grausamkeit zur Unterhaltung degradiert.
3. Triebstruktur und Todesnähe:
Die Gleichsetzung von »Lieb’« und Todeskrämpfen verweist auf eine existentielle Verknüpfung von Eros und Thanatos – eine Konstellation, die Fausts späteres Verhältnis zu Gretchen vorwegnimmt.
4. Kritik an Volkstheater und Massengeschmack:
Goethes Szene persifliert nicht nur den Kumpanengesang, sondern spielt auf das einfache Volkstheater an, das Tod und Sexualität für billige Effekte nutzt – eine versteckte Polemik gegen die Verflachung menschlicher Erfahrung.
5. Vorgriff auf Fausts Dilemma:
Die Szene wirkt auf den ersten Blick wie bloße Farce, doch sie wirft einen Schatten voraus: Auch Faust wird – wie das Tier – durch übermäßigen Drang und Trieb verzehrt. Die Ratte ist sein animalisches Spiegelbild.
6. Mitleidsethik versus Zynismus:
Die scheinbare Empathie mit dem »armen Tier« wird sofort in zynischen Spott umgewandelt. Dies thematisiert die moralische Abstumpfung einer Gesellschaft, die Empathie nur noch als Floskel kennt.
7. Verkehrung von Liebe:
Der Ausdruck »Lieb’ im Leibe« wird ins Groteske gezogen – Liebe erscheint hier nicht als geistige oder seelische Bindung, sondern als pathologischer Impuls. Ein Vorgriff auf Mephistopheles’ Deutung der menschlichen Liebesfähigkeit.

Brander.
2142 Sie kam für Angst am hellen Tag
Die Ratte erscheint aus Angst »am hellen Tag«, was ungewöhnlich ist, da Ratten nachtaktive Tiere sind. Das Bild betont, wie sehr die Kreatur in Panik ist – ihre natürliche Scheu wird durch existenzielle Bedrohung aufgehoben. Symbolisch verweist dies auf eine Kreatur, die durch äußere Mächte aus ihrem natürlichen Schutzraum gezwungen wird – ein Bild für einen durch Angst entblößten, hilflosen Zustand. Psychologisch kann es als Entblößung des Innersten durch das Unheimliche oder eine Schuld gelesen werden.

2143 Der Küche zugelaufen,
Die Küche steht für den häuslichen, lebensspendenden Ort – hier jedoch verkehrt sich die Symbolik: Sie ist kein Schutzraum, sondern Schauplatz des Todes. Die Ratte flüchtet paradoxerweise genau dorthin, wo sie dem Verderben entgegenläuft – möglicherweise ein Bild für triebhafte Verstrickung: das Unheil wird im Drang nach Sicherheit selbst heraufbeschworen.

2144 Fiel an den Heerd und zuckt’ und lag,
Das Tier erreicht den Herd – ein Zentrum des Kochens und damit der Transformation (im Alchemischen wie im häuslichen Sinne). Doch es fällt, zuckt (ein Bild von Krampf, Schmerz und Restleben) und liegt dann regungslos. Das Geschehen ist grausam realistisch geschildert, aber mit einer merkwürdigen Mischung aus Komik und Grausamkeit – typisch für das Spottliedgenre. Gleichzeitig evoziert es Assoziationen von Todeskampf, dem Versiegen des Lebensfunkens.

2145 Und thät erbärmlich schnaufen.
Das »erbärmlich« ruft Mitleid hervor, obwohl die Szene grotesk angelegt ist. Das Schnaufen – das letzte Geräusch des Lebenden – anthropomorphisiert die Ratte. Die Grenze zwischen Tier und Mensch verschwimmt. Die Darstellung oszilliert zwischen Lächerlichkeit und Mitgefühl: Brander denkt, er verhöhnt ein Tier, aber in der Tiefe verspottet er unbewusst den Menschen selbst.
Subtext und symbolische Tiefendimensionen:
Die Ratte fungiert als Chiffre für den Menschen in seiner Triebhaftigkeit, seiner Hilflosigkeit, seiner Sterblichkeit.
Brander erzählt scheinbar nur eine derbe Kneipengeschichte – aber durch Sprache, Bildhaftigkeit und Ton offenbart sich eine unterschwellige Spiegelung menschlicher Existenz in ihrer Lächerlichkeit und Tragik.
Die Darstellung steht in einem Kontrast zur betrunkenen Heiterkeit der Szene – sie evoziert Mitleid im Gewand des Spottes.
Im weiteren Liedverlauf wird klar: Die Ratte wurde vergiftet, was als Bild für »süßes Gift« der Triebe, des Weins, der Lust gelesen werden kann – eine Parabel auf Selbstzerstörung durch Genuss.
Der Text spielt mit der Doppeldeutigkeit von Ratte und Mensch: Während Brander glaubt, sich zu erheben, entlarvt er (aus Mephistophelischer Perspektive) die tierhafte Natur des Menschen selbst.

Zusammenfassend 2142-2145
1. Anthropologische Spiegelung:
Das Tier als Spiegel des Menschen in seiner Bedürftigkeit, Triebhaftigkeit, Angst und Sterblichkeit – Goethes Bildsprache erinnert an die Fragilität des menschlichen Lebens und den schmalen Grat zur Lächerlichkeit.
2. Metaphysik des Todes:
Der scheinbar banale Tod einer Ratte wird zur Allegorie des Sterbens – das »erbärmliche Schnaufen« evoziert die Agonie des Bewusstseins, das langsam verlöscht.
3. Verkehrung des Heiligtums:
Die Küche und der Herd, ursprünglich Orte der Wärme und Transformation, werden hier zum Ort des Todes – eine Umkehrung lebensspendender Prinzipien in ihr Gegenteil.
4. Komik als Schleier des Grauens:
Die groteske Darstellung der Szene verdeckt eine fundamentale existentielle Wahrheit. Goethes Darstellung ist durchdrungen von Mephistophelischer Ironie: Der Spott offenbart mehr, als er verhüllt.
5. Verlust des Mitgefühls – Entmenschlichung:
Branders spöttisches Lied zeigt die Verrohung der Wahrnehmung: Wo Mitleid angebracht wäre, herrscht Schadenfreude. Dies verweist auf eine ethische Leere im gesellschaftlichen Leben – eine seelische Kälte im Zeitalter des Rationalismus und des Hedonismus.
6. Vorwegnahme der Trunkenheits-Szene:
Die Ratte als Trägerin eines »süßen Giftes« (in späteren Versen) ist auch ein Gleichnis auf die berauschten Menschen selbst. Die Szene kritisiert – in Form eines grotesken Tiermärchens – den Verlust der geistigen Kontrolle und den Abstieg des Menschen ins Animalische.

2146 Da lachte die Vergifterinn noch:
Brander beschreibt im Rahmen seines derben Liedes eine Szene aus dem Tierreich – ein Tiergedicht, das auf eine betrogene oder verlassene Frau (in Form der »Vergifterinn«) anspielt. Die Personifikation der Ratte als »Vergifterinn« verbindet tierische Instinkte mit menschlichem Verrat. Das Lachen vor dem Tod – kurz bevor der Tod der vergifteten Ratte eintritt – enthält eine groteske Umkehrung des Tragischen: Die Ratte lacht, obwohl sie stirbt. Diese letzte Regung wirkt teuflisch oder hysterisch.
Die Ratte symbolisiert nicht nur ein ekelhaftes Tier, sondern steht für eine Art archetypischer weiblicher Dämonie – ein Klischee, das Frauen als gefährliche, listige Verführerinnen zeichnet. In dieser Männergesellschaft (Auerbachs Keller) ist das Spottlied eine Art kathartisches Ablassen von Projektionen gegen das Weibliche. Der Begriff »Vergifterinn« legt eine Ambivalenz nahe: Wer vergiftet hier wen – die Frau den Mann oder die Frau sich selbst? Eine mögliche Umkehr des Täter-Opfer-Verhältnisses.

2147 Ha! sie pfeift auf dem letzten Loch,
Die Redewendung »auf dem letzten Loch pfeifen« bedeutet, kurz vor dem Ende zu stehen – der Tod naht. Das Bild ist drastisch und akustisch intensiv: Der letzte Rest Lebensenergie entweicht pfeifend. Hier wird das Sterben akustisch greifbar gemacht und zugleich lächerlich gemacht – ein groteskes Pfeifen statt stiller Verklärung.
Der Klang des Todes wird ins Derbe verkehrt. In der Parodie auf Todesschmerz und Lebensende zeigt sich eine Zersetzung von Pathos. Die Ratte als Subjekt wird entmenschlicht, doch gleichzeitig verweist ihr Verhalten (Pfeifen, Liebesregung) auf Menschliches. Diese Ambivalenz ist typisch für Goethes Spiel mit Übergängen zwischen Tierischem und Menschlichem.

2148 Als hätte sie Lieb’ im Leibe.
Diese Wendung bringt eine frappierende Ironie ins Bild: Die sterbende Ratte zeigt Symptome, als wäre sie von Liebe erfüllt. Die Lust und der Tod, Eros und Thanatos, werden kurzgeschlossen. Das Verhalten der Ratte wird nicht als Ausdruck des Schmerzes, sondern der Leidenschaft gedeutet – eine ironische Umwertung des Todeskampfs.
Hier wird das klischeehafte Bild weiblicher Erotik zur Zielscheibe des Spottes: Das letzte Aufbäumen der Ratte erscheint wie eine übersteigerte Libido – eine Projektion männlicher Angstlust gegenüber dem Weiblichen. Es ist nicht nur Karnevalisierung des Todes, sondern auch sexuelle Groteske. Die »Lieb’ im Leibe« suggeriert eine erotische Vitalität im Moment des Verlöschens – das Erotische wird ins Animalische gezogen und lächerlich gemacht.

Chorus.
2149 Als hätte sie Lieb’ im Leibe.
Der Chor greift die Pointe Branders auf und verstärkt sie. Die Wiederholung betont den Spottcharakter und sorgt für ein chorisches Echo – typisch für gesellige Szenen, in denen sich das Individuelle im Kollektiv auflöst. Der Satz wird zum Refrain eines groben Spottlieds.
Der Chor repräsentiert die Zustimmung und das kollektive Einverständnis einer Männergesellschaft, die sich im Witz über das Weibliche vereint. Damit wird das Fragment des Lieds zur kulturellen Selbstvergewisserung männlicher Dominanz, in der das Weibliche als grotesk-entwertet dargestellt wird. Zugleich spiegelt es eine Angst vor der eigenen Triebnatur, die auf das Tierische projiziert wird.

Zusammenfassend 2146-2149
1. Erotik und Tod (Eros und Thanatos):
Der Vers »Als hätte sie Lieb’ im Leibe« spielt mit der paradoxen Verbindung von Liebestrieb und Todestrieb. Diese psychodynamische Verknüpfung ist später zentral in Freuds Theorie – hier jedoch bereits literarisch vorgeformt: das Sterben als erotisches Aufbäumen, die letzte Lebensregung als Ausdruck libidinöser Energie.
2. Das Groteske als Erkenntnisform:
Die groteske Darstellung des Todes durch animalische Überzeichnung erzeugt Distanz zum Sterbeprozess. Goethe zeigt hier, wie der Mensch durch das Lachen über das Grauen (Tod, Verrat, Trieb) sich selbst überlistet – ein Thema, das sich auch in Mephistopheles’ Ironie wiederfindet.
3. Anthropologie der Triebe:
Die Szene entlarvt den Menschen als triebgesteuertes Wesen. Zwischen Tier und Mensch gibt es keine klare Grenze mehr – gerade im Moment des Todes scheint der Unterschied zu verschwinden. Diese Einsicht ist Teil von Goethes naturwissenschaftlichem Denken, das den Menschen als Teil des Ganzen (der Natur) versteht.
4. Sprachmagie und Entwertung:
Die Umwertung eines pathosgeladenen Moments (Tod) in eine karnevaleske Lachszene verweist auf die Macht der Sprache, Realität zu transformieren. In Auerbachs Keller wird Sprache nicht als Erkenntnismittel, sondern als Verformungsinstrument verwendet – Ausdruck des Dionysischen.
5. Kritik an Männlichkeitsbildern:
Die Szene offenbart nicht nur Misogynie, sondern auch Unsicherheit gegenüber Männlichkeit. Die lärmende Selbstvergewisserung über das Lachen ist ein Abwehrmechanismus gegen Triebängste. Die Projektion auf die Ratte zeigt: Was man verachtet, ist oft ein verdrängter Teil des eigenen Selbst.
6. Vorwegnahme mephistophelischer Weltsicht:

Siebel.
2150 Wie sich die platten Bursche freuen!
Siebel äußert sich hier spöttisch und verächtlich über die Freude der anderen Gäste. Das Adjektiv »platten« (von »platt«, also geistlos, oberflächlich) bringt eine klare Herabsetzung zum Ausdruck. Die Freude der anderen wird nicht als Ausdruck von Lebenslust oder Geselligkeit gesehen, sondern als dumpfe, primitive Reaktion.
Siebel grenzt sich hier – möglicherweise auch aus verletzter Eitelkeit – von der Gemeinschaft ab. Seine Bemerkung ist Ausdruck eines unterschwelligen Neides, Frustration oder zumindest eines latenten Überlegenheitsgefühls. Die Szene ist durchtränkt von männlichem Konkurrenzverhalten und unausgesprochenen Spannungen.

2151 Es ist mir eine rechte Kunst,
Der Ausdruck »rechte Kunst« ist doppeldeutig. Einerseits meint Siebel die »Kunst«, also das Können oder Geschick, eine Ratte zu vergiften. Andererseits klingt darin auch Ironie oder Selbstüberschätzung an – als ob das Giftstreuen eine ehrenvolle oder raffinierte Kunst sei.
Hier zeigt sich eine tiefere Verkehrung von Begriffen: Das »Kunstvolle« liegt nicht mehr in der Schöpfung oder im Geist, sondern im Akt der Zerstörung, des Tötens. Siebel begreift die eigene Aggression (das Auslegen von Gift) als Ausdruck von Macht. Dies ist zugleich ein Spiegelbild der aggressiven Männlichkeit, wie sie sich im Keller entfaltet.

2152 Den armen Ratten Gift zu streuen!
Diese Fortsetzung klärt, worin die »Kunst« besteht: im Auslegen von Gift. Die Ratten sind zwar Schädlinge, doch die Bezeichnung »armen Ratten« enthält eine seltsame Ambivalenz: Mitleid und Verachtung zugleich.
Hier drängt sich eine metaphorische Ebene auf: Die »Ratten« können als Symbol für die von Siebel verachteten Menschen stehen – vielleicht die »platten Burschen« von vorhin, vielleicht allgemein das niedere Volk, oder in psychologischer Lesart: der verdrängte Anteil des eigenen Selbst, den man zu vernichten sucht. Die Szene hat dadurch auch eine dunkle, unbewusste Gewaltfantasie an sich, in der die »Ratten« als Projektionsfläche fungieren.

Brander.
2153 Sie stehn wohl sehr in deiner Gunst?
Branders Frage ist ironisch – er nimmt Siebels hasserfüllte Rede auf und kehrt sie durch Ironie ins Gegenteil. Das Mittel der konträren Affirmation (»sie stehen wohl in deiner Gunst«) hebt die vorherige Aussage hervor, indem es ihr scheinbar widerspricht.
Brander karikiert Siebels Aggression und entlarvt sie als übertrieben, vielleicht auch als peinlich. Das zeigt den subtilen Konkurrenzkampf zwischen den Zechkumpanen, bei dem Männlichkeit, Witz, Verachtung und Macht ständig neu ausgehandelt werden. Im Hintergrund wirkt hier ein Spiel aus Selbstprofilierung und Abwertung anderer – ein sozialpsychologisches Miniaturdrama.

Zusammenfassend 2150-2153
1. Die Verkehrung des Kunstbegriffs
Siebel spricht von »Kunst«, wo es um Zerstörung geht. Dies ist eine Parodie auf den humanistischen Kunstbegriff, der schöpferisch und erhebend wirkt. Bei Siebel wird »Kunst« zur Technik des Tötens – eine antiaufklärerische Geste, die auf die Perversion von Vernunft in bloße Machtmechanik verweist.
2. Moralische Ambiguität und Projektion
Die »armen Ratten« fungieren als Projektionsfläche für Hass, Verachtung und verdrängte Gewaltimpulse. Die Verachtung der »platten Burschen« wie auch der »Ratten« zeigt, wie gesellschaftlicher oder innerpsychischer Ekel externalisiert und vernichtet wird – ein Topos, der von Nietzsche bis Freud Bedeutung hat.
3. Ironie als Selbstentlarvung
Branders ironischer Kommentar fungiert als kritisches Korrektiv: Inmitten einer Szene der Enthemmung und Aggression wird durch Ironie Distanz geschaffen. Diese Spannung zwischen Selbstüberhebung und Lächerlichkeit verweist auf das fragile Ich, das seine Instabilität durch Spott zu kompensieren sucht.
4. Der Keller als Spiegel der Triebwelt
»Auerbachs Keller« steht als Szene für die Lust, den Rausch, aber auch die Zerstörung, das Triebhafte. Die metaphorischen Ratten verweisen auf das Unreine, das Untergründige – das Verdrängte im Menschen. In dieser Tiefe wird das animalische, triebhafte Selbst sichtbar, das in moralischer Maskerade agiert.
5. Vorwegnahme mephistophelischer Dimension
Noch bevor Mephisto selbst in die Szene eingreift, durchweht sie bereits eine Atmosphäre von Spott, Aggression und doppelbödiger Rede. Die Figuren – insbesondere Siebel – agieren bereits als kleine Mephistophelen: Zerstörerisch, ironisch, narzisstisch, und gleichzeitig lächerlich.

Altmayer.
2154 Der Schmerbauch mit der kahlen Platte!
Diese Zeile beschreibt eine groteske Erscheinung: einen dicken Mann mit kahlem Kopf. Es handelt sich um eine herabwürdigende Charakterisierung, in der körperliche Merkmale plakativ hervorgehoben werden – der »Schmerbauch« (ein aufgequollener Bauch, möglicherweise infolge von Trunksucht oder Völlerei) und die »kahle Platte« (Hinweis auf Alter oder Verfall).
Der Vers setzt auf karikaturhafte Überzeichnung. Diese entmenschlichende Sprache dient der Lächerlichmachung und verweist zugleich auf eine tiefere Kritik: Der Mensch, so scheint es, hat sich selbst durch Triebhaftigkeit und Maßlosigkeit entstellt.
Der Ton ist spöttisch und verächtlich – ein Echo auf die triviale Welt des Biers und der dumpfen Geselligkeit, die Goethe in Auerbachs Keller vorführt.

2155 Das Unglück macht ihn zahm und mild;
Diese Zeile wendet sich von der bloßen Lächerlichkeit hin zu einem Anflug von Mitleid oder psychologischer Einsicht.
»Unglück« deutet auf eine biografische Tiefe hin: Der Mann, so suggeriert es Altmayer, war vielleicht einst anders – kraftvoll, aufbrausend –, ist aber durch Erfahrungen des Leidens oder durch einen Schicksalsschlag »zahm und mild« geworden.
Es entsteht hier eine Ambivalenz: Spott und Mitgefühl vermischen sich. Die äußere Lächerlichkeit kontrastiert mit einem inneren gebrochenen Zustand.

2156 Er sieht in der geschwollnen Ratte
Hier beginnt der eigentliche metaphorische Kern der Passage. Die »geschwollne Ratte« ist eine phantasmagorische Erscheinung, wahrscheinlich Teil der Zauberposse Mephistos. Das Tier ist grotesk übersteigert – wie auch der Mensch zuvor beschrieben wurde.
»Geschwollen« deutet auf Krankheit, Verderbnis, Übermaß – sowohl körperlich als auch moralisch.
Dass der Mann »in der Ratte etwas sieht«, verweist auf einen unbewussten Moment der Selbsterkenntnis, eingebettet in ein Spottbild.

2157 Sein ganz natürlich Ebenbild.
Diese Pointe ist von bitterer Ironie. Die »geschwollne Ratte« wird zum Spiegelbild des Mannes erklärt – nicht zufällig, sondern als »natürliches Ebenbild«.
Hier kulminiert die Szene in einer entlarvenden Anthropologie: Der Mensch ist sich selbst nur noch in entstellter, animalischer Form erkennbar.
Gleichzeitig spielt »natürlich« auch auf eine Entwürdigung des Menschen an – seine tierhafte, triebhafte Natur wird als eigentliche, »wahre« Natur beschrieben.
Der ironische Gestus liegt darin, dass der Mensch nicht durch Geist oder Würde, sondern durch Gestalt und animalisches Wesen definiert wird.

Zusammenfassend 2154-2157
1. Spiegelmotiv und Selbstentfremdung:
Die geschwollene Ratte fungiert als grotesker Spiegel, in dem der Mensch sein entartetes Selbst erkennt. Diese Entfremdung verweist auf einen Verlust der humanistischen Selbstwürde.
2. Kritik an der Triebnatur des Menschen:
Der Mensch wird durch Genuss, Völlerei, Trunksucht deformiert – körperlich wie moralisch. Goethe verhandelt hier die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Kultur, Körper und Geist.
3. Animalisierung des Menschen:
Die Gleichsetzung mit der Ratte stellt den Menschen auf eine tierische Stufe. Dies ist ein Rückgriff auf eine pessimistische Anthropologie, die im Kontrast zum idealistischen Menschenbild steht.
4. Ironie als Enthüllungsinstrument:
Die Ironie dient hier nicht nur dem Spott, sondern der Demaskierung. Der Mensch wird nicht durch Analyse, sondern durch das Lächerliche erkannt.
5. Mephistophelische Perspektive auf die Menschheit:
Die Szene könnte als Echo auf Mephistos Sicht auf den Menschen gelesen werden – als ein armseliges, triebgesteuertes Wesen. Die Karnevalisierung der Szene gehört zur Strategie der Verführung durch Lächerlichmachung.
6. Verlust der Transzendenz:
In der trivialen Welt der Weinstube ist keine Spur von Geist, Tiefe oder metaphysischer Dimension. Der Mensch ist reduziert auf Leib, Lust und Leere – ein Kontrast zu Fausts transzendentalem Streben.
7. Alltagsrealismus und Parodie bürgerlicher Existenz:
Die Szene karikiert das Kleinbürgertum: das Altern, die Laster, das psychische Abgebrühtsein. In der Ratte sieht man nicht nur ein Individuum, sondern ein ganzes Gesellschaftsbild.

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