faust-1-08-01-auerbachs keller

Faust.
Der Tragödie erster Theil

Johann Wolfgang von Goethe

Auerbachs Keller in Leipzig. (1)
Zeche lustiger Gesellen.

Frosch, Brandner, Siebel, Altmayer.

Frosch.
2073 Will keiner trinken? keiner lachen?
Frosch, einer der »lustigen Gesellen« in Auerbachs Keller, stellt hier eine rhetorische Doppelfrage, die als sozialer Vorwurf zu verstehen ist. Der Kontext ist eine gesellige, trinkfreudige Runde, die durch den Auftritt Mephistopheles bald aus der Bahn geworfen wird. Frosch beklagt sich über mangelnde Beteiligung an der Trunkenheit und Heiterkeit – zwei zentrale Aktivitäten der Szene. Das Fehlen dieser Verhaltensweisen stellt für ihn einen Bruch des gemeinschaftlichen Rituals dar. Implizit schwingt eine Norm mit: In diesem Raum gelten Trinken und Lachen als soziale Verpflichtung.
Die Wiederholung der Fragepartikel "keiner?" verstärkt den Eindruck von Ungeduld und Erwartungsdruck. Es geht Frosch nicht um echtes Vergnügen, sondern um Konformität: Wer hier ist, soll sich entsprechend verhalten. Der Vers verdeutlicht also, wie Gruppenzwang, Alkohol und »Heiterkeit« sich zur entleerten Pose verbinden – ein Schattenbild geselligen Miteinanders.

2074 Ich will euch lehren Gesichter machen!
Mit dieser ironisch-drohenden Wendung nimmt Frosch eine Rolle an, die Züge des Clowns wie des Gewalttäters trägt. »Gesichter machen« ist hier doppeldeutig:
1. Im alltäglichen Sprachgebrauch bezeichnet es das Grimassieren, also das absichtliche Verziehen des Gesichts zur Belustigung anderer – passend zur lärmenden Wirtshausgesellschaft.
2. Zugleich kann es aber auch bedeuten, jemanden durch Spott oder Schläge »ein Gesicht zu machen«, d. h. jemanden zu beschämen oder gar lächerlich zu machen.
Die Wendung »Ich will euch lehren…« klingt schulmeisterlich und aggressiv. Frosch will die anderen dazu bringen, sich zu amüsieren – notfalls durch Übertriebenheit oder Herabwürdigung. Es zeigt sich eine Entgrenzung des Humors: Was als Heiterkeit begann, droht in Zwang und Spott umzuschlagen. Diese Dynamik ist bereits eine Vorahnung auf das chaotische und trügerische Treiben, das Mephistopheles gleich entfachen wird.

Zusammenfassend 2073-2074
1. Satirische Entlarvung bürgerlicher Vergnügungskultur
Goethes Darstellung des Wirtshauses ist keine romantische Verklärung des »Volkes«, sondern eine sarkastische Zeichnung der Oberflächlichkeit und Banalität geselliger Rituale. Die Lachexzesse und der Alkoholkonsum erscheinen mechanisch, entleert, konformistisch. Der Zwang zur Heiterkeit verweist auf eine durch Form erstarrte Lebenspraxis.
2. Konformität und performative Identität
Frosch verlangt, dass alle trinken und lachen – nicht weil ihnen danach zumute ist, sondern weil es erwartet wird. Hier wird deutlich, wie Rollenbilder (z. B. der »fröhliche Zechkumpan«) performativ eingeübt und eingefordert werden. Der Mensch zeigt sich nicht als freies Wesen, sondern als Schauspieler im sozialen Ritual.
3. Vorahnung mephistophelischer Manipulation
Die Dynamik, die Frosch andeutet – Gruppenzwang, Kontrolle durch Spott, Lust an der Verzerrung –, ist bereits eine Karikatur jener Kräfte, die Mephistopheles kurz darauf entfesseln wird. Frosch ist eine Art Vorläufer des Mephistopheles in der Welt der Trivialität: Der kleine Teufel der geselligen Spießigkeit.
4. Sprache als Machtmittel
Frosch droht, durch Sprache (»Ich will euch lehren…«) Verhalten zu erzwingen. Sprache tritt nicht als Medium der Wahrheit oder des Dialogs auf, sondern als Werkzeug der Kontrolle. Das verweist auf ein zentrales Thema des »Faust«: den Missbrauch von Sprache und Bildung zur Machtausübung.
5. Zersetzung echter Lebensfreude
Die Szene steht unter dem Zeichen der »komischen« Entstellung. Echter Humor wird ersetzt durch gezwungenes Lachen; echte Lebensfreude durch Rausch und Maskenspiel. Der Mensch verliert sich in künstlicher Aufgekratztheit – ein Motiv, das Goethes Skepsis gegenüber moderner Zerstreuungskultur verrät.

2075 Ihr seyd ja heut wie nasses Stroh,
»Nasses Stroh« ist eine anschauliche Metapher für eine gedämpfte, freudlose, kaum entzündbare Stimmung. Nasses Stroh lässt sich im Gegensatz zu trockenem nur schwer anzünden – es ist träge, schwerfällig, ohne Feuer oder Begeisterung.
Frosch äußert diesen Spott gegenüber seinen trinkfreudigen Kameraden (wahrscheinlich Brander oder Altmayer), die an diesem Abend ungewohnt zurückhaltend und weniger ausgelassen wirken. Die Zecher sind sonst für ihre Ausgelassenheit bekannt, doch heute scheinen sie wie »nasses Stroh« – ein Ausdruck für einen nicht in Gang kommenden, müden oder melancholischen Zustand.
Der Ton ist zugleich neckend und kritisch. Frosch bringt damit eine Erwartungshaltung zum Ausdruck: Geselligkeit und Alkoholgenuss sollen ein gewisses Maß an Lebendigkeit und Ausbruch garantieren. Die Zecher erfüllen heute nicht die ritualisierte Erwartung.

2076 Und brennt sonst immer lichterloh.
Die Formulierung »lichterloh brennen« ist ein gängiger Ausdruck für heftige, schnell entfachte und ausdrucksstarke Emotionen oder Aktivitäten – in diesem Fall die Trinkfreude und die damit verbundene Ausgelassenheit. Der Kontrast zur vorherigen Metapher wird damit klar: Das gewohnte Verhalten ist impulsiv, leidenschaftlich, extrovertiert.
Die Alliteration »lichterloh« verstärkt den klanglichen Effekt und unterstreicht die Lebhaftigkeit der gewohnten Gemütslage. Diese Verse leben insgesamt vom Kontrast zwischen dem Unerwarteten (nasses Stroh) und dem Erwarteten (lichterloh brennend).
Froschs Bemerkung enthält eine gewisse Ironie: Er kritisiert nicht ernsthaft, sondern weist mit halb-spöttischem Ton auf die Diskrepanz zwischen Normalverhalten und aktuellem Zustand hin. Dies spiegelt auch das lockere, trinkfreudige Milieu des Kellers wider.

Zusammenfassend 2075-2076
1. Existenzieller Automatismus und Erwartungszwang:
Die Zecher werden durch Froschs Bemerkung als Träger einer bestimmten Rolle enthüllt: Sie haben »zu funktionieren« – zu feiern, zu lachen, zu trinken. Froschs Spott offenbart den sozialen Zwang zur Geselligkeit. In diesem Sinne kritisiert die Szene das Fehlen echter Individualität: Die Menschen bewegen sich in Rollenklischees und Maskeraden, ohne innere Regung.
2. Konformismus und Ritualisierung des Lebens:
Der Abend in Auerbachs Keller wird als ritualisiertes, beinahe mechanisches Ereignis dargestellt. Die Metapher »nasses Stroh« verweist auf eine Unterbrechung dieses Automatismus. Froschs Bemerkung zeigt, wie stark Menschen von der Erfüllung sozialer Erwartungen abhängig sind – auch in der Unterhaltung. Der freie Wille wird hier durch kulturelle Gewohnheiten überlagert.
3. Verlust von Innerlichkeit in der Trivialität:
Der Kontrast zwischen der metaphorischen Dürre (nass, schwer entzündlich) und dem »lichterloh« suggeriert eine Abwesenheit echter Innerlichkeit oder geistiger Tiefe. In einer Welt der sinnlichen Oberfläche (Trinken, Lachen) ist die Energie nur noch Simulation. Die brennende Leidenschaft, von der Frosch spricht, ist in Wahrheit leer – ein äußeres Schauspiel.
4. Vorwegnahme mephistophelischer Ironie:
Die Szene ist nicht bloß ein heiterer Einschub, sondern bereitet stilistisch Mephistos ironisches Spiel mit den Menschen vor. Die doppelte Metapher (»nasses Stroh« vs. »lichterloh«) verweist auf die Manipulierbarkeit des Menschen durch äußere Reize. Das Verhältnis von Schein und Sein, von oberflächlicher Animation und innerer Lebendigkeit wird subtil eingeführt.
5. Spiegelung bürgerlicher Lebensformen:
In den ausgelassenen Trinksprüchen der Szene parodiert Goethe die bürgerliche Lebensweise, die ihre Leidenschaft nur im Übermaß alkoholischer Ausschweifung findet. Froschs Bemerkung zeigt, wie stark die Lebensfreude an äußere Stimulanzien gekoppelt ist – sie ist nicht »von innen heraus« motiviert, sondern von Konventionen des Feierns.
6. Theologische Anspielung auf das »Feuer« des Geistes:
Im Kontrast zur späteren theologischen und mystischen Symbolik des Feuers (z. B. im letzten Teil von Faust II) erscheint dieses »brennen« profan und entleert. Die Szene führt das Motiv des Feuers auf seine triviale, körperliche Bedeutung zurück – eine Parodie auf das »Pfingstfeuer« oder die »Feuerzunge« des Geistes.

Brander.
2077 Das liegt an dir; du bringst ja nichts herbey,
Brander richtet diesen Vorwurf vermutlich an einen seiner trinkfreudigen Gesellen (vermutlich Frosch, Siebel oder Altmayer) – oder auch allgemein an die Stimmung der Runde, die gerade etwas ins Stocken geraten ist. Der Ton ist spöttisch, aber freundschaftlich-robust, wie es dem studentischen Trinkmilieu entspricht. Der erste Teil des Verses (»Das liegt an dir«) verschiebt die Verantwortung für die stagnierende Stimmung auf das Gegenüber. Es fehlt an Anregung, an Unterhaltung. »Du bringst ja nichts herbey« bezieht sich auf das Ausbleiben einer witzigen, derben, vielleicht auch absurden Einlage – etwas, das im Kontext dieser Szene (Saufgelage, Späße, Trinklieder) erwartet wird.

2078 Nicht eine Dummheit, keine Sauerey.
Der Reim verstärkt den Tonfall des Tadels und bringt auf den Punkt, was in der Szene gewünscht ist: Dummheit und Sauerei. Das sind nicht negativ gemeinte Begriffe im moralischen Sinne, sondern sie bezeichnen das Spiel mit Grenzüberschreitungen, das dem Trinklied, der zotigen Erzählung, dem zotigen Spiel entspricht. Der Begriff »Dummheit« meint nicht bloße Unwissenheit, sondern eine bewusst eingesetzte Narrheit – eine gespielte Torheit, um zu unterhalten. »Sauerey« verweist auf etwas Vulgäres, Körperlich-Derbes, wie es in derben Studentenwitzen oder Bauernschwänken vorkommt. Dass Brander gerade das Fehlen solcher Elemente beklagt, zeigt den kulturellen Habitus dieser geselligen Runde: es ist eine Welt des körperlichen Rausches, des Spottes, der Lust am Verfall – und damit eine bewusste Gegenwelt zur bürgerlichen Ordnung, aber auch zur metaphysischen Tiefe, die Faust sucht.

Zusammenfassend 2077-2078
1. Subversion als gemeinschaftsstiftendes Prinzip:
In Branders Äußerung wird deutlich, dass »Dummheit« und »Sauerei« als soziale Lubrikationsmittel fungieren – sie stiften Bindung durch gemeinsames Überschreiten von Normen. Das »Unvernünftige« wird zum Fundament der Gruppenkohäsion, ähnlich wie im Karneval oder in Bakchus-Kulten. Die rational geordnete Welt wird kurzzeitig außer Kraft gesetzt.
2. Der Triumph des Niederen über das Erhabene:
Die Szene kontrastiert stark mit Fausts metaphysischem Streben. Während Faust göttliche Erkenntnis will, wird hier das Körperliche, Derbe, Primitive gefeiert. In Branders Aufforderung offenbart sich der Triumph des Profanen über das Sakrale – eine Art Gegen-Faust.
3. Linguistisches Spiegelbild der Entleerung:
Die Zeile »Nicht eine Dummheit, keine Sauerey« verweist auch sprachlich auf Leere. Die Negationen (»nicht«, »keine«) markieren ein Fehlen von Inhalt, und dieser Inhalt ist – paradox – gerade das Inhaltslose: die Dummheit, das Obszöne. Es wird ein Vakuum der Bedeutung beklagt, das nur durch noch größere Bedeutungslosigkeit (nonsensisches Spiel) gefüllt werden kann.
4. Der entlarvte Mensch als triebhaftes Wesen:
In Branders Perspektive zeigt sich eine anthropologische Reduktion des Menschen auf das Lustprinzip. Er will Unterhaltung, Reiz, Ausbruch – keine Idee, kein Ethos, kein Logos. Diese Reduktion korrespondiert mit Mephistopheles’ Menschenbild: der Mensch ist ein Tier, das in seinen Gelüsten lebt.
5. Zynismus des Alltags als Kontrastfolie für das Erhabene:
Goethe konstruiert diese Szene bewusst als komisches Intermezzo zwischen den existenziellen Höhen Fausts. Doch gerade darin liegt Tiefe: das Weltliche, Banale, sogar das Ekelerregende gehört zur Totalität des Menschlichen – ohne dieses Moment würde Fausts Streben ins Leere laufen. Die Szene wird zur ironischen Brechung des Erhabenen.
6. Frühe Form gesellschaftlicher Entfremdung:
Brander fordert »Dummheit« und »Sauerei«, nicht weil sie sinnvoll wären, sondern weil sie funktionieren – als Unterhaltung, als Füllmasse gegen die Leere. Die Zerstreuung ersetzt das Gespräch, der Witz ersetzt das Denken. Dies verweist auf einen entstehenden Mechanismus moderner Vergnügungskultur, in der Inhalte beliebig werden, solange sie affizieren.

Frosch.
gießt ihm ein Glas Wein über den Kopf.

2079 Da hast du beydes!

Brander.
2079 Doppelt Schwein!
»Da hast du beydes!« ist eine sarkastische Wendung. Sie spielt mit der Redewendung »Das Beste aus beiden Welten«, doch hier wird sie ins Groteske gekehrt. Gemeint ist wohl: »Du bekommst beides – Wein und Strafe« oder »den Trank und die Demütigung«.
Der Satz entblößt aber auch die moralische Doppelbödigkeit der Gesellen: Sie geben sich als lebensfrohe Zecher, reagieren aber bei der kleinsten Verunsicherung mit Gewalt und Spott.
Sprachlich wirkt die Wendung wie eine Reaktion auf eine beabsichtigte Provokation Mephistos – das »beydes« verweist auf eine binäre Spannung: Schein vs. Sein, Trank vs. Betrug, Lust vs. Zorn.
»Doppelt Schwein!«
Dieser Ausspruch bringt den aufwallenden Zorn auf den Punkt – in plumper, derber Form. Das »doppelt« steigert nicht nur den vulgären Ausdruck, sondern spielt auch auf die Mehrdeutigkeit von »Schwein« an:
Einerseits als Schimpfwort für eine abscheuliche oder verachtenswerte Person (Mephistopheles als Betrüger),
andererseits ironisch-spöttisch gegenüber Frosch, der durch das Überschütten des Gastes selbst ein Schwein (im Sinne der Trunkenheit oder Primitivität) wird.
Im Kontext des Trinkens erinnert »Schwein« auch an das Fressen und Saufen als animalisches Verhalten – Brander überführt sich somit selbst unbewusst in seine eigene Beleidigung.
Die Komik dieser Szene beruht auf der Entgleisung der Situation – von der Illusion genussvoller Magie hin zur Zerstörung durch einen feurigen Trug, was dann in groben Unflätigkeiten und physischer Gewalt kulminiert.

Zusammenfassend 2079
1. Dialektik von Illusion und Realität
Mephistopheles führt die Zecher durch eine illusorische Erfahrung – doch statt Erkenntnis oder Neugier reagieren sie mit Wut, sobald die Magie in Schmerz umschlägt. Die Szene inszeniert das menschliche Unvermögen, Schein und Wahrheit zu unterscheiden oder auszuhalten.
2. Tierische Natur des Menschen
Die Gäste verhalten sich triebgesteuert: Genuss, Wut, Aggression – alles geschieht impulsiv, ohne Reflexion. In der Bemerkung »Doppelt Schwein« manifestiert sich Goethes anthropologische Perspektive: Der Mensch ist – unter der Maske der Kultur – ein animalisches Wesen.
3. Verspottung des Bildungsbürgertums
Auerbachs Keller, ein historisch realer Ort, war ein Symbol studentischer Trinksitten. Goethe nutzt ihn zur Karikatur: Die Zecher erscheinen nicht als fröhliche Akademiker, sondern als primitives, ungebildetes Kollektiv, das der Magie nur mit Gewalt begegnet. Bildung und Barbarei kollidieren.
4. Mephistos Funktion als Entlarver
Durch sein Spiel mit Illusionen entlarvt Mephistopheles die wahren Charaktere der Anwesenden. Er muss sie nicht verführen – er genügt sich, sie sich selbst zu überlassen. Der Wein als magisches Medium führt zur Offenbarung menschlicher Niedrigkeit.
5. Parodie des Sakralen
Der »Wein«, der sonst im religiösen Kontext Symbol des Heiligen Geists oder der Transzendenz ist, wird zur Karikatur. Statt Ekstase: Verbrennung. Statt Segnung: Spott. Die ganze Szene ist eine Umkehrung sakraler Gastfreundschaft – eine teuflische Messe des Banalen.
6. Sprache als Waffe der Erniedrigung
Froschs und Branders Sprüche zeigen, wie Sprache im trunkenen Zustand ihre rational-reflektive Qualität verliert und zur brutalen Waffe degeneriert. Die Zunge entblößt die Seele – hier nicht als edel, sondern als vulgär, spöttisch, verletzend.

Frosch.
2080 Ihr wollt’ es ja, man soll es seyn!
Frosch reagiert auf eine vorangegangene Provokation oder Herausforderung innerhalb der ausgelassenen Trinkergruppe. Der Satz drückt eine Mischung aus Nachgeben und Entschlossenheit aus – als wolle er sagen: »Wenn ihr meint, es soll so sein – nun gut, dann spielen wir das Spiel mit.«
Der Ausdruck »man soll es sein« verweist auf eine performative Haltung: Es geht nicht um Authentizität, sondern um das Spiel einer Rolle, vielleicht auch um das Sich-Hineinsteigern in Trunkenheit, Männlichkeit oder Streitsucht.
Frosch, der zuvor als wichtigtuerisch und rechthaberisch gezeichnet wurde, zeigt sich hier als Teil eines selbstverstärkenden Rituals: die Gruppe fordert ein Verhalten – und das Individuum beugt sich.

Siebel.
2081 Zur Thür hinaus wer sich entzweyt!
Siebel gibt einen kategorischen Imperativ von sich: Wer sich »entzweien« will – d.h. wer Zwietracht säen oder Streit beginnen will – soll den Raum verlassen.
Der Vers zeigt ein paradoxes Moment: Gerade in der vorgeblichen Aufforderung zum Frieden liegt eine latente Aggression. Es ist eine Ausgrenzungsgeste. Die Gemeinschaft darf nur unter der Bedingung ihrer Lärm- und Sauf-Einigkeit bestehen. Wer sich der Dynamik entzieht oder sie kritisch reflektieren würde, wird ausgeschlossen.
Goethe stellt hier das Spannungsverhältnis zwischen Gruppenkonformität und Individualität dar: das Kollektiv duldet keinen Widerstand – nicht einmal intellektuellen oder sittlichen.

2082 Mit offner Brust singt Runda, sauft und schreit!
Diese Imperative zeigen den erwarteten Modus dieser Szene: Enthemmung, Geselligkeit, Lautstärke.
»Mit offner Brust« meint: offenherzig, ungehemmt, in leidenschaftlicher Geste. Das Singen der Runda (Trinklied) wird hier als ritueller Vollzug von Gemeinschaft zelebriert, ebenso wie das »Saufen« und »Schreien«.
Diese Formen der Expressivität – musikalisch, alkoholisch, körperlich – stehen im Kontrast zu innerer Sammlung oder Selbstbesinnung. Das »Ich« löst sich auf in kollektiver Trunkenheit.

2083 Auf! Holla! Ho!
Die lautmalerischen Ausrufe wirken wie ein martialisches Trommeln zum Angriff oder wie der Ruf zu einem wilden Ritual.
»Auf!« ist Aufforderung zum Mitmachen, zum Aufstehen, zum Einsetzen einer Handlung.
»Holla!« und »Ho!« sind archaisch anmutende Rufe, wie man sie von Kneipen, Saufgelagen oder aus Soldatenliedern kennt.
Die Sprache selbst wird hier zu Klang, zu Gebrüll, zu rhythmischem Lärm – Ausdruck eines durch und durch körperlich-rhythmischen Gemeinschaftserlebnisses.

Zusammenfassend 2080-2083
1. Kritik an der massenhaften Entindividualisierung:
Die Szene zeigt die Auslöschung individueller Urteilsfähigkeit zugunsten eines kollektiven Rausches. Der Einzelne verliert sich in Rollen, Konventionen und Erwartungshaltungen. Dies spiegelt eine Grundthematik des Faust: das Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung und Selbstverlust.
2. Trinkgemeinschaft als parodierte Liturgie:
Die Trinksprüche, das gemeinsame Singen und Schreien stellen eine Art parodierten Gottesdienst dar – eine dämonisierte Form von Gemeinschaftsritual. Statt sakraler Einigung vollzieht sich eine bacchantische Entgrenzung, was Goethe mit ironischem Ton gestaltet.
3. Performativität und Identität:
Frosch’s Satz »man soll es seyn« reflektiert eine Philosophie der Rolle: Identität wird nicht als inneres Wesen verstanden, sondern als das, was gespielt, dargestellt und von anderen bestätigt wird – ein Gedanke, der bereits auf moderne Selbstkonzepte verweist.
4. Barbarisierung der Sprache:
Die Sprache degeneriert zum bloßen Schall – etwa in »Holla! Ho!« – was eine Degradierung des Logos bedeutet. Die Worte verlieren ihren begrifflichen Gehalt und dienen nur noch der Erregung und affektiven Synchronisierung. Der Mensch als sprachbegabtes Wesen wird hier ins Tierische zurückgestuft.
5. Spiegelung von Fausts Dilemma im Hintergrund:
Diese Szene hat eine dramaturgische Funktion im Kontrast zu Fausts intellektuellem und metaphysischem Ringen. Während Faust nach dem Sinn des Daseins fragt, zeigt Auerbachs Keller eine Welt, die durch Lautstärke, Alkohol und Riten das existenzielle Fragen abwehrt. Das »Ich« wird hier im »Wir« begraben.
6. Ironie Goethes und anthropologische Skizze:
Goethe zeigt mit feiner Ironie eine allzumenschliche Neigung zur Selbstvergessenheit durch Rausch und Konvention. Die Szene hat eine anthropologische Dimension: der Mensch sucht Gemeinschaft, aber diese schlägt leicht in Ausschluss, Lärm und Triebentfesselung um.

Altmayer.
2083 Weh mir, ich bin verloren!
Diese Zeile ist ein Ausruf des Schreckens und der Verzweiflung. Das »Weh mir« ist eine typische Interjektion, die im Drama häufig verwendet wird, um plötzlichen Schmerz, Angst oder Erstaunen auszudrücken.
Der Ausdruck »ich bin verloren« ist besonders aufschlussreich: Er kann sowohl im banalen Sinne verstanden werden (Altmayer fühlt sich durch den Lärm oder die ungewohnte Situation überfordert) als auch in einem tieferen, fast religiös-existenziellen Sinne. In einem christlich geprägten Kontext kann »verloren sein« auf den Zustand der Verdammnis oder Sündhaftigkeit hindeuten. In der Szene handelt es sich vordergründig um eine komische Reaktion auf Lärm und Trunkenheit – doch durch die gewählte Formulierung schwingt zugleich eine tiefere Ahnung von Kontrollverlust und seelischem Verfall mit.

2084 Baumwolle her! der Kerl sprengt mir die Ohren.
Diese Zeile verleiht der vorherigen Aussage eine konkrete, körperlich-sinnliche Dimension. Baumwolle als Schutz vor übermäßiger Lautstärke zeigt, wie stark die Wirkung der Zauberei oder der dämonisch gesteuerten Inszenierung von Mephistopheles und Faust auf die Sinne der Anwesenden ist. Die übertriebene Reaktion (»sprengt mir die Ohren«) wirkt komisch, weist aber zugleich auf eine symbolische Überforderung hin: Der »Kerl« (vermutlich Mephistopheles oder einer seiner Verzauberungseffekte) dringt gewaltsam in das Wahrnehmungszentrum des Menschen ein – das Ohr als Sinnesorgan für Sprache, Musik und geistige Eindrücke. Die Grenze zwischen dem bloßen Scherz und dem Verlust von Souveränität ist hier fließend.

Zusammenfassend 2083-2084
1. Der Zusammenbruch sinnlicher Selbstkontrolle
Altmayers Reaktion offenbart, wie leicht der Mensch in einem Zustand der Trunkenheit, Manipulation oder Überforderung seine Selbstwahrnehmung und Selbstkontrolle verliert. Es ist eine Parodie auf die Unfähigkeit des Menschen, sich gegenüber der Verführung des Sinnlichen und des Dämonischen zu behaupten.
2. Lärm als Symbol metaphysischer Unruhe
Der Lärm, der Altmayer »die Ohren sprengt«, kann als Symbol für eine überbordende Realität gedeutet werden, die den Menschen erschüttert, überfordert oder in seinen Grundfesten erschüttert. Im Sinne Goethescher Weltsicht kann dies als Warnung verstanden werden vor einer Welt, in der das Maß verloren geht – akustisch wie moralisch.
3. Das »Verloren-Sein« als existenzielles Grundgefühl
Die Formulierung »ich bin verloren« greift ein zentrales Motiv der gesamten Faust-Dichtung auf: die Angst des Menschen, in der Welt fehlzugehen, sich zu verlieren, nicht mehr gehalten zu sein. Selbst in dieser komödiantischen Szene blitzt für einen Moment ein Echo von Fausts eigener Verlorenheit auf – hier freilich in karikierter Form.
4. Ironie der Dämonie im Trivialen
Mephistopheles’ dämonisches Spiel manifestiert sich in einer Kneipenszene. Die Wirkung seiner Magie wird nicht etwa in einem hohen, metaphysischen Kontext dargestellt, sondern mitten in der Lächerlichkeit menschlicher Vergnügungssucht. Der Dämonische wird ins Profane übersetzt – eine dialektische Strategie, die die Trennung von Hoch und Niedrig aufhebt.
5. Das Ohr als Ort der geistigen Verletzlichkeit
In philosophischer und theologischer Perspektive ist das Ohr nicht nur ein physisches Organ, sondern das Tor zur Sprache, zum Logos, zur Offenbarung. Dass es »gesprengt« wird, verweist auf die Gefahr der geistigen Zerstörung oder der Verblendung – hier ins Groteske gewendet, doch mit tieferer Resonanz.
6. Trunkenheit als Zustand zwischen Ekstase und Kontrollverlust
Die Szene karikiert den alkoholisierten Zustand, verweist aber im Hintergrund auf uralte Zusammenhänge zwischen Rausch, Ekstase, Götternähe und Wahnsinn. Altmayer wird – wie die antiken Bakchantinnen – überrannt von einer Kraft, die er nicht versteht. Der Unterschied: Er ist keine Myste, sondern ein Tor.

Siebel.
2085 Wenn das Gewölbe wiederschallt,
Die Szene spielt in einem Weinkeller mit gewölbter Decke, wie im historischen Auerbachs Keller in Leipzig üblich. Das »Gewölbe« steht hier nicht nur architektonisch für den Klangraum, sondern metaphorisch für eine akustisch aufgeladene Welt, in der sinnliche Eindrücke verstärkt wahrgenommen werden. Das »Wiederschallen« deutet auf Echo, Resonanz, Verstärkung – es macht das Gesungene oder Gesagte körperlich erfahrbar. In diesem Fall bezieht sich Siebel auf den Klang beim Singen eines Trinklieds oder beim Musizieren. Das physikalische Widerhallen wird zur sinnlichen und affektiven Verstärkung des Moments. Es transportiert ein Lebensgefühl: das berauschte Aufgehen in Klang, Raum und Gemeinschaft.

2086 Fühlt man erst recht des Basses Grundgewalt.
Der Bass, tiefste Tonlage in der Musik, steht hier für die archaische, körperlich erfahrbare Dimension des Klangs. Er ist nicht nur hörbar, sondern fühlbar – im Magen, im Brustkorb. Das Wort »Grundgewalt« kombiniert »Grund« (im Sinne von fundamentaler Tiefe) mit »Gewalt« (Kraft, Macht), was eine fast metaphysische Kraft des Klanges suggeriert. Der Bass wird zur Urgewalt, die den Menschen im Innersten erschüttert. Siebel betont, dass sich diese Gewalt besonders durch die Akustik des Gewölbes entfaltet – ein Hinweis auf das Zusammenspiel von Raum, Körper und Klang.
Insgesamt suggerieren die Verse eine tief empfundene Einheit von Musik, Körperlichkeit und Atmosphäre, in der sich das Lebensgefühl der Zechkumpane ausdrückt: eine Mischung aus Rausch, Unmittelbarkeit und sinnlicher Präsenz.

Zusammenfassend 2085-2086
1. Ästhetisch-ontologische Körperlichkeit des Klangs
Klang wird nicht nur gehört, sondern im Körper erfahren. Das verweist auf eine proto-ästhetische Anthropologie: Der Mensch ist nicht nur Vernunftwesen, sondern auch ein Resonanzkörper, ein »fühlendes Ich« in der Welt.
2. Symbolik des Gewölbes als Resonanzraum der Existenz
Das Gewölbe als Raum, in dem Klang widerhallt, kann als Metapher für das menschliche Bewusstsein gelesen werden: Außenes und Innenes geraten in Schwingung, die Welt tritt ein und wird in ihrer »Grundgewalt« erfahrbar.
3. Dionysisches Lebensgefühl
Die Szene transportiert einen dionysischen Geist (vgl. Nietzsche), in dem Ekstase, Rausch und Musik das rationale Ich auflösen. Der Bass als »Grundgewalt« ist Symbol einer Existenzweise jenseits von Ordnung, Mäßigung und Logos.
4. Vergänglichkeit und Scheincharakter des sinnlichen Genusses
Indem Klang eine solch mächtige Wirkung entfaltet, wird die Szene zur Metapher für den Schein, wie ihn Goethe häufig inszeniert: Was als tief und ergreifend erscheint, ist zugleich flüchtig – ein Echo, ein Hall, der verklingt.
5. Spiegelung des metaphysischen Grundtons des Lebens
Der Bass als »Grundgewalt« lässt sich auch als Chiffre für den Grundton des Daseins deuten – eine dumpfe, kaum fassbare Urkraft, die im Trubel des Lebens manchmal spürbar wird, aber rational nicht vollständig erfasst werden kann.
6. Zivilisationskritik durch Klangsymbolik
In der überzogenen Wertschätzung des akustischen Effekts und sinnlichen Erlebens zeigt sich ein Verlust von Tiefe im Denken. Die Kraft des Basses wird gefeiert, doch sie ersetzt Sinn nicht – sie verdeckt ihn womöglich.
7. Resonanztheorie nach Hartmut Rosa (anachronistische Rückbindung)
Lesbar im Lichte moderner Philosophie: Rosa spricht von Resonanzbeziehungen zwischen Mensch und Welt. Der Vers beschreibt genau solch eine Erfahrung – die Welt antwortet dem Menschen, sie tritt mit ihm in einen leiblichen Dialog.

Faust.
2087 So recht, hinaus mit dem der etwas übel nimmt!
Frosch bringt hier die Stimmung im Wirtshaus auf den Punkt: Jeder, der die ausgelassene Fröhlichkeit oder derbe Scherze nicht erträgt oder gar Kritik äußert, wird ausgeschlossen – symbolisch wie praktisch. Der Satz hat die Funktion eines Stammtisch-Dogmas: Wer nicht mitlacht, fliegt raus. Es ist ein Sprachakt der sozialen Selbstbehauptung durch Gruppendruck. Der »der etwas übel nimmt« steht für alles, was sich der unreflektierten Triebentfaltung in den Weg stellt – sei es moralisch, intellektuell oder ästhetisch. Damit stilisiert Frosch das Trinken und Johlen zur Norm, und jede Form von Reflexion oder Kritik wird diffamiert.
Subtextuell signalisiert Frosch damit: In dieser Sphäre herrscht das Dionysische, nicht das Apollinische. Es gibt keinen Platz für Ernst, Gewissen oder Maß. Er ruft zur Affirmation des Rausches auf – und zur Ächtung des Andersseins.

2088 A! tara lara da!
Diese Lautmalerei ist eine Form des lallenden Gesangs, fast schon ein sprachliches Äquivalent zur Trunkenheit. Der Vers ist bedeutungslos im semantischen Sinn, aber äußerst bedeutungsvoll im performativen Sinne: Er transportiert das Gefühl der Entgrenzung, des Sich-Verlierens im Klang, ähnlich wie Hugo Balls Lautgedichte. Hier wird Sprache selbst zum Instrument der Trunkenheit – und verliert ihre rational-ordnende Funktion.
Funktional dient dieser Vers auch dazu, das vorher Gesagte zu feiern und mit einem dionysischen Freudenlaut zu versehen. Es handelt sich um eine Art "rituelle Bestätigung" der vorher geäußerten Haltung.

Altmayer.
2089 A! tara lara da!
Altmayer wiederholt den unartikulierten Gesang Froschs – ein Echo, das nicht auf Inhalt, sondern auf Klang und Zugehörigkeit abzielt. Durch das bloße Nachsingen entsteht eine Form der kollektiven Identitätsbildung: Es zählt nicht der individuelle Ausdruck, sondern das gemeinsame Rauschen.
Psychologisch steht diese Wiederholung für Konformismus und Entgrenzung: Altmayer zeigt durch die Imitation, dass er Teil der Gruppe bleibt, dass er mitmacht und keine Fragen stellt. Die Sprachentleerung wird zum Mittel des Zusammenhalts – das Paradox: Je bedeutungsloser die Sprache, desto effektiver die soziale Funktion in diesem Kontext.

Zusammenfassend 2087-2089
1. Kritik an der Entindividualisierung im Rausch:
Die Szene illustriert, wie der Einzelne sich im Gruppendruck verliert. Sprache, einst Ausdruck des Denkens, verkommt zum bloßen Instrument der Zugehörigkeit. Die Subjekte hören auf, Subjekte zu sein – sie werden Funktionsträger eines rituellen Rausches.
2. Dionysisches Prinzip (Nietzsche):
Das »tara lara da« verkörpert das Dionysische in reinster Form – Rausch, Entgrenzung, Auflösung des Ichs in ekstatischer Gemeinschaft. Goethe antizipiert hier eine Dynamik, die Nietzsche später als Grundlage der tragischen Kunst beschreibt: das Vergessen des Individuums im ekstatischen Strom des Lebens.
3. Sprache als Medium der Entsinnlichung oder Entsinnung:
Goethe reflektiert auf subtile Weise die Ambivalenz der Sprache: Sie kann Medium der Aufklärung und Selbsterkenntnis sein – wie bei Faust –, aber auch Instrument der Entsinnung, wie bei Frosch und Altmayer. Das »tara lara da« ist der Gegenpol zu Fausts »Werd’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch!« – reine Gegenwart ohne Sinn.
4. Soziale Normierung durch performative Sprache:
Froschs Aufforderung »hinaus mit dem« ist kein bloßer Vorschlag, sondern eine sprachlich vollzogene soziale Ausgrenzung. Sprache hat hier nicht bloß informativen, sondern exekutiven Charakter – sie schafft Realität. Damit offenbart Goethe eine tiefe Einsicht in die performative Macht der Sprache (vgl. J. L. Austin).
5. Kritik an der bürgerlich-studentischen Trivialkultur:
Goethe karikiert das deutsche Studentenleben, wie er es aus eigener Erfahrung kannte: dumpfer Alkoholismus, maskuline Selbstvergewisserung durch Abgrenzung und Verachtung des Geistigen. In Auerbachs Keller wird nicht gefeiert, sondern das Denken betäubt.
6. Verlust der Transzendenz:
Während Faust nach dem »was die Welt im Innersten zusammenhält« sucht, feiern Frosch und Altmayer die Leere. Der Kontrast ist radikal: Die einen sehnen sich nach dem Absoluten, die anderen betäuben sich mit dem Nichts.

Frosch.
2089 Die Kehlen sind gestimmt.
Dieser Vers eröffnet mit einer doppelten Bedeutung: Wörtlich meint er, dass die Stimmen – also die Kehlen – zum Singen bereit sind, ähnlich wie Instrumente gestimmt werden. Doch steckt darin auch ein ironischer Subtext: Die Trinkgesellschaft ist offenbar gut »geschmiert«, d.h. alkoholisiert, und bereit, ausgelassen weiter zu feiern. Der Satz ist eine typische Bierstubenformel, die aufzeigt, dass hier eine andere Tonlage herrscht als in den vorherigen Studierzimmer-Szenen. Die Ernsthaftigkeit des Bildungsstrebens wird nun durch eine triviale, halbtrunkene Geselligkeit ersetzt.
Zugleich signalisiert der Vers eine gewisse Selbstinszenierung: Der Sprecher, Frosch, bringt sich als Stimmungsmacher in Stellung. »Die Kehlen« steht auch pars pro toto für die ganze Gesellschaft, die nun gemeinsam singen soll – eine kollektive Stimme, die bereit ist, ihre Meinung oder ihr Lebensgefühl zum Ausdruck zu bringen.

Singt

2090 Das liebe, heil’ge Röm’sche Reich,
Hier beginnt Frosch mit einer Liedzeile, die – scheinbar fromm und ehrfürchtig – das »heilige Römische Reich« anruft. Doch bereits in der Kombination der Adjektive »liebe« und »heil’ge« wird eine ironische Brechung sichtbar: »lieb« ist alltagssprachlich und emotional, »heilig« hingegen sakral und feierlich. Diese Mischung wirkt karikierend und entlarvt das hohe Pathos des Begriffs als leer gewordenes Ritual.
Der Begriff »heiliges Römisches Reich« stand im 18. Jahrhundert bereits in einem Zustand fortschreitenden Bedeutungsverlusts – ein labiles Gebilde, das faktisch zersplittert war. Frosch spielt hier mit dieser geschichtlichen Realität, auch wenn es ihm nicht um eine tiefergehende politische Analyse geht, sondern eher um ein Spottlied, das das große politische Konstrukt satirisch zusammenbrechen lässt.

2091 Wie hält’s nur noch zusammen?
Der zweite Teil der Liedzeile ist eine rhetorische Frage, die das vorher Gesagte sogleich in Zweifel zieht: Wie kann dieses Reich überhaupt noch existieren? Die Ironie wird hier offensichtlich: Die pathetische Anrufung schlägt in Skepsis, ja sogar in offenes Lächerlichmachen um. Frosch gibt vor, eine tiefere, fast staatsphilosophische Frage zu stellen – doch geschieht das aus dem Munde eines Trunkenbolds in einer Trinkstube.
Die Ironie verdoppelt sich: Die Frage ist vordergründig naiv, in Wirklichkeit aber durch und durch zynisch. In einem politisch zersplitterten Deutschland (Goethe schrieb den Faust um 1800, das HRR wurde 1806 aufgelöst) wirkt diese Frage fast prophetisch und gleichzeitig resignativ: Das Reich existiert nur noch als leere Hülle, vielleicht durch Konvention, Gewohnheit oder durch das gemeinsame Trinken?

Zusammenfassend 2089-2091
1. Ironie der Geschichtsordnung:
Der »heilige« Charakter des Reiches wird parodiert. Goethe thematisiert hier – durch die triviale Redeweise Froschs – das Auseinanderklaffen von sakralem Anspruch und weltlicher Realität. Eine politische Ordnung, die sich als gottgewollt versteht, ist längst zum Gegenstand des Spottes einfacher Leute geworden.
2. Entlarvung von hohlem Pathos:
Die Szene zeigt, wie große politische Begriffe (»heilig«, »Römisch«, »Reich«) entmystifiziert werden. In der Spelunke verlieren sie ihre gravitas, werden zum trunkenen Gegenstand der Lächerlichkeit. Goethe thematisiert damit auch die Sprachskepsis: Große Worte haben keinen Halt mehr im Leben.
3. Kritik am politischen Zustand Deutschlands:
Goethe, obschon kein Revolutionär, lässt durch den Mund eines einfachen Zechers Kritik an der Instabilität und Widersprüchlichkeit der Reichsverfassung anklingen. Die Szene spiegelt den Verfall gemeinsamer Identität und Ordnung wider.
4. Die Macht des Gemeinsinns – negativ gewendet:
Das Lied entfaltet eine Art anti-hegelsche Dialektik: Nicht der »Weltgeist« spricht durch die Gemeinschaft, sondern ihre Abwesenheit. Der Zusammenhalt besteht nur noch im Bier, nicht in einer Idee. Der Begriff »Zusammenhalt« wird zur Farce.
5. Theologische Entsublimierung:
Das »Heilige« wird hier nicht mehr als Gottesbezug verstanden, sondern als historische Floskel. Der Begriff verliert seine Transzendenz, sein metaphysisches Gewicht. Damit wird das Heilige zum Profanen – was tief ins Zentrum von Goethes Auseinandersetzung mit Religion, Kultur und Aufklärung führt.
6. Trinkkultur als Subversion des Politischen:
In Auerbachs Keller ist das Politische ins Alkoholische übergegangen. Die Sprache ist versoffen, das Reich ein leerer Mythos, der im Witz überlebt. Hier wird das Politische nicht verhandelt – sondern versoffen. Das ist bei Goethe nicht nur Komik, sondern auch Tragik der Entfremdung.

Brander.
2092 Ein garstig Lied! Pfuy! ein politisch Lied!
Oberfläche: Brander äußert Ekel und Ablehnung gegenüber dem zuvor gesungenen Lied – offenbar ist es aus seiner Sicht »garstig« (also unanständig, vulgär, anstößig) und zusätzlich »politisch«, was er fast wie ein Schimpfwort verwendet.
Subtext: Der doppelte Vorwurf zeigt zwei Arten von Unbehagen: moralisches und gesellschaftliches. Das Wort »politisch« wird hier abwertend gebraucht – es zeigt, dass politische Themen in geselliger, trinkfreudiger Runde als unangebracht oder gar bedrohlich empfunden werden.
Hinweis auf Zeitkritik: Goethe lässt hier durch Brander die politische Müdigkeit und Abwendung vom »großen Ganzen« anklingen – ein typisches Zeichen des beginnenden Biedermeier-Geistes, obwohl die Szene an der Schwelle zur Aufklärung spielt.
Ironie: Die Ablehnung des »politischen Liedes« wirkt fast kindisch empört und offenbart damit unfreiwillig die politische Ignoranz oder gar Feigheit Branders.

2093 Ein leidig Lied! Dankt Gott mit jedem Morgen
Oberfläche: Brander wiederholt sein Missfallen (»leidig« = lästig, unangenehm) und verbindet dies mit einer Art moralischer Mahnung: Man solle Gott jeden Morgen danken.
Subtext: Die Wendung zur Frömmigkeit wirkt hier parodistisch oder zumindest unfreiwillig komisch: Ein Trinker, der eben noch derbste Lieder mitgrölt, schwingt sich plötzlich zur Dankbarkeit gegenüber Gott auf – eine klassische goethesche Ironie.
Latente Satire: Goethe karikiert hier den Typus des Spießbürgers, der zwischen Frömmigkeit, Unbildung und politischer Gleichgültigkeit schwankt.

2094 Daß ihr nicht braucht für’s Röm’sche Reich zu sorgen!
Oberfläche: Brander ist erleichtert, dass er und die Anwesenden keine Verantwortung für das »Röm’sche Reich« tragen – also für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation.
Historischer Kontext: In Goethes Zeit war das Reich ein hochkomplexes, zunehmend dysfunktionales politisches Gebilde (es wurde 1806 endgültig aufgelöst). Die Verwaltung war zersplittert, Entscheidungen wurden durch zahllose Fürsten, Bischöfe und Kurienmitglieder verzögert. Das »Sorgen« um das Reich galt als undankbare, undurchschaubare Aufgabe.
Subtext: Diese Aussage zeigt nicht nur politische Ermüdung, sondern auch den Rückzug ins Private, ins Genussvolle, ins apolitische Leben – ein Thema, das Goethe (und später Heinrich Heine) immer wieder kritisch aufgreifen.
Ironische Brechung: Dass Brander Gott dafür dankt, keine Verantwortung zu tragen, ist eine subtile Umkehrung des bürgerlichen Verantwortungsbegriffs – nicht politische Mündigkeit, sondern politische Unzuständigkeit wird als Glück empfunden.

Zusammenfassend 2092-2094
1. Kritik an politischer Apathie und Ignoranz:
Branders Erleichterung, sich nicht um das Reich kümmern zu müssen, spiegelt eine Haltung der politischen Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit wider – ein frühes Beispiel für das spätere Phänomen der Entpolitisierung des Bürgertums.
2. Karikatur des Kleinbürgers:
Goethe zeichnet hier eine satirische Figur des Spießbürgers: moralisierend, oberflächlich fromm, dabei genussorientiert und intellektuell desinteressiert – ein Gegenbild zum strebenden Faust.
3. Spannung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit:
Die Ablehnung des Politischen verweist auf eine Flucht ins Private, auf eine frühe Vorform bürgerlicher Innerlichkeit – ein zentrales Motiv der Goethezeit, das hier jedoch bewusst ins Groteske verzerrt wird.
4. Historische Dekadenz und Reichsverfall:
Der Verweis auf das »Röm’sche Reich« ist nicht zufällig: Goethe thematisiert hier die Auflösung staatlicher Ordnung und die müde Selbstgenügsamkeit der Zeitgenossen – es ist eine poetische Zeitdiagnose.
5. Ironische Theologie:
Der »Dank an Gott«, keine Verantwortung tragen zu müssen, ist eine perverse Umkehrung christlicher Ethik (Verantwortung, Dienst, Mitwirkung am Gemeinwohl). Die Religion wird hier zur Ausrede für Selbstgenügsamkeit.
6. Kontrast zur faustischen Existenz:
Während Faust nach dem Sinn der Welt ringt und sich am Wissen der Jahrhunderte abarbeitet, leben Brander & Co. dumpf in Tag und Rausch – ein Kontrast, der Fausts Tragik umso deutlicher macht.

2095 Ich halt’ es wenigstens für reichlichen Gewinn
Brander äußert in betont volkstümlichem Ton eine paradoxe Form der Selbstzufriedenheit: Was andere als Verzicht oder Niederlage empfinden würden – nämlich keinen hohen gesellschaftlichen Rang zu besitzen – wertet er als »reichlichen Gewinn«. Schon die Formulierung ist doppelt ironisch:
»Ich halt’ es wenigstens …«: Das »wenigstens« drückt eine gewisse defensive Haltung aus, einen Versuch, etwas vermeintlich Minderwertiges positiv zu wenden. Es schwingt eine latent spöttische Abgrenzung mit.
»reichlichen Gewinn«: Der Begriff »Gewinn« evoziert materielle oder soziale Vorteile, wird hier jedoch in sein Gegenteil verkehrt: Der Nicht-Gewinn der Macht ist der eigentliche Gewinn. Diese Verkehrung lässt sich als ironische Umwertung im Sinne Mephistophelischer Dialektik deuten: der Verzicht auf Größe ist hier Gewinn an Freiheit oder Leichtigkeit – oder bloß Ausrede?
Brander offenbart damit eine Mischung aus Selbsttäuschung, Resignation und Abwehrhaltung gegen höhere Ordnungen – ein typisches Kennzeichen der Spießbürgerfigur im Faustischen Kosmos.

2096 Daß ich nicht Kaiser oder Kanzler bin.
Hier konkretisiert Brander, was er nicht ist – nämlich jemand mit Macht, Verantwortung oder Einfluss. Die beiden genannten Rollen – Kaiser (höchste weltliche Macht) und Kanzler (höchste verwaltende Macht) – stehen paradigmatisch für die Hierarchien und Lasten des öffentlichen Lebens. Die Ablehnung dieser Rollen kann auf mehreren Ebenen gelesen werden:
Spießbürgerlicher Rückzug: Brander lehnt die »großen« Aufgaben ab, um in seiner kleinen Welt ungestört zu bleiben.
Subtile Gesellschaftskritik: Die Aussage kann auch als Kritik am Machtsystem gedeutet werden: Wer solche Ämter hat, ist belastet, unfrei, unter öffentlicher Beobachtung – wer sie nicht hat, kann frei trinken und singen.
Dialektik von Macht und Ohnmacht: Der Verzicht auf Macht wird als Befreiung inszeniert – doch zugleich offenbart sich darin die Ohnmacht der Kleinbürger, die ihre Unterlegenheit durch Ironie zu kompensieren versuchen.
Brander spricht damit einen Topos an, der von Goethe mehrfach aufgegriffen wird: Die Leere und Bürde der Macht versus die vermeintliche Seligkeit des bescheidenen Lebens – ein Thema, das auch im »Osterspaziergang« auftaucht (»Der Fürst kann die Natur nicht zahlen / Der Bettler steht in ihrer Gunst«).

Zusammenfassend 2095-2096
1. Ironische Verkehrung von Herrschaft und Knechtschaft
Branders Aussage enthält eine umgekehrte Wertung gesellschaftlicher Hierarchie: Nicht der Herrscher ist der Gewinner, sondern der Nicht-Herrscher. Diese subversive Umwertung erinnert an sokratische und stoische Denkfiguren, in denen Freiheit im Verzicht liegt.
2. Spießbürgertum als Flucht vor Verantwortung
Brander stellt sich als zufriedener Mann dar, der durch seine gesellschaftliche »Unbedeutsamkeit« nichts zu verlieren hat. Damit umgeht er die moralische und politische Verantwortung, die mit höheren Ämtern einhergeht – ein Hinweis auf den Verzicht auf Ethos zugunsten von Hedonismus.
3. Abwehr gegenüber Transzendenz und Größe
Seine Haltung ist eine Negation des Strebens, das Faust auszeichnet. Branders »Gewinn« liegt im Verzicht auf Höhe – eine Antithese zu Fausts überindividuellem Drang nach Erkenntnis und Sinn. Branders Aussage steht somit im Kontrast zum faustischen Prinzip.
4. Mephistophelisches Element des Zynismus
Der Ausspruch kann als mephistophelisch grundiert gelten: Er ist von einer bitteren Ironie durchzogen, die Größe verhöhnt und Größe als Last diffamiert. Es handelt sich um eine rhetorische Immunisierungsstrategie gegen die eigene Unbedeutsamkeit – eine Form von seelischem Selbstschutz.
5. Kritik an politischer Macht und deren Illusion
In der Betonung, dass er kein Kaiser oder Kanzler sei, liegt auch eine tieferliegende Kritik an der politischen Ordnung selbst: Vielleicht ist sie leer, vielleicht ist sie nicht beneidenswert. Goethe reflektiert hier eine Aufklärungskritik an den Institutionen absolutistischer Macht.
6. Ethischer Quietismus
Branders Haltung erinnert an eine Lebensphilosophie des Rückzugs: Kein Engagement, keine Repräsentation, keine Verantwortung – nur das Leben im Moment. Dies lässt sich als ethischer Quietismus deuten: Rückzug statt Beteiligung, Selbstschutz statt Weltverantwortung.
7. Psychologie der Selbstrechtfertigung
Der Satz enthält eine psychologische Dimension: Brander muss sich selbst davon überzeugen, dass sein Mangel an Bedeutung ein »Gewinn« sei. Diese Rhetorik deutet auf einen inneren Konflikt zwischen gesellschaftlichem Wunsch nach Bedeutung und faktischer Bedeutungslosigkeit.

2097 Doch muß auch uns ein Oberhaupt nicht fehlen;
Brander schlägt vor, dass auch der lose zusammengewürfelte Zechkumpanenkreis ein »Oberhaupt« braucht – imitiert also in ironischer Brechung Strukturen geistlicher oder politischer Macht. Die Formulierung »muß ... nicht fehlen« ist ein typisches Beispiel für gespielte Notwendigkeit – sie verleiht der Aussage einen Anschein von Ernst und Notwendigkeit, obwohl es sich um ein trunkenes Spiel handelt.
Inmitten der Ausschweifung wird das Bedürfnis nach Ordnung oder Hierarchie parodiert. Die Zecher treiben das Bedürfnis nach Struktur ins Lächerliche und unterstreichen gerade dadurch ihre Respektlosigkeit gegenüber echter Autorität. Der Wunsch nach einem »Oberhaupt« ist eine Karikatur kirchlicher oder politischer Ordnung.

2098 Wir wollen einen Papst erwählen.
Die Gruppe möchte einen »Papst« bestimmen – ein bewusst überhöhter, sakraler Titel. Die Wahl eines Papstes ist im katholischen Kontext ein hochheiliger Vorgang, Ergebnis geistlicher Erwägung, begleitet von liturgischem Ernst. In dieser Spelunkenrunde wird er zu einem betrunkenen Spiel degradiert.
Dies ist ein Paradebeispiel für Goethe’sche Ironie: die sakrale Sphäre wird trivialisiert. Der Spott richtet sich hier nicht nur auf die katholische Kirche, sondern auch auf jede Form überhöhter Institutionalisierung. Es ist eine theologisch-politische Parodie, in der die Blasphemie kaum verborgen bleibt. Gleichzeitig spiegeln sich darin auch anarchische Tendenzen: das Recht, eigene Autorität zu schaffen, wird zum lärmenden Spaß.

2099 Ihr wißt, welch eine Qualität
Mit »Qualität« ist hier augenzwinkernd die Eigenschaft gemeint, die im Sinne der Truppe die »Würdigkeit« zur päpstlichen Erhebung ausmacht. Die Wendung spielt auf rhetorisch-hochgestochene Redeweise an – als ob man sich hier tatsächlich auf bedeutungsvolle Kriterien besinnen würde.
Das Wort »Qualität« wird bewusst ironisiert – anstatt theologischer oder moralischer Exzellenz wird bald eine vulgäre Eigenschaft genannt werden. Der Schein eines ehrwürdigen Auswahlprozesses kippt gleich ins Derbe, was die Kluft zwischen sakralem Anspruch und profaner Realität betont.

2100 Den Ausschlag giebt, den Mann erhöht.
Die entscheidende Eigenschaft, die zur Erhebung führt, wird angekündigt – doch anstatt eine geistige oder moralische Qualität zu nennen, wird im Folgenden (nicht in den zitierten Versen, aber im Kontext) ein derber Trink- oder Fäkalwitz folgen. Das Verb »erhöht« ist doppeldeutig: es verweist auf sakrale Weihen, meint hier aber eine triviale Erhebung im Spiel der Zecher.
Der Ausdruck ist eine Parodie auf den sakralen Sprachduktus der Weihe. Der »Ausschlag« spielt auf das Kriterium an, das entscheidet – hier aber wird die Ironie bald körperlich: es geht um den, der am besten rülpsen, saufen oder derb sprechen kann. Damit wird der Begriff »Erhöhung« buchstäblich in sein Gegenteil verkehrt: nicht Vergeistigung, sondern Animalität.

Zusammenfassend 2097-2100
1. Profanierung des Sakralen:
Die Verszeile ist ein Beispiel für das goethesche Spiel mit der Entheiligung heiliger Rituale. Die Wahl des »Papstes« durch Trunkenbolde in einem Wirtshaus verkehrt ein zentrales Sakrament der Kirche ins Lächerliche.
2. Karnevaleske Umkehrung der Ordnung:
Im Geiste des Bakhtinschen »Karnevalismus« wird die Weltordnung auf den Kopf gestellt: Die Spelunkenwelt erklärt sich selbst zum Zentrum, zur Kirche, zum Staat. Die niederen Instinkte werden zur Norm erhoben – das Lachen dient hier als Subversion gegen Autorität.
3. Satirische Spiegelung der Autorität:
Goethe zeigt, wie leicht sich Machtstrukturen durch Nachahmung karikieren lassen. Die Autorität wird hier nicht durch Würde, sondern durch Lautstärke und Derbheit »erwählt«. Die Szene ist auch ein Spiegel auf echte Machtverhältnisse, deren Legitimation oft auf ebenso fragwürdigen »Qualitäten« beruhen kann.
4. Anthropologische Tiefensicht:
In der Trunkenheit zeigt sich der Mensch entkleidet aller gesellschaftlichen Masken – was bleibt, ist das Bedürfnis nach Ordnung (Papstwahl), aber auch der Drang zur Enthemmung. Goethe zeigt diese doppelte Natur des Menschen: Ordnungssehnsucht und Instinktbefreiung.
5. Spiel als Gegenwelt zur Wirklichkeit:
Die Szene illustriert das Prinzip der mimesis ludens – das Spiel, in dem Welt nachgeahmt, aber zugleich gebrochen wird. Die »Papstwahl« ist ein Spiel im Spiel, eine Groteske über die Allmacht des Menschlichen, sich selbst Rollen zu geben – auch lächerliche.
6. Vorbote mephistophelischer Verkehrung:
Obwohl Mephisto hier kaum aktiv eingreift, wirkt sein Geist im Subtext: Alles Heilige wird ins Profane gezogen, jede Struktur ad absurdum geführt. Die Szene ist ein frühes Beispiel für die Weltverachtung, die sich durch den weiteren Verlauf des Stücks zieht.

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