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Faust.
Der Tragödie erster Theil

Johann Wolfgang von Goethe

Studirzimmer II. (14)

Schüler, Mephistopheles, Faust.

Schüler.
2040 Ich schwör euch zu, mir ist’s als wie ein Traum.
Dieser Ausruf des Schülers offenbart seine Überwältigung durch das Gespräch. Die Formulierung »mir ist’s als wie ein Traum« zeugt von einem Gefühl der Entrückung, Verwirrung und Begeisterung – ein klassisches Zeichen rhetorischer Verführung. Der Schüler ist durch Mephistos gewandte Rede, seine Ironie und sein scheinbar profundes Wissen derart beeindruckt, dass seine Orientierung verschwimmt.
Philosophisch kann dies als Hinweis auf die mimetische Anfälligkeit des Menschen verstanden werden: Der junge Geist ist noch formbar, sucht nach Orientierung, und kann – wie hier – leicht durch Scheinwissen beeindruckt werden. Damit steht der Vers in der Tradition platonischer Erkenntniskritik: Der Schüler erkennt nicht, dass er einem Trugbild (Schatten in der Höhle) folgt.

2041 Dürft’ ich euch wohl ein andermal beschweren,
Die höfliche Bitte offenbart nicht nur die Demut des Schülers, sondern auch seine vollständige Unterwerfung unter die vermeintliche Autorität des »gelehrten Mannes«. Der Ausdruck »beschweren« klingt antiquiert höflich, impliziert aber auch eine gewisse Ehrfurcht vor dem Wissen und der Zeit des Lehrenden.
Inhaltlich liegt hier ein klassisches Beispiel für das Verhältnis von Schüler und Meister, das im Kontext von Goethes Zeit (und auch davor, etwa bei Aristoteles oder in der Scholastik) als heilig galt. Doch Goethe unterläuft dieses Verhältnis durch Ironie: Der Meister ist Mephisto – ein Verführer, nicht ein Lehrer.
Dies öffnet eine tiefere Dimension: die Kritik an der Autoritätsgläubigkeit. Der Schüler erkennt nicht, dass er gerade nicht »Erkenntnis« erfahren hat, sondern Rhetorik, Zersetzung und Ironie. Der Wille zur Wiederholung zeigt, wie leicht sich der Mensch an Illusionen bindet, solange sie mit sprachlicher Brillanz dargeboten werden.

2042 Von eurer Weisheit auf den Grund zu hören?
Dieser Vers ist doppelt bedeutungsvoll: Der Schüler glaubt, es handle sich um wahre, tiefgründige Weisheit, die Mephisto vermittelt. Er möchte »auf den Grund« hören – also nicht bloß oberflächliche Informationen, sondern das wahre Wesen der Dinge erfassen.
Doch hier liegt die dramatische Ironie: Mephistos »Weisheit« ist trügerisch, zynisch und destruktiv. Der Schüler sehnt sich nach Wahrheit und Tiefe – erhält aber in Wirklichkeit nur nihilistische Verhöhnung. Er möchte Philosophie, bekommt aber Sophistik.
Philosophisch verweist dies auf ein zentrales Problem: Was ist Weisheit? Und wer ist würdig, sie zu lehren? Der Schüler erkennt nicht, dass wahre Weisheit nicht in Worten allein liegt, sondern in existenzieller Erfahrung, in ethischer Reflexion und geistiger Reife. Seine Frage offenbart daher zugleich das Grundbedürfnis des Menschen nach Sinn – und seine existentielle Gefährdung durch falsche Lehrer.

Zusammenfassend 2040-2042
1. Platonische Erkenntniskritik
Der Schüler nimmt den Schein (Rhetorik) für das Sein (Wahrheit). Er lebt in der Höhle, erkennt die Schatten nicht als solche und will sogar zurückkehren.
2. Verführung durch Sprache
Die Macht der Rede wird hier dämonisch eingesetzt. Sprache dient nicht der Wahrheit, sondern der Suggestion. Eine Warnung vor sophistischer Überredung.
3. Autoritätsgläubigkeit und Selbstverleugnung
Der Schüler projiziert Weisheit in eine Figur hinein, die sie gar nicht besitzt. Damit zeigt Goethe, wie leicht der Mensch zur Selbsttäuschung bereit ist, wenn es um Sehnsucht nach Führung geht.
4. Ironie des Bildungsprozesses
Anstelle eines echten Bildungsweges erlebt der Schüler eine Perversion der Lehre. Damit kritisiert Goethe das damalige Universitätswesen – wo Formen wichtiger sind als Inhalte.
5. Anthropologische Bedürftigkeit
Die Bitte des Schülers entspringt einem tiefen Bedürfnis: Er will Sinn, Orientierung, Erkenntnis. Das ist zutiefst menschlich – und macht ihn zugleich verletzlich gegenüber Trug und List.
6. Existenzphilosophischer Subtext
Der Schüler ist auf der Schwelle zwischen Kindheit und Selbstverantwortung. In diesem Zustand der Offenheit entscheidet sich oft das »Wozu« des Lebenswegs – ein Moment existenzieller Bedeutung, das hier mit Gefahr behaftet ist.
Fazit
Diese kurze Szene, die leicht als bloß komisch überlesen werden kann, enthält somit eine ganze Philosophie der Bildung, der Verführung, der Orientierungslosigkeit des modernen Menschen – und eine düstere Vision der Teufel im Gewand der Gelehrten.

Mephistopheles.
2043 Was ich vermag, soll gern geschehn.
Mephisto antwortet dem Schüler mit einer scheinbar freundlichen, verbindlichen Geste: Er ist bereit, alles in seiner Macht Stehende zu tun. Doch wie immer bei Mephistopheles steckt hinter der Höflichkeit ein doppelter Boden. Die Formulierung »was ich vermag« klingt bescheiden, verschleiert aber, dass seine Macht gerade in der Verführung, in der Irreführung und im Verderben liegt. Er bietet seine Hilfe an, aber nicht im Dienste des Guten, sondern um den Schüler auf eine Bahn zu führen, auf der dessen Bildung zur Eitelkeit, sein Wissen zum Selbstbetrug wird. Diese Zeile kann auch als ironische Spiegelung göttlicher Allmacht verstanden werden, wobei Mephisto als »der Geist, der stets verneint« das Vermögen zu zerstören, zu verführen und zu verhöhnen besitzt.
Philosophisch liegt hier die Frage nach dem Wert und der Richtung menschlichen Wirkens: Was heißt es, etwas zu »vermögen«? Ist Fähigkeit moralisch neutral? Was geschieht, wenn die Kompetenz sich vom Ethos abkoppelt?

Schüler.
2044 Ich kann unmöglich wieder gehn,
Der Schüler ist innerlich überwältigt. In seiner unterwürfigen Haltung gegenüber dem scheinbar weisen, erfahrenen Mephistopheles zeigt sich nicht nur seine intellektuelle Naivität, sondern auch seine seelische Leere: Er ist empfänglich für äußere Autorität und blendende Rhetorik. Dieses Verharren hat fast religiöse Züge – als stünde er vor einem Heiligen, dem er sich anvertrauen muss.
Philosophisch berührt der Vers das Thema der menschlichen Abhängigkeit vom Autoritätsglauben: Der Schüler sieht sich unfähig, allein zu denken oder selbständig zu handeln. Er braucht jemanden, der ihm Richtung gibt – und er erkennt nicht, dass es ein Abweg ist.

2045 Ich muß euch noch mein Stammbuch überreichen,
Das Stammbuch (auch album amicorum) war im 18. und 19. Jahrhundert eine Art Freundschafts- oder Erinnerungsbuch, in das sich bedeutende Personen mit einem Sinnspruch oder einer Lebensweisheit eintrugen. Der Schüler bittet hier um eine Inschrift von Mephisto – also um eine bleibende Lebensregel, ein Orientierungszeichen. Ironischerweise verlangt er diese von dem personifizierten Verführer, dem Diabolischen selbst.
Hier liegt eine tiefe Ironie: Mephistopheles, der keine feste Weltordnung anerkennt, der Nihilist, soll eine Sinngebung liefern. Es wird damit die Suche nach Sinn in einer sinnzersetzenden Instanz sichtbar – ein tragikomischer Moment. Der Schüler strebt nach geistiger Orientierung, doch sucht er sie am falschen Ort.
Philosophisch kulminiert hier die Frage: Woher beziehen wir unsere Lebensmaximen? Wer bestimmt die Richtung unseres Denkens und Handelns – und auf welcher Grundlage?

2046 Gönn’ Eure Gunst mir dieses Zeichen!
Die Sprache des Schülers wird noch unterwürfiger, fast flehentlich. Er bittet nicht bloß um eine Eintragung, sondern um Gunst – eine Gnade. Der Ausdruck »dieses Zeichen« kann religiös konnotiert sein: Der Schüler möchte ein »Zeichen« der Erwählung, eine Art Weihe. Er verleiht dem dämonischen Gegenüber einen quasi-heiligen Status. Die Anbetung des Irrationalen oder Bösen als Weisheit ist ein zentrales Thema romantischer Skepsis gegenüber aufklärerischer Rationalität.
Philosophisch offenbart sich hier ein fundamentales Moment des Glaubens ohne Prüfung, der spirituellen Projektion, also der Tendenz, Heilsbedeutung dort zu suchen, wo eigentlich Täuschung lauert. Der Mensch gibt sich leicht einer Instanz hin, die ein starkes Charisma besitzt – auch wenn dieses trügerisch ist.

Mephistopheles.
2047 Sehr wohl.

Er schreibt und giebt’s.

Mephisto willigt ohne Zögern ein. Die Kürze seiner Antwort zeugt von ironischer Überlegenheit. Es ist keine herzliche Geste, sondern das Ausführen eines Spiels. Was er schreibt, wird der Schüler blind akzeptieren – darin liegt eine bösartige, fast grausame Genugtuung. Was genau Mephistopheles schreibt, wird im Anschluss enthüllt (2048ff): ein Spottvers, der den Schüler als sexuelles Spielzeug für Teufelinnen ausweist (»Eritis sicut Deus…« wird pervertiert).
Diese Zeile ist Ausdruck mephistophelischer Scheinfreundlichkeit und verborgener Aggression. Die Handlung des Schreibens wird zur Tat der Verführung, ja des geistigen Missbrauchs: Der Schüler glaubt, einen Schatz erhalten zu haben – in Wahrheit trägt er das Brandmal des Hohns.
Philosophisch geht es hier um Sprache als Waffe: Die Schrift – traditionell Medium des Wissens und der Wahrheit – wird hier zum Instrument der Lüge und des Spottes. Der Logos wird pervertiert.

Zusammenfassend 2043-2047
1. Autorität und Verführung:
Der Schüler erkennt keine echte geistige Autorität, sondern unterwirft sich blind einer rhetorisch überlegenen Figur – ein Sinnbild für das Scheitern von Bildung, wenn sie nicht kritisch ist.
2. Der Wille zur Sinngebung:
Die Bitte um einen Sinnspruch aus dem Stammbuch zeigt das menschliche Bedürfnis nach Orientierung. Doch dieses Bedürfnis kann zur Falle werden, wenn es sich an nihilistische, zersetzende Kräfte bindet.
3. Die pervertierte Rolle des Lehrers:
Mephisto tritt als falscher Mentor auf – eine Karikatur des akademischen Lehrers. Damit kritisiert Goethe auch die hohle Gelehrsamkeit und die Gefahr, dass Bildung zur Dressur wird, nicht zur Befreiung.
4. Das Verhältnis von Schein und Sein:
Mephistopheles gibt sich gütig und hilfreich – aber sein wahres Wesen ist destruktiv. Der Schüler sieht nur die Maske und nicht den Kern. Hier wird das platonische Problem der Täuschung im Abbild diskutiert.
5. Sprache als Träger des Dämonischen:
Die Inschrift, die folgen wird, stellt das Prinzip infrage, dass Schrift Wahrheit bewahrt. Sie zeigt vielmehr, dass Schrift auch manipulieren und verdrehen kann – eine fundamentale Herausforderung für jede Philosophie der Sprache.
6. Der Mensch als suchendes, aber fehlbares Wesen:
Der Schüler steht exemplarisch für den Menschen, der Bildung, Sinn und Wahrheit sucht, aber anfällig ist für Blendung, Verstellung und Pseudowahrheiten – ein existentiales Thema, das bis in die Philosophie Kierkegaards, Nietzsches und Heideggers reicht.

Schüler. lies't.
2048 Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum.
Dieser lateinische Satz stammt aus der Vulgata, der lateinischen Bibelübersetzung, konkret aus Genesis 3,5. Übersetzt bedeutet er: »Ihr werdet sein wie Gott, erkennend Gut und Böse.« Es sind die Worte der Schlange im Paradies, mit denen sie Eva zur Übertretung des göttlichen Gebots verführt. Dass der Schüler diesen Satz liest, zeigt, dass er mit heiliger Scheu – »ehrerbietig« – einen vermeintlich religiösen, tiefen Satz aus der Bibel zitiert, ohne dessen subversiven Gehalt oder die teuflische Herkunft zu verstehen.
Erkenntnisstreben als Sündenfall: Das Streben nach Erkenntnis – insbesondere moralischer Erkenntnis – wird hier nicht nur als Aufstieg, sondern auch als gefährlicher Akt der Selbstvergottung dargestellt.
Verführung durch Sprache: Die Sprache der Schlange wird als göttliches Versprechen maskiert, trägt aber zerstörerisches Potential in sich – eine frühe Reflexion über die Ambivalenz von Wissen und Hermeneutik der Täuschung.
Goethes Religionskritik: Der Schüler nimmt das Zitat ohne Kontext auf – dies lässt sich als Kritik an einem bloß rezeptiven, unkritischen Bibelverständnis interpretieren, das das eigentliche Gefahrenpotenzial der Worte nicht erkennt.

Macht’s ehrerbietig zu und empfiehlt sich.

Der Schüler schließt das Buch ehrfürchtig, als wäre ihm eine göttliche Wahrheit offenbart worden. Dass er sich »empfiehlt«, also respektvoll verabschiedet, deutet darauf hin, dass er glaubt, nun etwas Großes empfangen zu haben – ein Missverständnis, denn er hat soeben eine der perfidesten teuflischen Täuschungen als Offenbarung missdeutet.
Ironie der Ehrfurcht: Der Schüler ehrt den Text, den Mephistopheles ihm subtil untergeschoben hat – das stellt eine Kritik an autoritätsgläubigem Dogmatismus und unkritischer religiöser Rezeption dar.
Tragikomik der Bildung: Die Szene zeigt, wie leicht Bildungsbemühungen, wenn sie ohne kritisches Denken betrieben werden, zur Farce werden können – eine Satire auf das zeitgenössische Universitätssystem.

Mephistopheles.
2049 Folg’ nur dem alten Spruch und meiner Muhme der Schlange,
Mephistopheles entlarvt nun, was wirklich geschehen ist: Der »alte Spruch« ist eben der aus der Genesis, und seine »Muhme«, also Verwandte, ist die biblische Schlange – ein offenes Eingeständnis seiner eigenen dämonischen Herkunft. Der Teufel stilisiert sich hier als Fortsetzer der Ursünde, als ironischer Pädagoge, der den Menschen zur Gottesebenbildlichkeit durch Rebellion führen will.
Gnosis und Luziferische Erkenntnis: Der Vers zielt auf ein gnostisches Weltbild: Die Schlange bringt Wissen, das Gott dem Menschen vorenthalten will. Mephistopheles erscheint hier als Vertreter eines luziferischen Prinzips, das Wissen als Aufklärung gegen göttliche Ordnung setzt.
Ironische Selbstinszenierung: Die Verwandtschaft mit der Schlange macht Mephistopheles zum Agenten der ersten Rebellion – eine mythologische Selbstverortung innerhalb des biblischen Weltbilds.
Verkehrung des Moralischen: Was in der Bibel als Sünde erscheint, wird hier als Erkenntnisschritt affirmiert – eine Provokation gegen theologische Orthodoxie.

2050 Dir wird gewiß einmal bei deiner Gottähnlichkeit bange!
Diese Aussage enthält doppelte Ironie: Einerseits verheißt Mephistopheles dem Schüler eine Zukunft »in Gottähnlichkeit«, wie es die Schlange versprach. Andererseits prophezeit er zugleich die Angst, die mit dieser Erkenntnishöhe einhergehen wird. Die Erkenntnis von Gut und Böse macht nicht selig, sondern existenziell schuldig und ängstlich.
Existenzielle Überforderung durch Erkenntnis: Mephistopheles verweist auf die Tragik der Erkenntnis, die nicht nur aufklärt, sondern auch Verantwortung und Leiden mit sich bringt – ein existenzialistisches Motiv.
Ironie göttlicher Ähnlichkeit: Die Gottähnlichkeit, die der Mensch durch Erkenntnis erlangt, ist eine Bürde, keine Befreiung – ein Kommentar zur Hybris des Menschen im Zeitalter der Aufklärung.
Anspielung auf Faust selbst: Die Worte lassen sich auch als Vorausdeutung auf Faust lesen, dessen Streben nach Erkenntnis ihn immer wieder an die Grenze zur Verzweiflung bringt. Der Schüler wird zum Spiegel oder zur Karikatur Fausts.

Zusammenfassend 2048-2050
Diese kurze Passage ist von hoher Dichte und Ironie. Goethe verflicht hier Bibelzitat, teuflische Täuschung und satirische Hochschulkritik zu einer tiefen Reflexion über Erkenntnis, Verantwortung und das gefährliche Spiel mit der Wahrheit. In der Konfrontation von Mephistopheles mit dem unkritischen Schüler zeigt sich die Macht des Bösen nicht in roher Gewalt, sondern in subtiler Verführung über Sprache und Bildung. Die Gottähnlichkeit, die einst das höchste Ziel war, erscheint hier als Quelle der Angst – ein Grundmotiv der Moderne.

Faust tritt auf.

Faust.
2051 Wohin soll es nun gehn?
Dieser Vers markiert einen entscheidenden Übergang in der Dramaturgie des Faust I. Faust stellt eine Frage, die auf mehreren Ebenen gelesen werden kann. Zunächst erscheint sie pragmatisch: Nach der Szene mit dem Schüler, nun da Mephistopheles sich als dienstbarer Geist betätigt hat, fragt Faust, wohin sie sich als Nächstes begeben. Doch im Kontext der gesamten Faust-Tragödie trägt diese Frage existenzielle Schwere: Es ist die Frage nach dem Lebensweg, nach der Richtung des Ichs, nach dem Sinn und Ziel des menschlichen Daseins.
Die Frage ist knapp und offen formuliert. Sie verweist auf eine innere Leere oder zumindest Ratlosigkeit Fausts: Er weiß nicht, wohin sein Streben ihn führen soll, und überantwortet die Entscheidung Mephistopheles – ein Zeichen seiner beginnenden Selbstentäußerung. Faust überlässt sein Lebensnarrativ zunehmend einer äußeren Kraft.

Mephistopheles.
2051 Wohin es dir gefällt.
2052 Wir sehn die kleine, dann die große Welt.
Mephistopheles antwortet mit einer scheinbar großzügigen Wendung: »Wohin es dir gefällt.« Auf der Oberfläche wird hier dem freien Willen Raum gegeben – Faust darf wählen. Doch der Teufel formuliert doppeldeutig. Das »dir gefällt« ist trügerisch, denn Mephistopheles lenkt subtil, ohne offen zu steuern. Der Teufel ist ein Meister der Verführung durch scheinbare Freiheit.
Mit der anschließenden Ankündigung »Wir sehn die kleine, dann die große Welt« entwirft Mephistopheles einen Weg, der mit oberflächlicher, alltäglicher Erfahrung beginnt und sich später in größere Dimensionen ausweitet. Dies klingt zunächst verheißungsvoll – ein Weg von der engen Studierstube hinaus in die Weite der Welt, in Erfahrung und Sinnlichkeit. Aber zugleich kündigt sich darin ein diabolischer Bildungsweg an: nicht von Einsicht zur Weisheit, sondern von Reiz zur Verwirrung, von Verführung zur Entfremdung.
Die Abfolge »kleine« und »große Welt« verweist auch auf die dramaturgische Struktur des Stücks: die »kleine Welt« ist die bürgerliche, häusliche, repräsentiert vor allem durch Gretchen und ihr Umfeld; die »große Welt« umfasst höfische, politische, vielleicht auch metaphysische Sphären, wie sie im späteren Verlauf (und vor allem in Faust II) auftauchen. Mephistopheles skizziert also eine doppelte Bewegung: erst in die Tiefe des Persönlichen, dann in die Breite des Weltlichen.

Zusammenfassend 2051-2052
1. Die Frage nach dem Lebensweg:
Fausts »Wohin soll es nun gehn?« ist nicht nur örtlich zu verstehen, sondern existenziell. Sie artikuliert die zentrale Frage der menschlichen Freiheit: Wie bestimme ich meinen Weg im Leben? Wer lenkt, wer folgt?
2. Das Paradox der Freiheit:
Mephistopheles’ Antwort suggeriert Freiheit, unterläuft sie aber zugleich. Die Dialektik von Autonomie und Fremdsteuerung ist hier in nuce formuliert – Faust glaubt zu wählen, doch wird geführt.
3. Der Weg als Bildungsreise:
Das Motiv des Sehens (»Wir sehn...«) erinnert an den klassischen Topos der Weltreise oder des Bildungswegs. Doch bei Goethe ist dies kein geradliniger Fortschritt, sondern eine irreführende Spirale zwischen Erkenntnis und Verblendung.
4. Dualismus von Innen- und Außenwelt:
Die »kleine Welt« steht für Innerlichkeit, Privatheit, Mikrostrukturen; die »große Welt« für Macht, Politik, das Allumfassende. Fausts Weg führt durch beide, wobei sich zeigt, dass keine für sich genügt – beide werden schließlich zur Bühne des Scheiterns wie des Ringens um Sinn.
5. Goethes Anthropologie des Suchenden:
Faust als Prototyp des modernen Menschen stellt die immer wiederkehrende Frage nach dem Ziel des Lebens. Die Szene markiert den Moment, in dem er den Pfad der inneren Reflexion verlässt und sich den Erfahrungswelten hingibt – ein Wendepunkt vom kontemplativen zum aktiven Leben, das jedoch unter diabolischem Vorzeichen steht.
6. Ironisierung des Bildungsbegriffs:
Mephistopheles’ Formulierung erinnert an die verheißungsvolle Sprache der Aufklärung, die »große Welt« durch »Anschauung« zu begreifen. Doch bei Goethe ist diese Bewegung nicht emanzipatorisch, sondern auch destruktiv. Die Ironie: Durch das Sehen der Welt entfernt sich Faust von sich selbst.
7. Das Spiel mit den Perspektiven:
Die Welt, die Mephistopheles verspricht, ist nicht die Welt an sich, sondern die durch seine Brille gesehene – eine Welt der Täuschung, Verführung, Lüge. Erkenntnis wird zur Inszenierung, Erfahrung zur Illusion.

2053 Mit welcher Freude, welchem Nutzen,
Dieser Vers eröffnet eine spöttisch-ironische Vorfreude Mephistopheles' auf das bevorstehende Studium des Schülers, den er gerade mit rhetorischer Überredungskunst für sich gewonnen hat. Die Wortwahl »Freude« und »Nutzen« ist bewusst doppeldeutig:
»Freude« suggeriert eine emotionale, subjektive Erfüllung des Lernenden. Doch in Mephistopheles’ Mund ist das ironisch gemeint – er inszeniert das Studium nicht als tiefgreifende geistige Bildung, sondern als oberflächliches Vergnügen.
»Nutzen« verweist auf die instrumentelle Verwertbarkeit des Studiums. Im bürgerlich-pragmatischen Sinne klingt hier das Versprechen an, man könne etwas »mit dem Studium anfangen«. Mephisto spielt mit dieser Erwartung, indem er sie sarkastisch überzeichnet.
Schon in diesem ersten Vers wird klar, dass Mephistopheles die akademische Welt nicht ernst nimmt. Er stellt sie als Illusion dar, in der man sich mit schönen Versprechungen blenden lässt. Die Phrase wird als rhetorische Frage vorbereitet, die im zweiten Vers abgeschlossen wird.

2054 Wirst du den Cursum durchschmarutzen!
Hier folgt die sarkastische Pointe. Das Wort »Cursum« (lat. »der Lauf«, gemeint ist der Studienverlauf oder das Curriculum) verweist auf den formalen Rahmen einer universitären Ausbildung. Goethe greift das lateinische Bildungsvokabular auf, um dessen Entleerung zu markieren – ein wiederkehrendes Stilmittel Mephistos in dieser Szene.
Das Verb »durchschmarutzen« ist der eigentliche Schlüsselbegriff:
Es stammt vom mittelhochdeutschen smorzen (»verschwenden«) und ist ein stark abwertender Ausdruck für das gedankenlose Durchleben oder Durchzechen einer Zeitspanne.
In Verbindung mit dem universitären »Cursum« bedeutet es, dass der Schüler die kommenden Jahre nicht ernsthaft studieren, sondern vielmehr leichtlebig, träge und unreflektiert »vergeuden« wird.
Die Spottlust Mephistopheles' tritt offen zutage – er unterläuft den Bildungsanspruch der Institution und stellt den Schüler von vornherein als Opfer und Mitspieler eines systemischen Selbstbetrugs dar.
In diesem einen Vers wird die gesamte akademische Laufbahn als Farce entlarvt. Der Schüler glaubt an die verheißene Weisheit, Mephistopheles aber weiß: es wird ein leerer »Cursum«, ein Durchschmarutzen von Jahren, ohne innere Wandlung.

Zusammenfassend 2053-2054
1. Kritik am Bildungssystem als ideologischer Apparat
Die Ironie Mephistopheles’ legt offen, wie Bildung zur leeren Form gerinnt. Der »Cursum« ist ein äußerlicher Ablauf, der keine echte geistige Entwicklung garantiert. Goethe antizipiert hier eine fundamentale Bildungs- und Institutionskritik, wie sie später etwa in der Dialektik der Aufklärung (Adorno/Horkheimer) formuliert wird.
2. Subversion des Humanismus
Während der Humanismus das Studium als Weg zur ethischen und geistigen Vervollkommnung verstand, zeigt Mephisto, wie dieser Idealismus in seiner gesellschaftlichen Realität zur bloßen Karikatur verkommt. »Freude« und »Nutzen« sind nicht Ausdruck innerer Reifung, sondern hedonistischer oder utilitaristischer Zweckrationalität.
3. Der Mensch als Objekt der Verführung durch Sprache
Mephistopheles verführt durch Rhetorik. Der Schüler wird nicht durch Argumente gewonnen, sondern durch sprachlich manipulierte Suggestionen. Die »Freude« und der »Nutzen« sind leer – aber gerade deshalb wirksam. Das verweist auf die Macht der Sprache als Werkzeug der Täuschung.
4. Ironie als erkenntnistheoretisches Mittel
Mephistos Spott enthält eine metareflexive Komponente: Wer die Ironie durchschaut, erkennt auch die Illusionen, in denen sich Menschen – etwa Studierende – bewegen. Goethe verwendet Mephistos Ironie als Mittel zur Erkenntnisschärfung.
5. Lebenszeit als Kapital
Das »Durchschmarutzen« verweist auf eine ökonomische Metapher der Lebenszeit: Sie kann sinnvoll investiert oder verschwendet werden. Der Schüler, ohne es zu wissen, wird seine geistige Währung nicht in Weisheit umsetzen, sondern vergeuden – ein Thema, das Fausts eigene Lebensproblematik spiegelt.
6. Menschliche Leichtgläubigkeit und Selbsttäuschung
Der Schüler steht stellvertretend für die vielen, die sich einreden, etwas Sinnvolles zu tun, während sie in Wahrheit fremdbestimmt, bequem und unreflektiert handeln. Mephistopheles kennt die menschliche Psyche: sie will belogen werden, solange das Lügen angenehm klingt.

Faust.
2055 Allein bei meinem langen Bart
Dieser Vers beginnt mit dem Wort »Allein«, was hier im Sinne von »jedoch« oder »aber« gebraucht wird – ein klassischer Stilzug Goethes, um einen inneren Widerspruch oder eine Umkehrung anzudeuten. Faust steht hier also im Begriff, etwas zu relativieren, was zuvor vielleicht als selbstverständlich erschien.
Die Wendung »bei meinem langen Bart« ist eine altertümliche Beteuerungsformel, gleichbedeutend mit einem milden Schwur: eine ironisch-pathetische Beschwörung der eigenen Würde oder Lebenserfahrung. Der »lange Bart« steht sinnbildlich für Alter, Gelehrsamkeit und Männlichkeit, aber auch für ein gewisses altertümliches, verstaubtes Gelehrtenideal. In diesem Sinne enthält die Wendung eine Selbstironie: Faust ruft mit dieser Beschwörung gerade das ins Bewusstsein, was ihn von einer jugendlichen Leichtigkeit unterscheidet.
Es schwingt zugleich ein Anflug von komischer Selbstentlarvung mit – in dieser Szene tritt Faust direkt nach Mephistopheles auf, der gerade noch in spöttisch-verschmitzter Weise den »Schüler« verführt hat. Der Kontrast zwischen Mephistos lebendiger Ironie und Fausts angestrengtem Ernst wird hier augenfällig.

2056 Fehlt mir die leichte Lebensart.
Hier kommt die Reflexion zur Pointe: Faust gesteht, dass ihm »die leichte Lebensart« fehlt. Was ist mit dieser »leichten Lebensart« gemeint? Zum einen kann sie wörtlich als Lebensfreude, Unbekümmertheit, Weltgewandtheit verstanden werden – all das, was einem gealterten Gelehrten wie Faust fremd geworden ist. Zum anderen hat der Begriff eine tiefere kulturkritische und existentielle Bedeutung: Die Fähigkeit, das Leben leicht zu nehmen, mit ihm zu spielen, es zu genießen, ist Faust offenbar abhandengekommen.
Seine Existenz ist geprägt von Grübelei, Ernst und existenzieller Schwere – was ihn eben nicht nur vom Schüler, sondern auch von Mephistopheles unterscheidet, der geradezu die Verkörperung dieser »leichten Lebensart« ist: schlagfertig, souverän, lebenslustig, zynisch.
Der Vers trägt Spuren von Selbsterkenntnis und Resignation: Faust ist sich der eigenen Lebensuntüchtigkeit bewusst – trotz seines Wissens, trotz seiner Erfahrung, trotz seines »langen Barts«. Doch anstatt Stärke zu demonstrieren, gibt er eine Schwäche zu: ein Verlust an Lebenskraft, eine Unfähigkeit zur Lebensfreude.

Zusammenfassend 2055-2056
1. Existenzielle Selbstentfremdung:
Faust erkennt in dieser kurzen Äußerung, dass seine Gelehrsamkeit (symbolisiert durch den langen Bart) ihn nicht zu einem erfüllten Leben befähigt hat. Die Lebenskunst, die Fähigkeit zur Leichtigkeit, ist ihm verloren gegangen – eine Form der Selbstentfremdung, wie sie auch bei Kierkegaard oder Heidegger thematisiert wird.
2. Kontrast von Wissen und Leben:
Der Gegensatz zwischen gelehrtem Ernst und »leichter Lebensart« verweist auf das zentrale Motiv der Goetheschen Faust-Dichtung: Die Trennung von theoretischem Wissen und gelebtem Dasein. Faust erkennt, dass das Leben selbst nicht durch Bücherwissen oder akademische Autorität zu erfassen ist.
3. Ironie des Alters und der Würde:
Der lange Bart, einst ein Symbol der Würde, wird hier zum Zeichen der Abständigkeit vom echten Leben. In einer ironischen Umkehr wird die Autorität des Alters zur Last – eine Kritik am Gelehrtentum und an der bloßen Lebensverweigerung durch übermäßige Reflexion.
4. Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit:
Faust sehnt sich nach einem idealen, erfüllten, »göttlichen« Leben, doch hier wird er mit seiner Realität konfrontiert: Er ist ein Mensch, dem gerade die lebendige Leichtigkeit – also eine wesentliche menschliche Dimension – fehlt. Dies verweist auf den tragischen Dualismus zwischen dem Streben nach Höherem und der Realität menschlicher Begrenztheit.
5. Anthropologische Grundfrage nach dem guten Leben:
Implizit stellt der Vers die Frage: Was macht ein gutes Leben aus? Ist es Wissen? Würde? Oder nicht vielmehr die Fähigkeit zur Leichtigkeit, zum Genießen, zur Unmittelbarkeit? Diese Frage zieht sich als subkutane Grundspannung durch das gesamte Drama.
6. Der dämonische Spiegel Mephistos:
In dieser Szene fungiert Mephistopheles als ironischer Spiegel Fausts. Während Mephisto sich elegant und mit Leichtigkeit durch das Leben bewegt (zumindest oberflächlich), erkennt Faust seine eigene Schwere. Die »leichte Lebensart« wird so zu einem Symbol für das, was Faust begehrt, aber (noch) nicht besitzt – und was Mephisto ihm in dämonischer Verzerrung verspricht.

2057 Es wird mir der Versuch nicht glücken;
Faust spricht hier eine düstere Prognose über sein eigenes Vorhaben aus. Der »Versuch« bezieht sich auf seine bisher unausgesprochenen, aber tief empfundenen Wünsche, aus dem engen akademischen Weltbild auszubrechen und das Leben selbst zu erfahren. Doch er antizipiert sein Scheitern. Die Zukunft – »es wird mir nicht glücken« – wird von der Vergangenheit überschattet. Der Satz ist nicht kämpferisch, sondern defätistisch: Faust erkennt sich selbst als unfähig, seinen Willen zur Wirklichkeit zu machen.
Der Begriff »Versuch« trägt doppelte Bedeutung: zum einen als Anstrengung oder Projekt, zum anderen aber auch als Anspielung auf die versuchende, also verführerische, dämonische Dimension, in die sich Faust durch Mephisto bereits verstrickt. Der Vers könnte damit prophetisch sein: Es ist nicht nur der Weltversuch, sondern auch der dämonische »Versuch«, der droht zu misslingen.

2058 Ich wußte nie mich in die Welt zu schicken,
Hier reflektiert Faust über eine tief verwurzelte Lebensunfähigkeit. Das reflexive »mich in die Welt zu schicken« bedeutet, sich angemessen in gesellschaftliche, praktische, konkrete Zusammenhänge einzufügen – sei es im Beruf, im sozialen Leben, in der Liebe. Er stellt fest: Das konnte er nie. Das »nie« weist darauf hin, dass dieses Defizit konstitutiv für seine Existenz ist – nicht eine momentane Krise, sondern ein lebenslanger Zustand.
Das Verb »sich schicken« verweist auch auf Anpassung, auf das Einfügen in bestehende Ordnungen. Faust, der Sucher nach Totalität und Wahrheit, erkennt, dass sein Geist nicht kompatibel ist mit den Anforderungen der äußeren Welt. Er kann sich nicht »schicken« – er ist ungeschickt im wörtlichen wie übertragenen Sinne. Darin liegt eine tiefe Tragik: der Wissensdrang, der zur Welt hinausdrängt, ist bei ihm nicht begleitet von Lebensklugheit oder sozialer Kompetenz.

Zusammenfassend 2057-2058
1. Anthropologische Selbstentfremdung:
Faust beschreibt den Zustand eines Menschen, der mit sich selbst nicht übereinstimmt. Er erkennt die Unfähigkeit, als handelndes Subjekt in der Welt zu existieren. Damit formuliert er ein frühes modernes Gefühl existenzieller Entfremdung – lange vor Marx, Kierkegaard oder Heidegger.
2. Tragik des Gelehrtenideals:
Die klassische Bildung hat Faust nicht befähigt, sondern behindert. Er verkörpert den Typus des in sich zurückgezogenen, hochgebildeten, aber weltfremden Menschen. Die Bildung hat ihn nicht zur Welt, sondern von der Welt weggeführt. Dies ist eine fundamentale Kritik an einem einseitig rationalistischen Bildungsideal.
3. Existenzialistische Perspektive:
Fausts Worte können im Sinne existentialistischer Philosophie gelesen werden: Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt, aber diese Freiheit ist erschütternd und wird oft verfehlt. Faust scheitert daran, eine authentische Existenzweise zu finden – ähnlich wie die Figuren bei Sartre oder Camus.
4. Vorwegnahme des Nihilismus:
Der resignative Ton zeigt, dass Faust nicht nur an der Welt, sondern auch an sich selbst zweifelt. Dieses Selbstzweifel-Motiv bildet eine Grundlage für den späteren nihilistischen Zug des Werkes: die Frage nach dem Sinn, wenn weder Wissen noch Weltbezug gelingen.
5. Widerstreit von Erkenntnis und Leben:
Fausts Gelehrtenexistenz hat ihn zur Erkenntnis geführt, dass reine Erkenntnis nicht genügt. Aber das Leben, das er ersehnt, bleibt ihm verschlossen. Diese Spannung ist ein zentrales Motiv der gesamten Faust-Tragödie und spiegelt den Dualismus von Denken und Handeln.
6. Kritik der Subjektivität:
Fausts Äußerung ist retrospektiv und subjektiv gefärbt – sie zeigt, dass seine Selbstwahrnehmung von Scheitern geprägt ist. Damit thematisiert Goethe die Unzuverlässigkeit des Selbstbildes: Ist Faust wirklich unfähig zur Welt, oder nimmt er sich nur so wahr?
Fazit
Diese beiden Verse markieren einen zentralen Punkt in der inneren Verfassung Fausts, unmittelbar nach dem Dialog zwischen Mephistopheles und dem Schüler. Faust, der gerade wieder auf die Bühne tritt, kommentiert mit bitterer Selbstreflexion seine eigene Unfähigkeit zur praktischen Lebensbewältigung. Die Szene entfaltet sich in einem Moment der Resignation und des realistischen Rückblicks.
Wenn du möchtest, kann ich im Anschluss analysieren, wie Mephistopheles auf diese Selbstanklage Fausts reagiert – und wie er sie manipulativ für seinen Zweck aufgreift.

2059 Vor andern fühl’ ich mich so klein;
Dieser Vers bringt Fausts tief empfundene soziale Unsicherheit zum Ausdruck. Das Wort »klein« ist hier doppelt codiert: Zum einen verweist es auf ein Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit, des Zurückstehens oder der Scham gegenüber anderen Menschen. Zum anderen steht es im Kontrast zu seinem intellektuellen Selbstbild – dort ist er »groß«, ein Wissender, ein Forscher, vielleicht ein Übermensch –, hier aber offenbart sich ein emotional verletzlicher Mensch, der sich im Kontakt mit anderen (v. a. der reinen, natürlichen Margarete) selbst entwertet fühlt.
Diese »Kleinheit« hat keine objektive Grundlage in sozialem Status oder Bildung, sondern entstammt einer inneren Diskrepanz zwischen Wissen und Leben, zwischen Theorie und emotionaler Praxis. Goethe lässt Faust damit nicht nur als intellektuellen Titanen, sondern als zutiefst menschlich Verletzlichen erscheinen.

2060 Ich werde stets verlegen seyn.
Hier vertieft Faust sein Eingeständnis: Es handelt sich nicht um einen flüchtigen Moment der Unsicherheit, sondern um eine grundsätzliche soziale Verlegenheit, ein dauerhaftes Unvermögen, sich natürlich und ungezwungen zu geben. Das Adverb »stets« deutet darauf hin, dass diese Verlegenheit chronisch, vielleicht sogar konstitutionell ist – ein Strukturproblem seines Daseins, das in der Tiefe seines Wesens wurzelt.
Verlegenheit ist in diesem Kontext mehr als bloße Schüchternheit: Sie offenbart die Unfähigkeit, sich selbst als liebenswerten Menschen zu erfahren – eine seelische Enge, die der intellektuelle Hochmut nicht aufzulösen vermag. Sie steht im Kontrast zu Mephistos Suggestion des souveränen, weltgewandten Auftretens. Faust erkennt seine Unfähigkeit, sich »echt« zu begegnen – gerade dort, wo er emotionale Nähe sucht.

Zusammenfassend 2059-2060
1. Anthropologischer Dualismus (Geist vs. Leib/Herz):
Fausts Aussage spiegelt den inneren Riss zwischen seinem intellektuellen Selbstverständnis und seiner emotionalen Wirklichkeit. Der »Geist-Mensch«, der sich nach Erkenntnis sehnt, muss erkennen, dass ihm der Zugang zum menschlichen Du (dem Anderen) fehlt. Diese Spannung erinnert an die anthropologische Spaltung des neuzeitlichen Menschen.
2. Entfremdung und Selbstverfehlung:
Faust fühlt sich »klein« und »verlegen«, weil er keinen Ort in der Welt des Zwischenmenschlichen findet. Diese Selbstaussage steht paradigmatisch für eine moderne Form der Entfremdung: Der Mensch, der sich selbst verfehlt, weil er nicht mehr im Einklang mit seiner emotionalen Bedürftigkeit lebt.
3. Romantischer Subjektivismus:
Der innere Rückzug in das Gefühl, das Scheitern an der Welt – all das sind Merkmale romantischer Innerlichkeit. Goethe lässt hier eine Stimme anklingen, die den gesellschaftlichen Rollenzwang nicht erfüllen kann und sich daher in die Verlegenheit und das »klein fühlen« flüchtet. Der Gegensatz zwischen Ideal und Realität wird spürbar.
4. Existenzphilosophischer Vorgriff:
In der Konfrontation mit der eigenen Schwäche wird Fausts Rede fast existentialistisch: Er erfährt sich in seiner bloßen, »nackten« Existenz – unverstellt, hilflos, ohne Maskerade. Das Eingeständnis »Ich werde stets verlegen seyn« ist kein psychologischer Befund, sondern ein existentiales Bekenntnis zur Unmöglichkeit wahrer Selbstverwirklichung im Angesicht des Anderen.
5. Der Andere als Spiegel des Selbst:
Die Verlegenheit entspringt aus der Präsenz des Anderen – Faust kann sich nur im Spiegel der Begegnung mit Margarete als »klein« erfahren. Damit ist das Gegenüber nicht nur Objekt der Liebe, sondern auch Auslöser einer tiefen Selbstreflexion: Der Mensch erkennt sich erst durch den Anderen – und oft im Modus der Scham.
6. Negative Theologie der Innerlichkeit:
Faust, der den Gott im Kosmos sucht, begegnet hier einem theologischen Abgrund in sich selbst: Die Unfähigkeit zur echten Beziehung kann als Symbol für die spirituelle Leere gedeutet werden. In seiner »Verlegenheit« wird Faust unfähig, sich selbst und anderen zu offenbaren – ein Gegenzug zur göttlichen »Selbstoffenbarung« (Theophanie).
Fazit
Diese beiden Verse offenbaren einen seltenen Moment der Selbstentblößung und Innerlichkeit in Fausts Charakter. Sie stehen im Kontrast zur sonst oft stolz auftretenden, wissenshungrigen und auch arroganten Figur. Hier spricht nicht der hochgelehrte Doktor, der nach dem »was die Welt im Innersten zusammenhält« sucht, sondern ein zutiefst verunsicherter Mensch im sozialen Kontakt – vermutlich in Reaktion auf Margaretes Eindruck oder die Begegnung mit ihr.

Mephistopheles.
2061 Mein guter Freund, das wird sich alles geben;
Dieser Vers ist ein beruhigendes, fast väterliches oder freundschaftlich-gewitztes Wort Mephistopheles’ an den Schüler. Der Schüler hat soeben, ehrfürchtig und unterwürfig, die Worte aus Genesis zitiert: »Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum« (»Ihr werdet sein wie Gott, erkennend Gut und Böse«). Die Reaktion des Teufels darauf war ironisch und sarkastisch (»Dir wird gewiß einmal bei deiner Gottähnlichkeit bange!«). Nun aber wird der Ton versöhnlicher. Die Redewendung »das wird sich alles geben« deutet auf eine temporäre Unsicherheit oder Überforderung hin, die sich mit der Zeit legen werde. Mephistopheles spricht hier wie ein erfahrener Weltmensch, der dem jungen, suchenden Schüler versichert: All die Zweifel, das Streben, das Sich-Fremdfühlen – das werde sich im Laufe des Lebens »von selbst« lösen.
Er spielt damit auch auf die Lebenserfahrung an, die der Schüler noch nicht hat. Doch dahinter steckt eine subtil verführerische Logik: Der Teufel bietet keine metaphysische Erkenntnis, kein Prinzip, keine Wahrheit – sondern einfach den Weg des Erfahrens, des »Sich-Ergebens«, des »Laufenslassens«. Damit bereitet Mephisto jenen existenziellen Relativismus vor, der im gesamten Drama eine tragende Rolle spielt: Es gibt keine absolute Wahrheit – man muss nur den Mut haben, sich selbst zu überlassen.

2062 Sobald du dir vertraust, sobald weißt du zu leben.
Dieser Vers ist einer der markantesten Lebenslehrsätze Mephistopheles’ und steht im Zentrum seiner »pädagogischen« Philosophie. Die Konstruktion »Sobald du dir vertraust, \[…] weißt du zu leben« ist bedingt: Die Fähigkeit zu leben ist gekoppelt an die Fähigkeit zur Selbstvertrauens. Das klingt zunächst nach einer aufklärerischen oder sogar humanistischen Maxime: Selbsterkenntnis, Selbstvertrauen, Selbstverwirklichung.
Doch gerade durch Mephistopheles als Sprecher erhält dieser scheinbar emanzipatorische Gedanke eine doppelte Bedeutung. In seiner Mimikry als Lehrer oder Mentor verführt Mephisto den Schüler dazu, das Vertrauen nicht in Gott, nicht in Wahrheit oder Autorität zu setzen – sondern ausschließlich in das eigene Ich, das eigene Begehren. Damit wird das Subjekt zum Maßstab allen Lebens. Die Folge ist ein radikaler Subjektivismus, in dem das Leben sich nicht mehr an objektiven Maßstäben (Moral, Religion, Tradition) orientiert, sondern allein an dem, was das Ich sich zutraut.
Dies ist auch eine subtile Wiederholung des Sündenfalls: Denn wie Eva vom Baum der Erkenntnis aß, weil sie ihrer eigenen Wahrnehmung traute (dass die Frucht »gut zur Speise« sei), so wird auch hier das Vertrauen in das eigene Urteil zum Ursprung eines »neuen Lebens«. Mephistopheles macht sich zum Prophet einer existenziellen Autonomie – allerdings mit doppeltem Boden.

Zusammenfassend 2061-2062
1. Subjektivität als Lebensgrundlage
Mephistopheles propagiert die Idee, dass das Leben erst dann gelingt, wenn man auf sich selbst vertraut. Dies steht in Spannung zur religiös-christlichen Idee, wonach der Mensch gerade nicht sich selbst, sondern Gott vertrauen soll. Damit kündigt sich eine Moderne an, in der das autonome Subjekt ins Zentrum rückt.
2. Anthropologischer Relativismus
Die Aussage lässt sich als Absage an absolute Wahrheiten deuten: Wahrheit ist nicht objektiv, sondern entsteht im Vollzug des Lebens, im Selbstvertrauen. Damit wird eine relativistische Ethik implizit vertreten – es gibt kein »richtig« oder »falsch« a priori, sondern nur das, was das Subjekt sich zutraut und dadurch »lebt«.
3. Verführung durch affirmatives Sprechen
Die dämonische Verführung erfolgt nicht durch Drohung oder Gewalt, sondern durch scheinbar wohlmeinende Worte. Die Suggestion, man solle sich selbst vertrauen, klingt aufklärerisch – doch aus Mephistos Mund wird sie zur Einleitung eines Lebens im Irrtum. Es ist die rhetorische Strategie der Verharmlosung des Bösen.
4. Kritik an akademischer Bildung ohne Lebenserfahrung
Indem Mephistopheles dem Schüler sagt, er werde erst »zu leben wissen«, wenn er sich selbst vertraue, kritisiert er implizit die bloß theoretische Bildung der Universität. Wahres Leben beginne nicht mit Gelehrsamkeit, sondern mit existenzieller Selbstbehauptung. Dies greift Goethes (und Fausts) Bildungskritik auf.
5. Satanische Umkehr christlicher Botschaften
Der Satz »Sobald du dir vertraust…« wirkt wie eine säkularisierte Version von Sprüchen wie »Wer glaubt, wird selig«. Mephistopheles ersetzt das Vertrauen in Gott durch Vertrauen in das Ich – eine perfide Umkehrung, die den religiösen Impuls auf die Autonomie umlenkt.
6. Existenzieller Ratschlag mit destruktivem Potenzial
Die Betonung auf Selbstvertrauen klingt wie ein psychologischer Ratgeber. Doch in Mephistos Welt bedeutet dies nicht Selbstverwirklichung im Sinne eines harmonischen Lebens – sondern den Beginn eines egozentrierten Weges, der in Maßlosigkeit und Entfremdung führen kann (wie Fausts Biografie zeigt).

Faust.
2063 Wie kommen wir denn aus dem Haus?
Fausts Frage ist von praktischer, fast banaler Natur – nach dem überwältigenden Gespräch mit Mephistopheles folgt nun ein scheinbar profaner Schritt: die physische Bewegung aus dem Haus. Doch diese Frage offenbart mehr. Sie markiert den Übergang vom inneren Entschluss zur äußeren Handlung, von der theoretischen Neugier zur praktischen Ausführung. Faust hat den Pakt geschlossen – nun muss er diesen Weg auch wirklich beschreiten. Diese Zeile zeigt seine Bereitwilligkeit, sich auf das Abenteuer mit Mephistopheles einzulassen, aber auch seine noch vorhandene Verwurzelung in der realen Welt: Er denkt in Kategorien wie Fortbewegung, Raum, Zeit, Mechanik.

2064 Wo hast du Pferde, Knecht und Wagen?
Faust fragt mit der Denkweise eines Gelehrten aus dem späten Mittelalter oder der frühen Neuzeit. Sein Horizont ist noch nicht übernatürlich – er erwartet weltliche Mittel der Reise. Pferd, Knecht und Wagen symbolisieren die herkömmlichen, auf die Erde bezogenen Transportmittel. Diese Vorstellung steht in Spannung zu dem, was Mephistopheles wirklich zu bieten hat. Die Frage markiert Fausts letzten »bürgerlichen« Moment vor dem Sprung ins Übernatürliche. Er hat noch nicht begriffen, dass die Reise, die er antritt, nicht nur eine geografische ist, sondern eine metaphysische.

Mephistopheles.
2065 Wir breiten nur den Mantel aus,
Diese Zeile ist voller symbolischer Kraft. Der Mantel ist ein traditionelles Symbol in der Literatur – für Schutz, aber auch für Verwandlung oder Täuschung (man denke an den Tarnmantel oder Zaubermantel in Märchen und Mythen). Der Ausdruck erinnert an magische Praktiken und verweist auf Mephistopheles’ dämonische Fähigkeiten. Das »nur« ist ironisch: Was für Faust eine ungeheure, unvorstellbare Handlung ist, ist für Mephistopheles eine Nebensache. Der Mantel fungiert hier als Vehikel zwischen den Welten – zwischen Diesseits und Jenseits, Wissen und Erfahrung, Geist und Materie.

2066 Der soll uns durch die Lüfte tragen.
Mit dieser Zeile überführt Mephistopheles das Geschehen endgültig ins Fantastische. Es ist die Umkehrung aller natürlichen Ordnung. Der Mensch, der normalerweise auf dem Boden wandelt, soll sich nun durch die Lüfte bewegen – mithilfe eines dämonischen Mittels. Das Motiv des Flugs verweist auf Freiheit, aber auch auf Hybris – wie Ikarus, der zu hoch stieg. In Goethes Kontext wird der Flug zugleich als emanzipatorische wie als gefährliche Bewegung lesbar: Faust löst sich vom Irdischen, aber nicht in Richtung des Göttlichen, sondern ins Reich der Versuchung. Die Lüfte symbolisieren hier die Zwischenwelt, das Unbestimmte, das Entgrenzte – eine Sphäre, in der keine festen Regeln mehr gelten. Der Mantelflug ist somit eine Art Transitus in die Sphäre des Dämons.

Zusammenfassend 2063-2066
1. Grenzüberschreitung (Transgression):
Die Szene markiert Fausts Übergang aus der vertrauten, rationalen Welt des Gelehrten in eine neue, magisch-dämonische Realität. Die Frage nach »Pferden und Wagen« steht für das noch vorhandene Bedürfnis nach Ordnung, während Mephistos Mantelflug die Aufhebung der Naturgesetze symbolisiert – eine transgressive Bewegung über die Grenzen des Erlaubten und Erkennbaren hinaus.
2. Ironie des Fortschritts:
Faust glaubt, er betrete nun eine neue Welt des Wissens und der Erfahrung – doch das Mittel, das ihn dorthin bringt, ist nicht Technologie oder Vernunft, sondern dämonische Magie. Goethe hinterfragt damit subtil die Hybris eines rein instrumentellen Fortschrittsglaubens.
3. Das Motiv des Flugs:
Philosophisch verweist der Flug auf die platonische Idee der Seele, die sich aus der Körperwelt erhebt, aber hier pervertiert Mephistopheles das Motiv: Es ist kein Aufstieg zur Idee des Guten, sondern eine Bewegung in Richtung Verführung und Sinnlichkeit. Der Flug wird zur Metapher der Abwendung vom Logos hin zum Abgrund der Erfahrung.
4. Magie versus Rationalität:
Faust, der Inbegriff des rational Suchenden, wird mit einem magischen Vehikel fortgetragen – ein Kontrast, der an die Grenzen der Aufklärung erinnert. Der Mantelflug ist damit eine Kritik an der Vermessenheit, alle Fragen mit Vernunft beantworten zu wollen, und ein Hinweis auf das Bleibende des Irrationalen.
5. Verwandlung der Wahrnehmung:
Der Aufbruch mit Mephistopheles ist nicht nur ein physischer, sondern ein erkenntnistheoretischer Umbruch. Faust verlässt nicht nur den Raum – er lässt auch seine bisherige Weltanschauung hinter sich. Der Mantel ist ein Transformationssymbol: Nach diesem Moment wird Faust die Welt mit anderen Augen sehen (und erleben).
6. Dämonische Leichtigkeit:
Das »nur« in »Wir breiten nur den Mantel aus« zeigt die Leichtigkeit, mit der Mephistopheles Naturgesetze bricht – eine ironische Umkehrung aller menschlichen Mühen. Die Philosophie der Aufklärung, die den Fortschritt in mühseliger Arbeit sah, wird durch einen dämonischen Handstreich verspottet.

2067 Du nimmst bey diesem kühnen Schritt
Dieser Vers markiert einen Übergang: Faust steht an der Schwelle zu einem neuen, entscheidenden Lebensweg. Mephistopheles spricht ihn mit einer Mischung aus Ironie und Verlockung an, fast wie ein Reiseberater vor einem »großen Abenteuer«. Der »kühne Schritt« meint hier sowohl den symbolischen Pakt mit dem Teufel als auch den realen Aufbruch aus der Gelehrtenstube hinaus in die Welt sinnlicher Erfahrung. Das Adjektiv »kühn« unterstreicht die Gefahr und Unverfrorenheit dieses Entschlusses – es ist ein Bruch mit Konvention, Ethik und dem bisherigen Selbst.
Gleichzeitig impliziert der Ausdruck eine gewisse Faszination: Kühnheit wird traditionell mit Heldentum, Größe und Selbstbestimmung assoziiert. Mephistopheles rahmt Fausts Entscheidung also nicht als tragischen Fehler, sondern als selbstbewussten Akt. Doch das Lob ist trügerisch: Der »Schritt« führt in die Irre, in die Verstrickung, in die Tragödie.

2068 Nur keinen großen Bündel mit.
Dieser Vers klingt zunächst harmlos – fast wie ein Reisehinweis. Doch auch hier wirkt die Mehrschichtigkeit von Goethes Sprache: Das »große Bündel« steht sinnbildlich für Besitz, Gepäck, aber auch für Ballast – intellektuell, moralisch, materiell. Mephistopheles rät Faust, alles Zurückliegende hinter sich zu lassen. Es ist ein Aufruf zur Entlastung – doch nicht im Sinne der Mystik (wo Loslösung zur Gotteserkenntnis führt), sondern im diabolischen Sinn: frei von Skrupeln, von Gewissen, von Vergangenheit.
Der Verzicht auf das »große Bündel« bedeutet:
• keine Bücher mehr (Wissen),
• keine Skrupel (Ethik),
• keine Verantwortung (Gewissen),
• keine Bindung (Liebe, Mitmenschlichkeit).
Mephistopheles reduziert den Menschen auf das gegenwärtige Begehren, auf bloßes Streben ohne Orientierung. Damit wird Faust in die Bewegung entlassen, aber entkernt.

Zusammenfassend 2067-2068
1. Existenzialismus avant la lettre:
Faust steht an einem Scheideweg, ähnlich dem Menschen in der existenziellen Freiheit. Der »kühne Schritt« symbolisiert die Entscheidung ins Offene, ins Ungewisse – ohne Sicherheit, ohne Rückversicherung. Sartres Gedanke der »condamnés à être libres« (verurteilt, frei zu sein) schwingt mit: Die Freiheit wird zur Last und zum Risiko.
2. Dekonstruktion des bürgerlichen Selbst:
Der Rat, kein »großes Bündel« mitzunehmen, kann als Polemik gegen die bürgerliche Identität gelesen werden: Besitz, Bildung, Bindung – alles das, woran das Subjekt sich klammert, soll zurückgelassen werden. Der Mensch soll sich »entleeren«, um radikal neu anzufangen – doch wird dies zum gefährlichen Verlust von Substanz.
3. Parodie der mystischen Entsagung:
Mystiker wie Meister Eckhart sprechen vom »Abwerfen« aller Bilder und innerer Güter, um Gott zu begegnen. Mephistopheles imitiert diese Bewegung, jedoch mit umgekehrtem Ziel: nicht zu Gott, sondern zur Verlorenheit. Der Teufel spricht die Sprache der Spiritualität – um sie ins Leere zu führen.
4. Anthropologischer Nihilismus:
Der Mensch erscheint hier als Wesen ohne Zentrum, das alles abwerfen kann und dennoch »weiterlebt«. Faust wird zum Experimentierfeld für eine posthumane Existenz: ein Subjekt, das sich selbst aufgibt und dabei glaubt, sich zu verwirklichen.
5. Metaphysik des Aufbruchs:
Der Schritt aus der Gelehrtenstube ist mehr als ein Ortswechsel – es ist ein metaphysischer Schnitt: Faust verlässt das Reich der Logos-Ordnung (Bücher, Wissenschaft, Ordnung) und tritt ein in das Chaos des Erlebens, der Sinnlichkeit, des Augenblicks. Die Grenze zwischen Logos und Pathos, Ethik und Ästhetik wird überschritten.

2069 Ein Bißchen Feuerluft, die ich bereiten werde,
Mephistopheles kündigt hier die Art ihrer bevorstehenden »Reise« an: Mit einem Hauch von »Feuerluft« will er Faust von der Erde »emporheben«. Der Ausdruck »Feuerluft« verweist einerseits auf eine chemisch-physikalische Komponente (etwa das alchemistische oder proto-chemische Wissen der Goethezeit, z. B. Phlogiston-Theorien), ist aber zugleich symbolisch zu deuten: Feuer steht für Energie, Leidenschaft, auch Höllenglut – in der mythologischen wie christlichen Vorstellungswelt ein typisches Element des Dämonischen.
Die Leichtigkeit, mit der Mephistopheles diese Luft »bereitet«, betont seine Überlegenheit über Naturgesetze und Raumbegrenzung – eine ironische Umkehr der Newton’schen oder kartesischen Weltauffassung. Er »macht« die Luft, gleichsam wie ein demiurgischer Alchemist – aber im Sinne diabolischer Technik, nicht göttlicher Schöpfung.
Die Wortwahl »ein Bißchen« wirkt bewusst verharmlosend – wie oft bei Mephistopheles: Er kaschiert seine Macht durch Untertreibung, gibt sich nonchalant, ja elegant in seiner Ironie. Gleichzeitig suggeriert er Kontrolle über ein Element, das historisch als chaotisch, zerstörerisch und göttlich galt – das Feuer.

2070 Hebt uns behend von dieser Erde.
Die Bewegung »von dieser Erde« spricht von einer physischen wie geistigen Loslösung. »Behend« – also geschwind, leichtfüßig, elegant – verstärkt den Eindruck einer fast magischen Entrückung. Es ist kein mühseliger Aufstieg, sondern ein charmanter, trickreicher, fast verführerischer.
Doch wohin führt diese Bewegung? Der Vers legt nur fest, dass es von der Erde weg geht – das Ziel bleibt offen. In der Tradition des Faust-Stoffs ist dies doppeldeutig: Ist es eine himmlische, vergeistigte Reise (im Sinne platonischer Entkörperlichung)? Oder eine teuflische Entführung in dämonische Sphären, also der Beginn von Fausts Verstrickung in die Welt der Sinnlichkeit, des Trugs und der Verführung?
Mephistopheles übernimmt hier die Funktion des psychopompos, des Seelenführers – aber nicht zur Erlösung, sondern zur Erprobung, Versuchung, zum Erfahrungsrausch. Das Motiv des »Aufstiegs« ist hier entwertet, ironisiert, in seiner Zielrichtung unheilvoll verschoben.

Zusammenfassend 2069-2070
1. Ironisierung der Transzendenzidee
Was in religiöser Mystik als himmlischer Aufstieg gedacht ist, wird hier von Mephistopheles profaniert: Ein »bisschen Feuerluft« genügt – keine Läuterung, keine Askese. Transzendenz wird zur technischen Spielerei.
2. Kritik am Fortschritts- und Technikglauben
Die Vorstellung, der Mensch (bzw. ein mächtiger Geist) könne sich durch künstlich erzeugte Mittel über die Erde hinwegsetzen, spiegelt Goethes skeptische Haltung gegenüber einem rein rational-technischen Weltzugang.
3. Ambivalenz der Bewegung
Der Aufstieg als symbolischer Akt ist mehrdeutig: Ist es ein Entkommen aus der Enge des Daseins oder ein Fall in die Irre? Die Unbestimmtheit des Zieles lässt Raum für Interpretation – und spiegelt Fausts eigenen inneren Zustand: Aufbruch ohne klares Ziel.
4. Symbolik des Elements »Feuer«
Feuer als Element trägt doppelte Konnotation: göttlich-erleuchtend (Prometheus, Pfingstflamme) und dämonisch-zerstörerisch (Hölle, Leidenschaft). Mephistopheles bedient sich dieser Ambivalenz, um seine Wirkung zu entfalten.
5. Widerhall gnostischer Ideen
Der Gedanke, dass ein höheres Wissen (Gnosis) zu einer »Befreiung« von der Erde führen könne – vermittelt durch einen geistigen Vermittler – klingt hier in pervertierter Form an. Mephistopheles ersetzt den gnostischen Lichtboten durch den Trickster.
6. Verlust der metaphysischen Mitte
Die Bewegung »weg von der Erde« ist kein Streben nach dem Höheren, sondern eine Flucht vor der Tiefe. Mephistopheles enthebt Faust der Welt – nicht um ihn zu erlösen, sondern um ihn zu entgrenzen. Das Dasein verliert seine Mitte.
7. Kritik an der Hybris des Menschen
Faust lässt sich bereitwillig »heben« – ein Bild für menschliche Selbstüberschätzung. Der Mensch will sich von den natürlichen Bedingungen emanzipieren, verliert dabei aber die Erdung. Der Teufel macht’s möglich – scheinbar leicht, tatsächlich gefährlich.

2071 Und sind wir leicht, so geht es schnell hinauf;
Dieser Vers ist mehrdeutig, sowohl in der Wortwahl als auch in der inhaltlichen Dimension.
»leicht« kann einerseits im physikalischen Sinne verstanden werden – wie ein leichter Körper, der rasch nach oben steigt, wie Rauch oder Luft.
Andererseits meint Mephistopheles mit »leicht« auch die Leichtfertigkeit, Oberflächlichkeit oder moralische Ungebundenheit – insbesondere in Bezug auf geistige, sittliche oder religiöse Schwere.
»Schnell hinauf« ist in diesem Zusammenhang ironisch: Der scheinbare »Aufstieg« ist nicht zwangsläufig ein wahrer Fortschritt oder ein metaphysischer Gewinn. Im Gegenteil: In der Logik Mephistopheles’ bedeutet dieser Aufstieg oft eine Bewegung weg vom Schweren, Tiefgründigen, Verantwortlichen – also ein Aufstieg in der Schwerkraft, aber ein Abstieg in der Würde.
Der Satz spielt auch auf das Streben des Menschen an, das »Höhere« zu erreichen – doch bei Mephistopheles wird dieses Streben in sein Gegenteil verkehrt: Wer zu leicht (im Sinne von substanzlos) ist, kommt rasch empor, aber nicht im Sinne des spirituellen Aufstiegs, sondern eher wie ein leerer Ballon – nutzlos und hohl.
Zugleich klingt hier eine ironische Verkehrung des christlichen Aufstiegs (z. B. Himmelfahrt) an: Wer sich entlastet von moralischen Bindungen, steigt vielleicht rasch auf – doch das Ziel ist nicht das Göttliche, sondern die Leere. Der Teufel lobt die Leichtigkeit, wo das Göttliche Ernsthaftigkeit und Tiefe verlangt.

2072 Ich gratulire dir zum neuen Lebenslauf!
Hier beginnt Mephistopheles die nächste Phase seiner Verführung: Er nimmt eine formelle, fast feierliche Haltung ein (»Ich gratuliere…«) und stilisiert die kommende Lebensphase als einen Neuanfang, eine Art Reinkarnation Fausts – jedoch unter seinen Bedingungen.
Der »neue Lebenslauf« hat eine doppelte Bedeutung:
1. Biographisch-existenziell: Faust betritt einen neuen Abschnitt seines Lebens, in dem er nicht mehr dem akademischen, bürgerlichen Gelehrtenleben nachgeht, sondern in die Welt hinausgezogen wird – ein Leben voller Erfahrungen, Sinnlichkeit, Täuschung und Entgrenzung.
2. Symbolisch-philosophisch: Der »Lebenslauf« ist auch ein ironischer Verweis auf die biographische Rechenschaft, wie sie etwa im Jenseits gefordert wird. Mephistopheles, der »Verneiner«, beginnt diesen neuen Abschnitt, in dem Faust sich selbst verlieren und erfahren soll – aber auch in Versuchung gerät.
Diese Zeile enthält eine diabolische Umkehrung der christlichen Vorstellung vom »neuen Leben« (z. B. im Sinne einer Taufe oder Bekehrung): Was bei Paulus oder Augustinus ein Neubeginn in Gott bedeutet, ist hier ein Neubeginn in der Welt – aber orchestriert durch den Teufel. Fausts neue Identität wird nicht durch Erkenntnis des Wahren, sondern durch Erfahrung des Trügerischen geprägt.

Zusammenfassend 2071-2072
1. Ironie des Aufstiegs – Kritik der modernen Hybris
Der scheinbare »Aufstieg« ist kein geistiger Fortschritt, sondern Ausdruck einer inneren Leere. Goethes Mephistopheles spielt mit dem Wunsch des Menschen, sich über die Grenzen des Gegebenen zu erheben, und zeigt, dass dies ohne Substanz zur Farce wird.
2. Ambivalenz der Leichtigkeit
»Leicht sein« bedeutet bei Mephistopheles Unbeschwertheit, aber auch moralische Beliebigkeit. Das Ideal der »Leichtigkeit des Seins« wird hier als trügerisch entlarvt, wenn sie nicht durch Verantwortung oder Tiefe geerdet ist.
3. Beginn einer Initiation ins Weltliche
Der »neue Lebenslauf« markiert den Übergang Fausts vom Gelehrten zum Erfahrenden – analog zur Initiation in Mysterienkulten, jedoch ohne spirituelle Reinigung. Es beginnt ein existenzieller »Selbstversuch« – aber mit dem Teufel als Mentor.
4. Verkehrung religiöser Semantik
Die »Gratulation« erinnert an die Taufe oder spirituelle Initiation. Mephistopheles benutzt diese Begriffe jedoch nicht zur Erlösung, sondern zur Einbindung in den Kreislauf der Täuschung und Begierde – eine subtile Parodie auf die Sakramente.
5. Metaphysische Anthropologie: Mensch zwischen Schwer und Leicht
Faust ist das Bild des modernen Menschen: zerrissen zwischen dem Wunsch nach Transzendenz und dem Drang zur Immanenz. Die Leichtigkeit, die Mephistopheles bietet, ist die Versuchung, das Schwere (Erkenntnis, Ethos, Glaube) hinter sich zu lassen – zugunsten eines reizvollen, aber gefährlichen »schnellen Hinauf«.
I. Komparative Analyse mit Dantes Commedia
1. »Leicht« und »hinauf« – Sprache des Aufstiegs
In der Commedia, insbesondere im Purgatorio und Paradiso, ist der Aufstieg (salire, ascendere) ein zentrales Bild der Seelenläuterung und Gottesannäherung. Die Leichtigkeit (»leicht«) ist dort das Resultat innerer Reinigung. Besonders deutlich wird dies in Purgatorio Canto IX: Als Dante in den Läuterungsberg eintritt, verliert er das Gefühl der Schwere – seine Pilgerreise wird »leicht«, weil er sich dem göttlichen Willen annähert.
Mephistopheles hingegen verwendet diese Sprache bewusst pervertiert. Der »Aufstieg« ist hier keine Transzendenz, sondern ein sarkastischer Euphemismus für die Verführung in einen neuen, innerlich absteigenden Lebensweg. Der »neue Lebenslauf« ist nicht der Weg zum Licht, sondern zum verderblichen Erlebnis.
2. Ironie der »Lebensreise«
In Dantes Werk ist die Lebensreise der Seele eine lineare Bewegung vom Irrtum zur Wahrheit, vom Inferno zur visio Dei. Fausts »neuer Lebenslauf« ist hingegen eine Umkehrung: Er beginnt dort, wo Dante endete – mit einem vermeintlichen Blick ins »Licht«, jedoch unter der Führung des Diabolischen. Während Dante durch göttliche Gnade geführt wird (Vergil → Beatrice), gibt sich Faust einer dämonischen Kraft hin.
3. Göttliche Führung vs. mephistophelische Begleitung
In der Commedia wird Dante von höheren Mächten gezogen, trotz eigener Schwächen. Der Führer ist Ausdruck der göttlichen Barmherzigkeit. Mephistopheles hingegen zieht Faust durch List, Ironie und Doppelbödigkeit. Der scheinbare Aufstieg ist keine transzendente Entwicklung, sondern eine Versuchung – eine Travestie der dantischen Erlösungsreise.
II. Theologische Begriffe im Kontrast zur mephistophelischen Ironie
1. »Neuer Lebenslauf« – parodierte Taufe
Theologisch könnte »neuer Lebenslauf« an die Taufe erinnern: Der Mensch wird aus der Sünde geboren zu einem neuen Leben in Christus (vgl. Römer 6,4). Doch Mephistopheles verkehrt diese Sprache ins Diabolische. Der »Lebenslauf«, den Faust nun beginnt, ist kein Weg zur Rechtfertigung, sondern zur Selbstzerstörung unter dem Deckmantel subjektiver Selbstverwirklichung.
Die Ironie liegt darin, dass Mephistopheles mit religiösen Begriffen operiert, um sie zu entleeren. Der Hohn liegt darin, dass Faust glaubt, sich zu befreien, während er sich in Wahrheit an einen Zerstörer bindet.
2. »Leichtigkeit« – Abwesenheit von Sünde vs. Abwesenheit von Ernst
Im christlichen Sinne ist »Leichtigkeit« (vgl. Matthäus 11,30: »mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht«) ein Zeichen für die göttliche Gnade, die die Bürde der Sünde nimmt. Bei Mephistopheles ist Leichtigkeit Ausdruck von Oberflächlichkeit, Weltflucht, Spott – die Sphäre des Fliegenden, Gasförmigen, »Unverbindlichen«.
Faust soll leicht werden – nicht weil er erlöst ist, sondern weil er sich von der Tiefe des Denkens und der Verantwortung gelöst hat. Es ist eine Art moralische Schwerelosigkeit: das Gegenteil der dantischen Gravität, in der jede Seele ihr gerechtes Gewicht empfängt (besonders im Purgatorio mit der »pietra« – dem Stein, der je nach Sündenlast schwerer drückt).
3. Ironische »Gratulation« – Teuflische Perversion der Berufung
Die »Gratulation« durch Mephistopheles ist keine Feier des Heils, sondern ein Zynismus – eine Persiflage auf Berufung oder göttliche Erwählung. In der Theologie bedeutet Berufung: Ruf zur Heiligkeit, zur Nachfolge. Mephistopheles ruft Faust zur Nachfolge in der Hybris, zur Suche nach Erfüllung im Sinnlichen, im Zeitlichen – was am Ende in Enttäuschung münden soll.
Er wird damit zum Anti-Beatrice: Nicht Lichtgestalt der Liebe, sondern dunkler Führer der Ironie.
Fazit
Goethe spielt in diesen beiden Versen mit einer dichten theologisch-poetischen Intertextualität. Der scheinbar optimistische Ton (»schnell hinauf«, »neuer Lebenslauf«) ist durch und durch ironisch aufgeladen. Im Vergleich mit Dantes Commedia zeigt sich eine Umkehrung heiliger Bilder und Begriffe: Der Weg, der bei Dante zur Gottesschau führt, wird bei Faust zu einer existenziellen Versuchung ins Irdisch-Sinnliche. Mephistopheles parodiert die Sprache der Erlösung, um sie ins Nihil umzudeuten – mit feinem Spott und hintergründiger Tragik.

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