Faust.
Der Tragödie erster Theil
Johann Wolfgang von Goethe
Studirzimmer II. (11)
Schüler, Mephistopheles.
Mephistopheles.
1902 Da seyd ihr auf der rechten Spur;
Mephistopheles bestätigt hier Fausts Gedankengang. Der Ton ist bestärkend, fast väterlich – ein rhetorisches Mittel, das Vertrauen aufbauen soll. Die Formulierung »auf der rechten Spur« suggeriert, dass Faust in seiner intellektuellen oder existenziellen Suche ein Ziel vor Augen hat, das im Sinne Mephistos liegt. Doch genau darin liegt die Doppeldeutigkeit: Was »recht« ist, definiert Mephisto nicht moralisch, sondern strategisch – es geht ihm darum, Faust auf seine Spur zu locken, nicht auf eine wahrhaftige oder heilsame.
Zudem zielt der Vers auf die gerade vorhergehende Diskussion ab, in der Faust über die Wirklichkeit von Dingen, über Erfahrung und Erkenntnis nachdenkt. Mephisto signalisiert hier: Die Richtung stimmt – aus seiner Sicht. Damit verführt er Faust, seinen Gedankengang weiterzugehen, ohne ihn zu hinterfragen. Die Figur des Teufels als Bejaher und Ermutiger ist ein klassisches Motiv der satanischen Verführung, das Goethe hier literarisch differenziert einsetzt.
1903 Doch müßt ihr euch nicht zerstreuen lassen.
Hier folgt sogleich eine Einschränkung. Mephisto mahnt zur Konzentration. Die Warnung vor »Zerstreuung« ist vielschichtig: Einerseits spielt sie auf intellektuelle Disziplin an – man darf sich beim Denken nicht in Nebensächlichkeiten verlieren. Andererseits enthält sie eine tiefere, metaphysische Warnung, deren scheinbar fürsorglicher Ton ironisch zu lesen ist: Denn »Zerstreuung« im spirituellen Sinn bedeutet auch die Auflösung des Ichs, das Auseinanderfallen der inneren Einheit.
Indem Mephisto vor Zerstreuung warnt, agiert er als angeblicher Mentor, doch in Wahrheit ist es eine Form der geistigen Lenkung. Er fordert nicht, dass Faust sich selbst findet oder seinem Innersten folgt, sondern dass er sich einem bestimmten Gedankenpfad nicht entzieht. Zerstreuung könnte ja auch eine Chance sein, sich von einem gefährlichen Weg zu entfernen – doch Mephisto will diese Möglichkeit blockieren.
Außerdem wirkt die Aussage suggestiv: Sie erzeugt das Gefühl, dass Faust bereits auf dem Weg zur Wahrheit ist – wenn er sich nur konzentriert. Damit wird eine innere Spannung erzeugt zwischen dem Streben nach Erkenntnis und der Gefahr des geistigen Kontrollverlustes, wenn man sich einem einseitigen Denken verschreibt.
Zusammenfassend 1902-1903
1. Erkenntnistheorie und Täuschung:
Mephistos Lob suggeriert: Es gibt einen »rechten« Weg zur Erkenntnis – doch dieser ist durch Mephistos Bewertung bereits manipuliert. Der Leser erkennt, dass jede Erkenntnisrichtung von Interessen durchzogen ist. Damit rührt Goethe an die Skepsis gegenüber einer objektiven Wahrheit. Erkenntnis ist nie neutral – sie ist gelenkt, auch von inneren und äußeren Mächten.
2. Der Begriff der »Spur«:
Das Bild der »Spur« ist ambivalent: Eine Spur kann zur Wahrheit führen – aber auch in die Irre. Sie ist nicht Ziel, sondern Hinweis – doch wer legt sie? Goethe spielt hier mit dem Motiv der epistemischen Orientierungslosigkeit: Der Mensch kann nicht wissen, ob die Spur, der er folgt, zur Wahrheit führt oder zur Verdammnis.
3. Zerstreuung als philosophisches Konzept:
Zerstreuung ist nicht nur Unaufmerksamkeit – sie kann auch als Auflösung des Subjekts verstanden werden. In mystischen und idealistischen Traditionen ist sie mit der Gefahr des Selbstverlusts verbunden. Umgekehrt ist Zerstreuung aber auch eine Voraussetzung der schöpferischen Freiheit: Nur wer sich vom Dogma befreit, kann wirklich neu denken. Mephistos Warnung davor offenbart, dass er nicht will, dass Faust sich »zerstreut« und dabei vielleicht entkommt.
4. Machtstruktur von Sprache und Autorität:
Mephistopheles bedient sich hier einer Sprache, die Autorität behauptet: Er lobt, er warnt, er steuert. Dies zeigt, wie Sprache als Machtmittel fungiert – gerade in der Philosophie. Wer über Wahrheit spricht, hat Einfluss auf Denken und Handeln. Goethe reflektiert damit kritisch den Diskurs der Philosophie selbst: Jede Autorität, die behauptet, der »rechten Spur« zu folgen, muss sich selbst hinterfragen lassen.
5. Anthropologie des Zweifelns:
Faust befindet sich im Zustand des Fragens, Zweifelns, Suchens. Mephistos Worte greifen in diesen Prozess ein – sie beenden ihn nicht, aber sie steuern ihn. Das ist eine grundlegende anthropologische Einsicht: Der Mensch ist ein Wesen des Mangels und der Suche – und damit anfällig für Beeinflussung. Goethe zeigt, wie subtil Versuchung wirken kann: nicht durch Lüge, sondern durch bestätigendes Flüstern.
Fazit
Diese Stelle ist ein Paradebeispiel für Goethes dramaturgisches und philosophisches Können: In zwei scheinbar beiläufigen Versen bündelt er zentrale Motive der menschlichen Erkenntnis, des freien Willens, der geistigen Verführung – und der Sprache als Instrument der Lenkung.
Schüler.
1904 Ich bin dabey mit Seel’ und Leib;
Dieser Vers drückt vordergründig die totale Hingabe des Schülers an das Studium aus. Die Redewendung »mit Leib und Seele dabei sein« meint, dass jemand sich vollständig und enthusiastisch einer Sache widmet. Der Schüler versichert also seine Lernbereitschaft und stellt sich als engagierter Novize dar.
Doch zugleich schwingt eine gewisse Naivität mit: Die Formulierung klingt pathetisch, fast wie auswendig gelernt oder antrainiert – sie spiegelt die damalige Hochschulrhetorik und ihren Hang zu leeren Bekenntnissen. In Goethes Kontext ist das auch ironisch zu verstehen, denn der Schüler sagt dies gegenüber Mephisto, der die akademische Welt karikiert und ihre Echtheit infrage stellt.
Interpretationsebene: Der Schüler glaubt, Bildung sei ein Weg der Aufopferung – aber dieser Glaube wird von Mephisto (und durch Goethe) als gefährlich, da unreflektiert, dargestellt. Der Satz steht damit am Beginn eines drohenden geistigen Missverständnisses.
1905 Doch freylich würde mir behagen
Mit diesem Vers beginnt der Schüler, seine Pflicht- und Opferhaltung zu relativieren. »Freylich« (freilich) zeigt ein zögerliches Eingeständnis – eine höfliche Einschränkung der eben noch beteuerten Totalhingabe. Das Wort »behagen« deutet auf ein Bedürfnis nach Wohlgefühl, Annehmlichkeit – der Schüler möchte sich nicht vollständig im Studium auflösen, sondern auch persönliche Bedürfnisse ausleben.
Interpretationsebene: Der Mensch ist nicht nur Vernunftwesen (»ratio«), sondern auch triebgesteuert, sinnlich, auf Lust und Balance ausgerichtet. Hier kündigt sich eine anthropologische Spannung an: zwischen Pflicht und Neigung, Bildungsideal und Lebensfreude.
1906 Ein wenig Freyheit und Zeitvertreib,
Nun benennt der Schüler konkret, was ihm »behagen« würde: »Freyheit« und »Zeitvertreib«. Das ist nicht einfach Faulheit – es ist ein Ruf nach Selbstbestimmung und Spiel. Das Bedürfnis nach Freiheit steht im Kontrast zur autoritären Universitätsstruktur, die strenge Disziplin fordert. »Zeitvertreib« klingt zwar harmlos, kann aber auch als Suche nach Muße verstanden werden – ein Begriff, der in der klassischen Bildung (z. B. bei Aristoteles) sehr hochgeschätzt war: Bildung entsteht in der Muße, nicht im Zwang.
Interpretationsebene: Goethe lässt hier durch den Schüler die Forderung nach einem ganzheitlichen Bildungsideal anklingen – jenseits von bloßem Pauken und Gehorsam. Der Mensch sehnt sich nach einem Gleichgewicht zwischen Arbeit und Spiel, Ernst und Genuss, Zucht und Freiheit.
1907 An schönen Sommerfeiertagen.
Diese letzte Zeile konkretisiert das Bedürfnis nach Freiheit und Lebensfreude nochmals bildhaft: »schöne Sommerfeiertage« wecken Assoziationen von Licht, Natur, Leichtigkeit und Unbeschwertheit. Es ist eine sinnlich-poetische Wendung – und sie steht im krassen Gegensatz zur dumpfen Atmosphäre des akademischen Zimmers. Der Schüler träumt vom Leben draußen, von Natur, nicht vom stickigen Studienraum.
Interpretationsebene: Der Sommer als Symbol der Fülle und Entfaltung unterstreicht das Lebensbejahende, das sich hier gegen das künstlich-theoretische Bildungsumfeld wendet. Es geht nicht nur um ein Bedürfnis nach Pause – es ist ein stiller Aufschrei nach Leben selbst.
Zusammenfassend 1904-1907
1. Kritik am Bildungsbegriff der Aufklärung:
Die Szene spielt mit einem verkürzten, rationalistisch-autoritären Bildungsverständnis, das den Menschen auf Gehorsam und Wissensaufnahme reduziert. Der Schüler wird zur Karikatur eines idealisierten Lernenden – und seine stille Sehnsucht zeigt, dass dieses Ideal lebensfern ist. Goethe kritisiert damit die Entfremdung der Bildung von der Lebendigkeit des Daseins.
2. Anthropologische Ambivalenz:
Der Mensch ist kein reines Vernunftwesen, sondern sucht auch Genuss, Natur, Freude. Die Spannung zwischen Pflicht und Freiheit, Geist und Körper, Ernst und Spiel wird hier subtil angedeutet. Die Verse stehen damit exemplarisch für Goethes ganzheitliches Menschenbild.
3. Ironie der Verführung:
Diese Verse erscheinen harmlos – doch sie gehören zur Szene, in der Mephisto den Schüler in seine Gewalt bringt. Die Sehnsucht nach Freiheit und Freude ist auch eine Schwachstelle, die instrumentalisiert werden kann. Philosophisch gesehen erinnert das an die Dialektik von Freiheit und Verführung: Der Mensch strebt nach Freiheit – aber sie macht ihn auch verführbar.
4. Natur als Gegenbild zur Kultur:
»Schöne Sommerfeiertage« stehen in Opposition zur inneren Enge des Studierzimmers. Die Natur wird zur Projektionsfläche für ein freies, erfülltes Leben – ein Motiv, das bei Goethe (besonders im Wilhelm Meister oder der Italienischen Reise) immer wiederkehrt. Es zeigt sich hier bereits in keimhafter Form.
Mephistopheles.
1908 Gebraucht der Zeit, sie geht so schnell von hinnen,
Mephistopheles spricht hier eine Mahnung aus, die auf den flüchtigen Charakter der Zeit hinweist. Der Imperativ "Gebraucht" ist zugleich pragmatisch wie auch mahnend: Die Zeit ist eine Ressource, die man aktiv nutzen muss, da sie unwiederbringlich verloren geht (»so schnell von hinnen«). Die Formulierung erinnert an barocke Vanitas-Motive und enthält auch Anklänge an stoische oder protestantisch-bürgerliche Tugendethik. Mephisto stilisiert sich dabei nicht als Verführer, sondern als pragmatischer Ratgeber – ein Rollenspiel, das seiner Täuschungsstrategie dient. In einem tieferen Sinn reflektiert diese Zeile das menschliche Verhältnis zur Vergänglichkeit und verweist auf das Drama als Ganzes, das vom Drang des Menschen nach Erkenntnis, Erfüllung und zeitlicher Überwindung durch Geist oder Tat geprägt ist.
1909 Doch Ordnung lehrt euch Zeit gewinnen.
Dieser Vers schließt logisch an den vorigen an: Wer die Zeit sinnvoll nutzen will, muss ihr durch Ordnung Struktur geben. Der Begriff »Ordnung« ist vieldeutig. Einerseits ist er ganz praktisch gemeint: Disziplin, Arbeitsorganisation, geregelter Tagesablauf. Andererseits schwingt darin auch eine erkenntnistheoretische oder metaphysische Dimension mit: Ordnung als Prinzip der Welt- und Selbsterkenntnis. Mephistopheles behauptet, dass nur durch diese Ordnung – also durch klare Strukturierung – die Zeit nicht verloren, sondern im Gegenteil »gewonnen« werden kann. Das heißt: Ordnung kann der Vergänglichkeit ein Schnippchen schlagen, indem sie den chaotischen Strom der Zeit bändigt.
Gleichzeitig offenbart sich hier eine gewisse Ironie: Der Teufel, Symbol des Chaos, der Versuchung, des Irritierenden, empfiehlt Ordnung – das Gegenteil seiner eigenen Wesensnatur. Diese Ironie verweist auf Mephistos Strategie: nicht offene Rebellion, sondern subtiles Einschleichen in die Denkformen des Bürgers und Gelehrten.
Zusammenfassend 1908-1909
Diese beiden Verse verdichten ein zentrales Thema des gesamten Faust: das Verhältnis des Menschen zur Zeit – und zur Ordnung als Form, mit der der Mensch der Zeit zu begegnen sucht. Auf der Oberfläche handelt es sich um Ratschläge zur Lebensführung, doch in der Tiefe sprechen sie Fragen der Existenzphilosophie, Anthropologie und Theologie an.
1. Zeitlichkeit als Grundbedingung menschlicher Existenz:
Die Zeit »geht von hinnen« – das Leben ist flüchtig, der Mensch sterblich. Goethes Faust ringt durchgehend mit der Angst vor Zeitverlust und Bedeutungslosigkeit. Fausts Streben nach dem »Augenblick« (»Verweile doch!«) ist Ausdruck dieses inneren Kampfes gegen die Vergänglichkeit. Mephistos Worte sind insofern doppeldeutig: Sie geben Faust scheinbar Halt, während sie ihn zugleich auf ein gefährliches Gleis lenken – in ein System äußerer Ordnung statt innerer Wahrheit.
2. Ordnung als Mittel gegen das Chaos – und als Falle:
Ordnung scheint ein Ausweg aus der Bedrohung der Zeit zu sein. Doch Goethe stellt immer wieder die Frage: Führt Ordnung wirklich zur Freiheit, oder zur Erstarrung? Faust hat sich in den Wissenschaften bereits an einer »geordneten« Welt abgearbeitet – ohne zu echter Erkenntnis gelangt zu sein. Mephisto weiß, dass Fausts tiefstes Bedürfnis nicht die Ordnung, sondern das Lebendige ist. Wenn er hier Ordnung empfiehlt, dann eher als ironische Verzögerung oder als Vorwand, um Faust weiterhin zu binden.
3. Teuflische Dialektik:
Mephistopheles ist der »Geist, der stets verneint«, doch gerade durch solche scheinbar konstruktiven Ratschläge wirkt er subversiver als durch offene Zerstörung. Er instrumentalisiert die Ordnung, um die Bewegung auf das Chaos vorzubereiten. Damit verweist der Vers auch auf Hegelsche Dialektik oder eine frühe Form dessen, was später als ideologiekritische Einsicht formuliert wurde: dass Ordnung nicht immer emanzipatorisch, sondern auch unterwerfend wirken kann.
4. Fausts Zwischenposition:
Für Faust steht an diesem Punkt des Dramas die Frage im Raum, wie er sein Leben sinnvoll gestalten kann. Zwischen dem sterilen Geist des Gelehrtentums und dem bloßen Triebhaften sucht er nach einer höheren Synthese. Die Zeit und die Ordnung stehen dabei symbolisch für diese beiden Pole: Zeit als Natur, Ordnung als Geist. Mephisto gibt ihm keine Antwort, sondern eine Versuchung – scheinbare Orientierung in Form eines moralischen Imperativs.
Fazit
Diese beiden Verse sind mehr als bloße Lebensweisheiten. Sie entfalten, unter der Oberfläche eines didaktischen Ratschlags, eine vielschichtige Reflexion über Zeit, Ordnung, Erkenntnis, Verführung und die Dialektik menschlicher Existenz. Mephistos Rat ist keine Hilfe, sondern eine subtile Strategie: Er appelliert an Fausts Rationalität – um dessen tiefere Sehnsucht nach Unendlichkeit zu manipulieren.
1910 Mein theurer Freund, ich rath’ euch drum
Mephistopheles beginnt seine Rede im Tonfall eines wohlwollenden, erfahrenen Ratgebers. Die Anrede »Mein theurer Freund« klingt zunächst freundlich, hat aber etwas Spitzes und Überlegenes. Es kündigt sich eine ironisch-satirische Haltung an. Der Ratschlag, den er erteilen will, ist nicht ernst gemeint – oder vielmehr: Er ist eine satirische Bloßstellung des akademischen Bildungssystems.
1911 Zuerst Collegium Logicum.
Hier nennt Mephistopheles das erste »Studienfach«, das Faust seiner Ansicht nach besuchen sollte: das Kolleg der Logik. Das ist die klassische Einleitung in das Universitätsstudium – das Organon nach Aristoteles – mit dem Ziel, richtiges Denken zu lernen. Doch Mephisto meint es nicht im Sinne echter geistiger Befreiung, sondern als Akt der Zähmung, Dressur und Begrenzung.
1912 Da wird der Geist euch wohl dressirt,
Das Verb »dressiert« ist in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung. Es stammt aus der Tierdompteursprache und bedeutet das Abrichten eines Tieres auf bestimmte, künstliche Verhaltensweisen. Damit vergleicht Mephistopheles das Studium der Logik mit einer Dressur des freien Geistes – einer Unterwerfung des Denkens unter starre Regeln und mechanische Formeln.
1913 In spanische Stiefeln eingeschnürt,
Hier steigert Mephisto die Metapher der Zwangsform weiter. »Spanische Stiefel« waren ein mittelalterliches Folterinstrument, mit dem Gliedmaßen eingespannt und gequetscht wurden. Mephisto setzt also das logische Denken – das ja eigentlich zur Klarheit und Erkenntnis führen soll – mit einer schmerzhaften, einengenden Zwangsjacke gleich. Logik wird so zur Folter des Geistes.
1914 Daß er bedächtiger so fort an
Das Ergebnis dieser Dressur ist laut Mephisto ein »bedächtigeres« Vorgehen des Geistes. Dies klingt zunächst positiv – als ob vorsichtiges, überlegtes Denken gemeint sei. Doch im Kontext wirkt es spöttisch: Was hier »bedächtig« genannt wird, ist eher geistige Lähmung, Hemmung, Unterdrückung der lebendigen Bewegung des Denkens.
1915 Hinschleiche die Gedankenbahn,
Die Vorstellung des »Hinschleichens« ist ein starkes Bild. Mephisto verleiht dem Denken eine träge, mühsame Fortbewegung entlang einer starren, vorgegebenen »Bahn«. Gedanken dürfen nicht mehr frei springen, fliegen, sich entfalten, sondern müssen sich wie Gefangene durch ein vorgezeichnetes System quälen.
1916 Und nicht etwa, die Kreuz’ und Quer,
Die Konjunktion »nicht etwa« betont das Verbotene: Gedanken sollen nicht »kreuz und quer« gehen – also nicht assoziativ, poetisch, originell oder schöpferisch sein. Das »Kreuz und Quer« symbolisiert gerade jene kreative Bewegung, die Fausts Geist ursprünglich antreibt. Mephisto macht hier deutlich, dass das logische Denken solche Bewegungen unterdrückt.
1917 Irlichtelire hin und her.
Das Verb »irlichteliren« verbindet zwei Bilder: das »Irrlicht«, das in der Romantik oft als Symbol des poetisch-schöpferischen, aber auch gefährlichen und schwer greifbaren Denkens gilt – und das unstete, schwer zu fassende Schweifen. Die Wiederholung »hin und her« verstärkt das Bild geistiger Beweglichkeit – etwas, das Mephisto (scheinbar) ablehnt. In Wirklichkeit aber preist er es durch die satirische Überzeichnung der logischen Zwangsform stillschweigend als das Lebendige.
Zusammenfassend 1910-1917
In dieser Passage legt Mephistopheles eine tiefgreifende Kritik am akademischen Rationalismus und am damaligen Wissenschaftsverständnis vor – und zugleich eine viel grundlegendere Problematik offen: die Spannung zwischen formaler Vernunft und lebendiger Erkenntnis.
1. Kritik der instrumentellen Vernunft:
Die Logik, die eigentlich dem Denken dienen sollte, wird hier zum Instrument der Disziplinierung, ja Folter. In diesem Sinne greift Goethe Mephistos Sicht auf, um auf die Entfremdung aufmerksam zu machen, die ein rein formales Denken mit sich bringt. Der Geist wird nicht befreit, sondern mechanisiert.
2. Spannung zwischen Ordnung und Freiheit:
Mephisto spiegelt Faust – und dem Leser – die Alternative: Entweder ein Denken in starren Bahnen (Logik als spanischer Stiefel), oder das freie, riskante, kreative Denken (als »Irlichteln«). Dabei verführt er mit der Kritik an der Ordnung, obwohl sein eigenes Ziel ebenfalls die Irreführung ist. Dennoch: Die Kritik trifft.
3. Subtile Parodie des Bildungssystems:
Goethe lässt durch Mephisto das gesamte Universitätswesen der damaligen Zeit in Frage stellen: Es bildet nicht den Menschen, sondern unterwirft ihn einem starren Regelsystem. Bildung wird zur Form ohne Inhalt.
4. Versteckte Verteidigung des schöpferischen Geistes:
Das scheinbare Lob der Logik ist ein Hohn – in Wahrheit plädiert diese Passage für das freie Denken. Mephistos Spott legt offen, dass das, was man als »Irrlicht« abtut, vielleicht der einzige Weg zu wahrer Erkenntnis ist.
5. Dialektik von Ordnung und Chaos:
Die Verse spielen mit einer tiefen Dialektik: Nur wer das Chaos kennt und durchschreitet, kann zur Ordnung gelangen, die mehr ist als Mechanik. Faust will nicht »dressiert« werden – er sucht eine Wahrheit, die nicht in Lehrsystemen zu finden ist.
Fazit
Insgesamt entlarvt Mephistopheles mit beißender Ironie die Schwächen eines rationalistisch verengten Weltzugangs und stellt dem die Ahnung eines schöpferischen, von innerer Freiheit getriebenen Denkens gegenüber. Die scheinbar »teuflische« Stimme wird damit – paradox – zur Stimme einer tieferen Wahrheit, die Goethe durch den Mund des Verführers sprechen lässt.
1918 Dann lehret man euch manchen Tag,
Mephistopheles beschreibt hier mit beißendem Spott die akademische Ausbildung, die Fausts Famulus Wagner durchläuft. Der Ausdruck »manchen Tag« betont nicht nur die Länge und Trägheit des Prozesses, sondern auch dessen Routinehaftigkeit und monotone Wiederholung. Die Konstruktion »lehren« verweist auf die didaktische Überfrachtung des Menschen in der Universität, bei der nicht Erfahrung oder lebendiges Leben zählt, sondern autoritäres Vermitteln. Diese Lehre ist abstrakt, mechanisch und lebensfern.
1919 Daß, was ihr sonst auf einen Schlag
Hier wird ein Kontrast aufgebaut: Mephisto spricht davon, dass gewisse Dinge früher »auf einen Schlag« – also spontan, instinktiv oder unmittelbar – getan oder verstanden wurden. Das betrifft ganz basale menschliche Funktionen und Aktivitäten, womit Mephisto bereits auf den Vergleich in der nächsten Zeile hinführt. Die Wendung »auf einen Schlag« evoziert die Idee einer natürlichen, unmittelbaren Handlung – also im Gegensatz zu der umständlich-rationalisierten Vorgehensweise, wie sie durch akademische Lehre vermittelt wird.
1920 Getrieben, wie Essen und Trinken frey,
Nun wird das, was früher »auf einen Schlag« erfolgte, mit dem natürlichsten menschlichen Verhalten verglichen: »Essen und Trinken«. Diese Tätigkeiten benötigen keine Anleitung oder Reflexion, sie sind instinktiv, grundlegend – eben »frei«. Das Wörtchen »frey« (freilich auch altertümlich für »frei«) hat hier eine doppelte Bedeutung: Zum einen ungebunden, natürlich, zum anderen aber auch genussvoll, selbstbestimmt. Mephisto spottet über eine Welt, in der selbst das Einfache und Elementare durch künstliche Didaktik ersetzt wird.
1921 Eins! Zwey! Drey! dazu nöthig sey.
Die letzte Zeile kulminiert in purer Ironie. Was einst instinktiv war, müsse jetzt – so der Spott – durch einen pädagogischen Zählvorgang wie »Eins! Zwei! Drei!« erst eingeleitet werden. Diese Zeile ist besonders bissig: Sie verspottet nicht nur die Zerlegung lebendiger Handlung in künstliche Schritte, sondern auch die Art und Weise, wie wissenschaftliche oder pädagogische Systeme die Lebendigkeit des Lebens in mechanische Schemata pressen. Die scheinbar kindliche Zählweise (»Eins! Zwei! Drei!«) unterstreicht dabei die Lächerlichkeit des Vorgangs.
Zusammenfassend 1918-1921
1. Kritik am mechanistischen Bildungsverständnis
Mephisto karikiert ein Bildungssystem, das natürliche, unmittelbare Fähigkeiten durch übermäßige Theorie und Systematik verkompliziert. Die Idee, dass selbst einfachste Handlungen wie »Essen und Trinken« einer systematischen Anleitung bedürften, zeigt, wie sehr der Mensch durch intellektuelle Überfrachtung seiner Spontaneität beraubt wird. Goethe kritisiert damit eine entmenschlichte, lebensferne Wissenschaft.
2. Entfremdung des Menschen von sich selbst
Was früher natürlich geschah, bedarf jetzt künstlicher Einleitung – der Mensch wird so von seinem ursprünglichen Wesen entfremdet. Diese Idee greift auf frühromantische (und später existenzialistische) Vorstellungen zurück: Der Mensch verliert im bloßen Verstand seinen Zugang zur lebendigen Welt.
3. Satire auf die Pädagogik der Aufklärung
In der satirischen Überzeichnung des Lehrvorgangs klingt eine Polemik gegen das Bildungsverständnis der Aufklärung mit, das alles dem Rationalen unterwerfen will. Mephisto zeigt, wie dieses Prinzip in absurde Extreme führen kann, wenn es nicht durch Maß und Lebensbezug gebändigt wird.
4. Mephistopheles als ironischer Kulturkritiker
Mephisto fungiert in dieser Szene als Sprachrohr einer fundamental-kritischen, aber keineswegs konstruktiven Philosophie: Er diagnostiziert treffend die Missstände der Bildung und Vernunftkultur, bietet aber keine Lösung, sondern spielt mit Zynismus und Ironie. Das macht ihn zur dämonischen Spiegelgestalt der Moderne.
Fazit
Die Verse im Studierzimmer sind ein meisterhafter Mephisto-Monolog, der in knapper, spöttischer Form eine umfassende Kritik an Entfremdung, Bildungsbürokratie und Rationalismus leistet. Hinter dem scheinbar leichten Ton verbirgt sich eine tiefe Skepsis gegenüber einer Welt, in der das Lebendige der Reflexion geopfert wird – ein zentrales Thema, das Faust I durchzieht.
1922 Zwar ist’s mit der Gedanken-Fabrik
Schon im ersten Vers bringt Mephistopheles eine metaphorische Wendung ins Spiel: Das Denken des Menschen wird zur »Gedanken-Fabrik«. Diese metaphorische Redeweise signalisiert eine mechanische, arbeitsteilige Vorstellung geistiger Tätigkeit. Das Denken erscheint nicht als spontaner Ausdruck des Geistes, sondern als Produktionsprozess – industriell, planbar, vielleicht auch entzaubert. Das »Zwar« verweist zudem auf eine Einschränkung oder einen Kontrast zu einem zuvor Gesagten – Mephisto widerspricht oder relativiert gerade eine Ansicht (nämlich Fausts Ideal des höheren, schöpferischen Denkens).
1923 Wie mit einem Weber-Meisterstück,
Die Gedankenfabrik wird weiter konkretisiert durch das Bild eines »Weber-Meisterstücks«. Gemeint ist ein kunstvoll gewebter Stoff, wie ihn ein Meister seiner Zunft anfertigt – also etwas technisch Hochentwickeltes und von hohem Ansehen. Hier wird das Denken nicht nur mechanisch, sondern auch handwerklich-kunstvoll vorgestellt. Doch auch diese Schönheit bleibt gebunden an Technik und Struktur, nicht an lebendige Inspiration.
1924 Wo Ein Tritt tausend Fäden regt,
Mit einem einzigen Tritt auf das Pedal eines Webstuhls werden tausend Fäden gleichzeitig bewegt. Diese Zeile betont die Effizienz und Komplexität der Mechanik: Der Mensch (als Denker) initiiert etwas – doch was folgt, ist eine maschinelle Reaktion, kein willensgesteuertes Nachdenken. Der Vers verweist auf die Unübersichtlichkeit des Geistesprozesses, sobald er formalisiert wird. Es geschieht viel – aber was genau, bleibt dem Bewusstsein entzogen.
1925 Die Schifflein herüber hinüber schießen,
Das »Schifflein« ist das Weberschiffchen, das den Schussfaden zwischen den Kettfäden hindurchträgt. Ihre Bewegung ist rasant, flüchtig, kaum kontrollierbar – ein Bild für das Assoziieren, das Hin- und Herspringen der Gedanken, vielleicht auch der Sprache. Diese Bewegung wirkt automatisiert – ein Hinweis auf das Unbewusste im Denken oder die Eigenmächtigkeit des Intellekts.
1926 Die Fäden ungesehen fließen,
Dieser Vers hebt die Unsichtbarkeit und Unbewusstheit der kognitiven Prozesse hervor. Die Fäden, d. h. die gedanklichen Verbindungen und Übergänge, sind nicht sichtbar – der Denkende weiß kaum, was sich in seinem Inneren eigentlich vollzieht. Das Wissen entgleitet, das Denken ist nicht mehr durchsichtig. Auch eine Kritik an der Rationalität, die sich selbst nicht mehr durchschaut.
1927 Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt:
Der abschließende Vers bringt eine Synthese der vorherigen Bilder: Mit einem einzigen »Schlag« (mechanischer Impuls, etwa vom Webstuhl) entstehen tausend Verknüpfungen – unüberschaubar, automatisiert, gleichsam übermenschlich. Diese Zeile kann als Hinweis auf die Überkomplexität moderner (rationalistischer, wissenschaftlicher) Denksysteme verstanden werden: Es entstehen neue Erkenntnisse, neue Verbindungen – aber ohne klare Intention, ohne inneres Maß, fast wie bei einer dämonischen Maschine.
Zusammenfassend 1922-1927
Diese sechs Verse sind weit mehr als eine technische Allegorie des Denkens. Sie lassen sich tiefenphilosophisch in folgende Richtungen deuten:
1. Kritik an der Aufklärung und am Rationalismus:
Mephistopheles beschreibt das Denken als mechanischen Prozess, dem die Seele, das Lebendige, das Schöpferische abhandengekommen ist. Damit polemisiert er gegen den cartesianischen Rationalismus, gegen die Illusion, alles sei berechenbar und durch den Verstand ordnend zu durchdringen. Die menschliche Vernunft wird hier nicht verherrlicht, sondern als bloßes Uhrwerk entlarvt.
2. Entfremdung des Denkens:
Der Mensch wird in dieser Metapher vom Subjekt zum bloßen Bediener – wie ein Arbeiter an einer Maschine. Das Denken läuft, ohne dass er es durchschaut. Goethes Bild spricht eine frühe Kritik an der »funktionalisierten Vernunft« aus, die später etwa bei Marx (Entfremdung), Heidegger (Seinsvergessenheit) oder Adorno (Dialektik der Aufklärung) zentral wird.
3. Sprach- und Erkenntniskritik:
Die Webbewegung der »Schifflein« lässt sich auch als Metapher für die Sprache verstehen, die unaufhörlich Bedeutungen erzeugt, Verbindungen herstellt – aber nicht notwendig zu Wahrheit führt. Der Denkvorgang selbst ist durchsetzt von Automatismen, er produziert Bedeutungen, aber keine Gewissheit. Damit liegt ein skeptischer Zug in Mephistos Rede, der die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit aufzeigt.
4. Dämonisierung des Intellekts:
Mephisto spricht als Verächter des Menschen und des Geistes. Indem er das Denken auf eine kalte Maschinerie reduziert, stellt er es in eine luziferische Perspektive: Geist ohne Herz, Erkenntnis ohne Weisheit. Dieses Motiv zieht sich durch Goethes Faust – Fausts Streben droht immer dann ins Dämonische umzuschlagen, wenn es nicht durch Liebe, Gefühl oder unmittelbare Erfahrung geerdet ist.
5. Vorwegnahme kybernetischer Strukturen:
Nicht zuletzt kann man Mephistos Beschreibung als überraschend moderne Vision der Informationsverarbeitung lesen: Ein kleines Signal (Tritt, Schlag) aktiviert ein riesiges Netzwerk (Fäden, Verbindungen) – ein Modell, das an heutige neuronale Netze oder algorithmisches Denken erinnert. Die »Gedanken-Fabrik« könnte man fast als Vorahnung der digitalen Kognition deuten, in der der Mensch kaum noch Subjekt ist.
1928 Der Philosoph der tritt herein,
Hier wird ein Typus vorgestellt – »der Philosoph«. Mephistopheles spricht nicht von einem konkreten Denker, sondern karikiert ein erkenntnistheoretisches Selbstverständnis: der Philosoph als Vertreter der Vernunft, der sich selbst für den Meister des Verstehens hält. Das Verb »tritt herein« ist lapidar und desillusionierend – es reduziert den Einzug des Philosophen auf eine mechanische Geste, die Würde des Erkenntnissubjekts wird unterlaufen.
1929 Und beweis’t euch, es müßt’ so seyn:
Der Philosoph kommt nicht mit Fragen, sondern mit Beweisen. Er will zeigen, dass »es müßt’ so seyn« – ein Ausdruck notweniger Folgerichtigkeit. Die Formulierung ist bewusst unscharf und zugleich prägnant: alles ist angeblich notwendig, zwingend, unvermeidbar – eine Denkweise, die das Zufällige, Irrationale, Widersprüchliche ausschließt. Mephisto spottet hier über die dogmatische Kraft des Rationalismus, der nicht beschreibt, sondern vorschreibt.
1930 Das Erst’ wär’ so, das Zweyte so,
Nun folgt ein typischer syllogistischer Aufbau: Prämisse eins, Prämisse zwei – Grundlage logischer Beweisführung. Das erinnert an die scholastische Tradition und auch an die Art, wie Hegel oder Kant ihre Systeme strukturieren: These, Antithese, Synthese. Die Beispiele bleiben abstrakt, was die Leere solcher Systemlogik unterstreicht. Mephisto ahmt die Logik nach, um sie ins Lächerliche zu ziehen.
1931 Und drum das Dritt’ und Vierte so;
Die Konsequenzen scheinen logisch. Aus dem ersten und zweiten ergibt sich zwingend das dritte und vierte. Das »und drum« verweist auf eine Kausalität, die in sich geschlossen, aber vielleicht blind ist. Das Denken hat keine Verbindung mehr zur sinnlichen Welt, zur Erfahrung, zum Leben. Es reproduziert sich selbst. Damit kritisiert Mephisto eine rein spekulative Philosophie, die sich in Selbstbeweisen erschöpft.
1932 Und wenn das Erst’ und Zweyt’ nicht wär’
1933 ert’ wär’ nimmermehr.
Das Resümee der parodierten Beweisführung: Alles hängt ab von den ersten Voraussetzungen – sind diese falsch oder fehlen sie, bricht das ganze Gebäude zusammen. Mephisto macht deutlich, wie prekär und zirkulär diese Denkweise ist: eine Kette, die auf beliebigen Gliedern beruht. Das »nimmermehr« ist ironisch-final, wie ein Totenglöcklein des Rationalismus. Die ganze Argumentation ist eine Farce, wenn ihre Grundlagen nicht gesichert sind.
Zusammenfassend 1928-1933
Goethes Mephistopheles führt hier eine fundamentale Kritik an einem verabsolutierten Rationalismus, insbesondere an der neuscholastischen und idealistischen Philosophie, wie sie zur Goethezeit in Mode war. Die Logik, die der Teufel karikiert, ist leer, selbstreferenziell und weit entfernt vom Leben. Sie erzeugt keinen Sinn, sondern ein Gebäude von Prämissen, das auf willkürlichen Setzungen basiert.
Diese Passage ist ein Seitenhieb auf:
Kants Transzendentalphilosophie, die mit apriorischen Urteilen arbeitet,
Hegels Dialektik, deren Systemlogik notwendige Entwicklungsstufen postuliert,
und allgemein auf die Hybris eines Denkens, das die Welt »deduktiv« aus Prinzipien herleiten will.
Mephisto ist kein Verteidiger der Wahrheit, doch sein Spott ist ernst zu nehmen: Er entlarvt das systematische Denken als Konstruktion, als spekulatives Spiel. Der Witz liegt darin, dass der Teufel selbst der rationalste und analytischste aller Figuren ist – und gerade darum kann er die Grenzen dieser Haltung so scharf erkennen.
Gleichzeitig spielt die Szene mit der Differenz zwischen »Beweis« und »Wahrheit«: Der Philosoph beweist, dass »es so sein muss« – aber ob es wirklich so ist, bleibt offen. Die Vernunft kann sich täuschen, wenn sie sich selbst zur absoluten Instanz macht. Goethe gibt damit ein frühes Zeugnis romantischer und existenzieller Kritik am Rationalismus: Das Denken allein reicht nicht – das Leben, das Fühlen, das Unbewusste gehören mit dazu.
1934 Das preisen die Schüler allerorten,
Mephistopheles beginnt mit ironischem Ton. Der Vers bezieht sich auf eine bestimmte wissenschaftliche Methode oder Denkweise, die »die Schüler«, d. h. die Studenten oder Jünger der Wissenschaft, »allerorten« – also überall – loben und befürworten. Implizit ist das eine methodisch-analytische Haltung, die sich auf Zergliederung und Rationalität stützt. Das »Preisen« verweist auf eine blinde Begeisterung, fast schon kultische Verehrung dieser Herangehensweise.
1935 Sind aber keine Weber geworden.
Hier kommt die erste metaphorische Zuspitzung. Das Bild des »Webers« verweist auf jemanden, der aus einzelnen Fäden ein sinnvolles Ganzes – ein Gewebe – herzustellen vermag. Die Schüler loben zwar eine analytische Denkweise, sind aber nicht in der Lage, die einzelnen Erkenntnisfäden zu einem lebendigen Zusammenhang zu verweben. Das verweist auf eine epistemologische Schwäche: Wissen wird zerteilt, aber nicht ganzheitlich verstanden.
1936 Wer will was lebendig’s erkennen und beschreiben,
Jetzt weitet Mephisto die Perspektive auf das grundsätzliche Erkenntnisproblem. Wer das Lebendige – also nicht bloß tote Materie, sondern lebendige, dynamische Ganzheit – erkennen und beschreiben will, steht vor einer besonderen Herausforderung. Das »Lebendige« verweist auf das, was sich der mechanischen Analyse entzieht: das Leben, das Werden, das Seelische, das Geistige.
1937 Sucht erst den Geist heraus zu treiben,
Dies ist der zentrale Kritikpunkt. Die gängige Methode der Naturwissenschaft oder des Rationalismus (vor allem in der Tradition von Descartes oder Newton) besteht darin, das Lebendige zu analysieren, indem man den »Geist« – das Prinzip der inneren Lebenskraft oder des Zusammenhangs – aus dem Objekt herausdrängt. Der Geist, der eigentliche Sinnträger, wird ausgeschlossen, um nur das Messbare, Zählbare, Beobachtbare zu behalten.
1938 Dann hat er die Theile in seiner Hand,
Nach der »Austreibung« des Geistes bleiben nur die toten Einzelteile übrig. Man hat sie »in der Hand«, also greifbar, untersuchbar, klassifizierbar – aber ohne Leben. Das verweist auf eine materialistisch-mechanistische Wissenschaft, die alles in Komponenten zerlegt, aber das Ganze verliert.
1939 Fehlt leider! nur das geistige Band.
Der berühmte Schlusspunkt dieses kleinen Monologs. Mephistopheles konstatiert: Das »geistige Band«, das die Teile zu einem Ganzen verbindet, fehlt. Der Zusammenhang, die Bedeutung, das lebendige Prinzip – all das ist verloren gegangen. Damit wird das grundlegende Dilemma moderner Erkenntnis skizziert: analytische Klarheit auf Kosten des Sinns.
Zusammenfassend 1934-1939
Diese Passage berührt fundamentale erkenntnistheoretische und metaphysische Fragen und enthält eine mehrschichtige Kritik an den erkenntnistheoretischen Grundlagen der Aufklärung und des Positivismus:
1. Kritik an der analytischen Zergliederung:
Goethe (bzw. Mephistopheles) kritisiert eine Wissenschaft, die das Ganze zerteilt, ohne es wieder zusammenzusetzen. Die Erkenntnis des Lebendigen erfordert mehr als nur Analyse – sie bedarf eines erfassenden, synthetisierenden Denkens.
2. Verlust des Zusammenhangs:
Das »geistige Band« steht für den inneren Zusammenhang, für den Sinn, der über die materiellen Einzelheiten hinausgeht. Es verweist auf eine holistische Weltsicht, in der das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Dies steht in der Tradition des deutschen Idealismus (etwa bei Schelling oder Hegel), aber auch im Einklang mit Goethes eigener naturphilosophischer Position (z. B. in seiner Farbenlehre oder Pflanzenmetamorphose).
3. Ironie Mephistopheles’:
Dass gerade Mephistopheles diese Kritik äußert, ist hochbedeutend. Er stellt sich hier scheinbar als Fürsprecher einer ganzheitlichen Erkenntnis dar – aber in Wahrheit benutzt er diese Einsicht, um den Menschen ins Lächerliche zu ziehen und die Wissenschaft zu verächtlich zu machen. Das macht seine Aussage doppeldeutig: sie ist tief wahr, aber auch teuflisch manipulativ.
4. Das Verhältnis von Leben und Geist:
Goethe denkt Leben nicht als rein biologischen Vorgang, sondern als geistig-dynamische Realität. Die Trennung von Materie und Geist ist ihm ein Irrweg. Das »geistige Band« ist für ihn keine abstrakte Idee, sondern die lebendige Einheit von Natur, Geist und Sinn.
5. Aktualität:
Die Verse lassen sich als Kritik an modernen Formen von Reduktionismus, Materialismus oder Technokratie lesen, die alles erklärbar machen wollen, aber dabei den Sinn des Ganzen verlieren. Es geht um die Frage, wie man das Lebendige denken kann, ohne es zu zerstören.
Fazit
Diese sechs Verse sind ein Schlüsseltext in Goethes »Faust« – sie bringen nicht nur das zentrale Problem des Erkenntnisstrebens auf den Punkt, sondern lassen auch den Widerspruch zwischen analytischer Wissenschaft und lebensvoller Ganzheit sichtbar werden. Goethes Kritik bleibt dabei vielschichtig und lebendig: Sie spricht aus dem Mund des Teufels – aber das, was er sagt, trifft tief.
1940 Encheiresin naturae nennt’s die Chimie,
Mephistopheles spricht hier spöttisch über die Chemie, die er – ganz im Sinn damaliger hermetischer Begriffe – als »Encheiresin naturae« bezeichnet. Dieser Ausdruck stammt aus der Alchemie und bedeutet wörtlich so viel wie »Handhabung der Natur« oder »Eingriff in die Natur«. Es klingt gelehrt, ist aber in Goethes Darstellung ein leeres Wortspiel, das eine scheinwissenschaftliche Aura erzeugt. Mephistopheles karikiert damit die chemische Wissenschaft, indem er sie als eine Art magisch-mechanischer Eingriff beschreibt, der die Natur manipuliert, ohne sie eigentlich zu verstehen.
1941 Spottet ihrer selbst und weiß nicht wie.
Hier verstärkt Mephisto seine Kritik: Die Chemie – also die Naturwissenschaft – sei ein System, das über sich selbst lache, ohne zu begreifen, was es da eigentlich tut. Das ist tief ironisch: Die Chemie stellt sich selbst als rational und objektiv dar, aber sie »spottet ihrer selbst«, weil sie sich in Begriffe und Reduktionen verstrickt, ohne das Wesen des Seins zu erfassen. Die Wissenschaft ist also selbstparodistisch, ohne es zu merken – ein zentrales Motiv in Goethes Kritik am rein mechanistischen Weltbild.
1942 Kann euch nicht eben ganz verstehen.
Der Schüler antwortet verunsichert. Seine Reaktion ist Ausdruck der Hilflosigkeit des Laien angesichts der hochtrabenden und doppeldeutigen Sprache Mephistos. Er versteht weder die Ironie noch den philosophischen Unterton, sondern hört nur das Gelehrte. Diese Zeile zeigt zugleich, wie leicht Autorität durch den bloßen Schein von Wissen erzeugt wird – auch wenn dieses Wissen gar nicht in die Tiefe reicht.
1943 Das wird nächstens schon besser gehen,
Mephisto antwortet beruhigend, beinahe väterlich. Aber diese Beruhigung ist trügerisch. In Wahrheit kündigt er nicht etwa ein tieferes Verstehen an, sondern eine Erziehung zur Oberflächlichkeit. Der Schüler soll nicht erkennen lernen, sondern lernen, wie man mit Begriffen hantiert – ohne sie zu durchdringen. Dies ist auch ein Seitenhieb auf das damalige Universitätssystem, das oft mehr Wert auf Disziplin, Klassifikation und terminologische Akkuratesse als auf echte Erkenntnis legte.
1944 Wenn ihr lernt alles reduzieren
Hier offenbart Mephisto offen seine Strategie: »Alles reduzieren« – das heißt: die komplexe, lebendige Wirklichkeit auf einfachste Begriffe und Formeln herunterbrechen. Dies ist ein Grundprinzip der modernen Naturwissenschaft – und wird hier mit doppeltem Boden kritisiert. Denn Reduktion ist erkenntnistheoretisch ambivalent: Sie schafft Überblick, aber auch Verlust an Ganzheit. Mephisto steht hier für eine epistemische Haltung, die Komplexität in den Griff zu bekommen sucht, indem sie das Lebendige in tote Schemata zwängt.
1945 Und gehörig klassificieren.
Hier geht es weiter mit der Methodologie der Wissenschaft: Kategorisieren, ordnen, benennen – aber nicht im Dienst des Verstehens, sondern des Beherrschens. »Gehörig« bedeutet hier »ordnungsgemäß«, aber auch »unterwürfig«: Alles soll in ein System gebracht werden, das keine Überraschungen mehr zulässt. Mephisto propagiert damit eine Geisteshaltung, die auf Formalisierung und Kategorisierung zielt, ohne das Wesen der Dinge zu erfassen.
Zusammenfassend 1940-1945
Diese kurze Passage ist ein dichtes Kompendium goethescher Wissenschaftskritik und anthropologischer Ironie. Mephisto verkörpert eine Art karikierter Rationalismus – nicht um die Vernunft an sich zu verspotten, sondern um ihre Hybris bloßzustellen.
1. Reduktionismus als Scheinwissen:
Goethe thematisiert hier, wie moderne Wissenschaft dazu tendiert, das Reale auf mess- und klassifizierbare Bestandteile zu reduzieren. Dies wird nicht grundsätzlich abgelehnt, aber problematisiert – denn das Wesentliche des Lebens, des Geistes, der Natur entzieht sich solcher Reduktion.
2. Wissenschaft als Machtinstrument:
Mephisto spricht von der »Encheiresis« – das ist ein Zugriff auf die Natur, kein Verstehen. Das erinnert an spätere Kritik wie bei Heidegger, der in der Technik ein »Bestellen« der Welt sieht: Der Mensch zwingt die Natur in sein Raster.
3. Sprache als Blendwerk:
Die pseudo-griechische Terminologie (»Encheiresin naturae«) wird zum rhetorischen Schleier, hinter dem sich inhaltliche Leere verbirgt. Dies spielt auf die Gelehrtensprache der Zeit an – und generell auf den Missbrauch von Sprache zur Erzeugung von Autorität.
4. Bildungskritik:
Der naive Schüler will verstehen, Mephisto aber gibt ihm nicht Erkenntnis, sondern Dressur. Das Bildungssystem wird als ein Mechanismus gezeigt, der eher zur Reproduktion von Scheinsicherheit dient als zur Förderung des Denkens.
5. Mephisto als Prinzip der Verdunkelung durch Rationalisierung:
Er führt nicht zur Erleuchtung, sondern zur methodisch verbrämten Ignoranz. Damit stellt Goethe auch die Frage: Ist alles Wissen wirklich Fortschritt? Oder gibt es einen Verlust an Sinn durch die »Verwissenschaftlichung« des Weltverhältnisses?