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Faust.
Der Tragödie erster Theil

Johann Wolfgang von Goethe

Studirzimmer II. (10)

Ein Schüler tritt auf.

Schüler.
1868 Ich bin alhier erst kurze Zeit,
Dieser Vers macht sofort die Stellung des Sprechers deutlich: Der Schüler ist neu an der Universität. Das altmodisch-feierliche »alhier« signalisiert seinen Versuch, sich sprachlich dem akademischen Milieu anzupassen, wobei die Künstlichkeit dieser Sprache auf seine Unsicherheit und seine Rolle als Fremdling in einer neuen Welt verweist. Es schwingt ein Unterton kindlicher Orientierungslosigkeit mit. Der Satz markiert eine biografische Schwelle – der Schüler steht am Anfang seines Bildungswegs.

1869 Und komme voll Ergebenheit,
Mit dem Ausdruck »voll Ergebenheit« bringt der Schüler eine Haltung zum Ausdruck, die tief im damaligen Verständnis von Autorität und Bildung verwurzelt ist: Er zeigt sich unterwürfig, ehrfürchtig, bereit zu lernen und zu gehorchen. Das Wort »Ergebenheit« betont die Asymmetrie zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Wissenden und Unwissenden – ein zentrales Thema der folgenden Szene. Diese devote Haltung macht ihn zugleich zum leichten Opfer für Mephistopheles’ zynische Belehrung.

1870 Einen Mann zu sprechen und zu kennen,
Dieser Vers vertieft die Motivationen des Schülers: Es geht ihm um das Gespräch mit einem anerkannten Wissenden – also um direkten Zugang zur Wahrheit durch persönliche Begegnung. Gleichzeitig enthüllt sich ein romantisch-idealisierter Bildungsgedanke: Wissen wird nicht als Prozess, sondern als Aneignung einer Autoritätsperson gedacht (»einen Mann«), deren bloße Nähe schon etwas Erhabenes verspricht. Das Verlangen nach Erkenntnis ist hier noch mit Personenkult vermischt.

1871 Den alle mir mit Ehrfucht nennen.
Hier tritt das soziale Moment des Bildungsstrebens in den Vordergrund: Der Schüler eifert nicht aus innerer Notwendigkeit nach Erkenntnis, sondern aus der Orientierung an einem kollektiven Ruf. »Den alle … nennen« zeigt, dass er durch Hörensagen motiviert ist. Das Schlüsselwort »Ehrfucht« verrät eine quasi-religiöse Haltung gegenüber der akademischen Autorität. Der Schüler idealisiert den Lehrer, ohne diesen wirklich zu kennen. Dies bereitet den Boden für die satirische Dekonstruktion durch Mephistopheles.

Zusammenfassend 1868-1871
Die Szene ist durchzogen von einer doppelten Satire: einerseits auf die blinde Ehrfurcht der Lernenden, andererseits auf das marode Bildungssystem, das durch Mephistopheles’ karikierende »Beratung« entlarvt wird. Schon in den ersten vier Versen verdichtet sich eine Fülle an philosophischen Motiven:
1. Autoritätsglaube versus Autonomie des Denkens:
Der Schüler vertraut der äußeren Autorität und den Meinungen anderer, statt selbst zu prüfen. Goethe spiegelt hier eine Grundfrage der Aufklärung: Was ist Aufklärung? – eben das »sich seines eigenen Verstandes zu bedienen« (Kant). Der Schüler hingegen sucht das Heil bei einer angesehenen Figur, nicht durch eigene Reflexion.
2. Bildung als kultisches Ritual:
Mit Begriffen wie »Ergebenheit« und »Ehrfucht« wird Bildung als ein religiöses Unterwerfungsverhältnis dargestellt. Goethe karikiert die damalige Universität als eine Institution, die eher Glauben als kritisches Denken fördert.
3. Die Ironie der Bildungssehnsucht:
Die ehrliche Sehnsucht des Schülers wird in einem ironischen Kontext gezeigt. Der Gegensatz zwischen Ideal und Wirklichkeit bereitet eine fundamentale Kritik vor: Der Schüler will Erkenntnis, bekommt jedoch eine deformierte Version davon – eine »teuflische« Parodie auf akademische Lehre.
4. Beginn eines Initiationswegs:
Die Szene fungiert wie ein Initiationsritus: Der Schüler betritt einen neuen Lebensabschnitt und begegnet – ohne es zu wissen – einer dämonischen Instanz. Die Bildungsreise wird hier zur Gefährdung, weil sie nicht durch Selbstkritik, sondern durch Fremdbestimmung geprägt ist. Damit hinterfragt Goethe nicht nur das Subjektverständnis, sondern auch die Möglichkeit einer "wahren" Bildung in einer entzauberten Welt.
5. Spiegelung von Faust selbst:
Der Schüler spiegelt in naiver Form Fausts eigene frühere Phase: Auch Faust war einst ein ehrfürchtiger Studierender, der den Weg der äußeren Wissenschaft gegangen ist und sich nun in existenzieller Krise befindet. Der Schüler ist somit eine Figur der Wiederholung und Warnung – und ein Mahnmal für den Weg, den Faust selbst zu transzendieren versucht.
Fazit
Diese wenigen Verse enthalten bereits das Spannungsverhältnis zwischen Hoffnung und Verblendung, zwischen Wahrheitssuche und Illusion, zwischen Bildung als innerer Entwicklung und Bildung als leeres Ritual. Goethe inszeniert mit subtiler Ironie einen philosophisch tiefgründigen Einstieg in die nachfolgende Szene, die eine bittere Groteske über das Verhältnis von Lehrer und Schüler, Wissen und Macht werden wird.

Mephistopheles.
1872 Eure Höflichkeit erfreut mich sehr!
Mephistopheles beginnt mit einer galanten, höflichen Wendung, wie sie in bürgerlichen Umgangsformen des 18. Jahrhunderts üblich war. Das Pronomen »Eure« zeigt, dass er Wagner mit einer gewissen förmlichen Distanz, aber auch scheinbarem Respekt anspricht. Doch hinter dieser gespielten Höflichkeit steckt Ironie: Mephistopheles ist ein Dämon, der mit Etikette spielt wie mit einem Kostüm. Die Freude ist nicht echt, sondern gespielt – eine höfische Konvention, die Mephisto als Maske nutzt. Schon hier zeigt sich das diabolische Prinzip der Verstellung.

1873 Ihr seht einen Mann wie andre mehr.
Diese Aussage klingt zunächst nach Selbstbescheidung – Mephisto stilisiert sich als gewöhnlicher Mensch, »ein Mann wie andre mehr«. Doch dieser Satz ist doppeldeutig. Einerseits wirkt er wie ein Versuch, nicht weiter aufzufallen, ein Tarnmanöver. Andererseits liegt im Ausdruck »wie andre mehr« eine feine Ironie: Er ist eben nicht wie andere, sondern verkörpert das »Prinzip des Bösen«, das sich hier gerade mit bescheidener Rhetorik verbirgt. In diesem Vers kulminiert Mephistos Kunst der Täuschung: Er gibt sich als einer von vielen aus – doch gerade das ist seine perfideste List. Philosophiegeschichtlich erinnert dies an die sokratische Ironie: Wer vorgibt, nichts zu wissen oder nichts Besonderes zu sein, setzt sich gerade damit in eine überlegene Position.

1874 Habt ihr euch sonst schon umgethan?
Mephistopheles stellt hier eine scheinbar harmlose, beiläufige Frage: »Habt ihr euch umgetan?« – also: Habt ihr euch umgesehen, euch orientiert, Eindrücke gesammelt? Doch auch hier ist die Fragestellung doppelbödig. Im Kontext der Szene – Mephisto war eben noch mit Faust im Gespräch und trifft nun auf Wagner – ist dies auch ein Test. Er versucht, Wagners Geistigkeit und Beweglichkeit auszuloten. Hat Wagner einen Blick für das Ungewöhnliche? Hat er geahnt, was sich eben in Fausts Kammer abspielte? Wahrscheinlich nicht – und genau darin liegt die Pointe: Mephisto weiß, dass Wagner naiv und oberflächlich bleibt. Das Wort »umgethan« kann zudem als ein ironischer Hinweis auf das geistige Umsehen, also auf Bildung und Urteilskraft, gelesen werden – Fähigkeiten, die Wagner nur im pedantischen Sinne besitzt.

Zusammenfassend 1872-1874
In diesen drei scheinbar beiläufigen Versen entfaltet sich ein zentrales Moment der Mephistopheles-Figur und Goethes anthropologischer und erkenntnistheoretischer Fragestellung:
1. Maskenspiel des Bösen:
Mephistopheles erscheint hier als Meister der Verstellung. Seine Höflichkeit, seine Selbstdarstellung als gewöhnlich, seine scheinbar belanglose Frage – all das dient der Täuschung. Das Böse tarnt sich nicht durch Gewalt oder Schrecken, sondern durch Normalität, durch glatte Umgangsformen. Goethe greift hier die Idee auf, dass das Teuflische nicht im »Abnormen« liegt, sondern sich in der bürgerlichen Alltäglichkeit einnisten kann – in Ritualen, Phrasen, Konventionen.
2. Kritik am akademischen Denken:
Indem Mephisto sich Wagner zuwendet, wird dieser im Kontrast zu Faust noch stärker als intellektuell beschränkt, kleinbürgerlich und pedantisch gezeichnet. Die Frage »Habt ihr euch umgethan?« zielt ins Leere: Wagner hat sich nicht umgetan, sondern ist im eigenen Dünkel gefangen. Damit kritisiert Goethe ein Denken, das sich in Begriffen und Formeln verliert, ohne Offenheit für das Unbekannte oder Transzendente.
3. Dialektik von Schein und Sein:
Die Szene entfaltet eine Grundfrage der idealistischen Philosophie: Wie lässt sich Wahrheit von Täuschung unterscheiden? Mephistos ganze Existenz basiert auf dem Spiel mit dem Schein. Wahrheit ist in dieser Welt nicht unmittelbar zugänglich, sondern muss durch kritisches Denken, Erfahrung und innere Unruhe errungen werden – eine Idee, die auch bei Kant oder Hegel grundlegend ist.
4. Ironie als Mittel der Erkenntnis:
Mephistos Ironie ist kein bloßer Stil, sondern Erkenntnismittel. Er entlarvt durch seine gespielte Einfachheit den Geist seiner Umgebung. Sein scheinbar harmloses Auftreten dient dazu, Charaktere zu testen und geistige Schwächen aufzudecken. Damit wird er – trotz aller negativen Konnotation – zu einer Art dialektischem Katalysator, der die geistige Trägheit der Menschen sichtbar macht.

Schüler.
1875 Ich bitt’ euch, nehmt euch meiner an!
Der Schüler tritt dem vermeintlichen Gelehrten mit Ehrfurcht und Demut entgegen. Die Bitte um Betreuung verweist auf die institutionelle Tradition universitärer Lehre, in der der Lehrer als Autorität angesehen wird, der über das Schicksal des Schülers entscheidet. Gleichzeitig klingt ein religiöser Unterton mit: »Sich eines Menschen annehmen« erinnert an christliche Barmherzigkeitsformen. Damit wird Mephistopheles bereits unfreiwillig in eine Rolle projiziert, die er pervertieren wird – der Schüler glaubt, einem helfenden Mentor zu begegnen, doch Mephisto ist in Wahrheit ein zynischer Zerstörer.

1876 Ich komme mit allem guten Muth,
Der Schüler bringt Enthusiasmus und Entschlossenheit mit. »Guter Muth« verweist auf das Ideal des aufgeklärten Lernenden, der zuversichtlich seine akademische Laufbahn beginnt. Es spiegelt den optimistischen Bildungsbegriff der Aufklärung wider: durch Fleiß und Einsicht könne der Mensch sich selbst vervollkommnen. In der Szene wirkt der Satz jedoch fast naiv – Goethe spielt hier mit der Ironie, dass dieser gute Mut auf die Verderbnis trifft, die Mephistopheles in sich trägt.

1877 Leidlichem Geld und frischem Blut;
Diese Zeile ist doppelt bedeutungsvoll: »Leidliches Geld« signalisiert die ökonomischen Grenzen des Schülers, wie bei vielen Studenten jener Zeit – genug, um zu leben, aber nicht im Übermaß. Doch der zweite Teil – »frischem Blut« – eröffnet eine tiefere Dimension: Zum einen ist es die Vitalität der Jugend, der körperlich-energetische Einsatz, der für das Studium bereitgestellt wird. Zum anderen ruft die Wendung düstere Assoziationen wach: Frisches Blut klingt nach Opfergabe, nach vampirischer Verfügbarkeit. In Bezug auf Mephisto, eine diabolische Figur, gewinnt dies besondere Schwere: Das frische Blut wird zur unschuldigen Substanz, die der Teufel für seine Zwecke auszubeuten sucht.

Zusammenfassend 1875-1877
In diesen scheinbar harmlosen Eingangsworten des Schülers verdichtet sich bereits eine tiefgreifende Kritik Goethes an den Institutionen von Bildung, Autorität und der gefährdeten Unschuld der Jugend.
1. Naivität und Vertrauenssehnsucht
Der Schüler bringt sein ganzes Sein vertrauensvoll dar: Mut, Geld, Blut. Die Phrase wirkt beinahe sakramental, als opfere er sich einem höheren Zweck. Dieses Motiv des sich Darbietens wird im Werk mehrfach gebrochen, etwa durch Fausts eigene Erfahrungen mit der Lehre, die ihn nicht erfüllt hat. Der Schüler steht damit auch als Spiegelbild des jungen Faust – bevor dieser sich vom bloßen Wissen abwendet.
2. Verführbarkeit des Unwissenden
Der Schüler glaubt, einem wohlmeinenden Lehrer zu begegnen, erkennt aber nicht, dass dieser die Maske des Wissenden nur trägt. Das verweist auf Goethes Skepsis gegenüber der bloßen Autorität akademischer Lehrer – hier ist es nicht mehr der Idealtypus des platonischen Philosophen, sondern der Possenreißer, Zyniker, ja Teufel, der die Rolle des Lehrers ausfüllt.
3. Bildungsironik
Goethe inszeniert die klassische Bildungssituation – Schüler sucht Lehrer – und zeigt zugleich, wie diese im Kontext von Macht, Unwissen und Illusion korrumpiert werden kann. Bildung wird hier nicht als linearer Aufstieg zur Wahrheit dargestellt, sondern als möglicher Irrweg, in dem gerade die Bereitschaft des Schülers zur Selbsthingabe ihn anfällig macht für Täuschung und Missbrauch.
4. Körper und Geist
Mit »frischem Blut« wird der Körper als Ressource der Bildung angesprochen. Das ist mehr als eine Metapher für Jugend – es zeigt die existentielle Totalität, mit der sich der Mensch dem Streben nach Erkenntnis hingibt. Diese Körperlichkeit kontrastiert mit der oft abstrakten Welt der Bücher, auf die der Schüler noch zusteuert. Das Motiv der Ganzhingabe, körperlich wie seelisch, verweist bereits auf tiefere Gefährdungen, die später Gretchen treffen werden – auch sie gibt sich mit »frischem Blut« hin.
Fazit
Diese drei Verse sind weit mehr als die einfältige Bitte eines Studenten – sie sind eine dramatisch verdichtete Szene der Verführung, in der Goethes kritische Sicht auf Bildungsinstitutionen, auf menschliche Offenheit und auf die Dialektik von Vertrauen und Machtverhältnis zum Ausdruck kommt. Der Schüler steht hier am Beginn eines möglichen Abstiegs, in einem Moment, wo sein Wille zur Formung zugleich seine größte Schwäche ist: Seine Unschuld macht ihn blind für das Spiel, in das er hineingerät.

1878 Meine Mutter wollte mich kaum entfernen;
Der Schüler berichtet hier, dass seine Mutter ihn nur ungern hat fortgehen lassen – wahrscheinlich von zuhause oder aus dem elterlichen Schutz. Das Verb entfernen steht für das räumliche Entferntwerden von der Mutter, aber zugleich auch symbolisch für die Loslösung von der familiären Autorität und Geborgenheit.
Dies lässt sich auch als Hinweis auf eine klassische Bildungsreise deuten: Die Mutter, Sinnbild für das mütterlich Geborgene, für die Welt des Alltags, für Emotion und Schutz, möchte den Sohn nicht in die ungewisse Welt der Gelehrsamkeit, der Rationalität und der Männer entlassen – ein Thema, das Goethe mehrfach behandelt (z. B. in Wilhelm Meisters Lehrjahre).
Philosophisch steht der Satz bereits in Spannung zur kommenden Korruption: Der Schüler bringt einen naiven, ehrlichen Impuls mit – er ist bereit zur Erkenntnis und zum Lernen, aber auch leicht zu beeinflussen.

1879 Möchte gern’ was rechts hieraußen lernen.
Der Schüler erklärt sein Motiv: Er will etwas Rechtes (d. h. etwas Wertvolles, Echtes, vielleicht auch Nützliches) lernen, hieraußen, also in der Welt außerhalb seines bisherigen, häuslichen Lebens.
»Was rechts lernen« hat eine doppelte Bedeutung:
Wörtlich: etwas Ordentliches, Richtiges.
Metaphorisch: das Wahre, die rechte Erkenntnis – was in Goethes Denken eng mit der Suche nach Wahrheit, Geist, Bildung und Humanität zusammenhängt.
Gleichzeitig klingt in »rechts« aber auch das moralisch Gute mit: Der Schüler will sich »recht« bilden, nicht bloß beruflich oder intellektuell, sondern auch ethisch. Das »hieraußen« verweist auf die Universität, aber auch auf die Welt als Erfahrungsraum – er verlässt den schützenden Binnenraum des Hauses, um das Leben zu erlernen.
Goethes Ironie liegt darin, dass der Schüler in genau diesem Moment dem Teufel in die Hände fällt. Seine gute Absicht wird konterkariert durch seine Gutgläubigkeit. Er sucht das »Rechte« – und findet Mephistopheles.

Mephistopheles.
1880 Da seyd ihr eben recht am Ort.
Mephistopheles greift den Begriff »recht« auf – doch nun mit perfider Doppeldeutigkeit. Er spiegelt dem Schüler Bestätigung: Ja, hier an der Universität sei der Ort, um das »Rechte« zu lernen. Doch der Leser weiß: Dies ist eine Lüge.
Der Satz ist ein typischer Mephisto-Satz: scheinbar wohlwollend, in Wahrheit spöttisch und doppeldeutig. Er spielt auf den Ort der »gelehrten Dummheit« an – die Universität, die in Goethes Faust als ein Ort der Pseudoweisheit, der toten Buchgelehrsamkeit, ja, der Irreführung dargestellt wird (vgl. spätere Aussagen über die Fakultäten).
Philosophisch gesehen spricht Mephisto hier Wahrheit und Lüge in einem Atemzug: Ja, hier wird man gebildet – aber nicht im wahren, rechten Sinn. Der Schüler glaubt, die äußere Welt der Institution (Universität) führe zur Wahrheit; Mephisto aber weiß, dass sie ihm nur zum Trug dienen wird.

Zusammenfassend 1878-1880
1. Naive Wahrheitssuche vs. teuflische Verführung:
Der Schüler kommt mit lauteren Motiven: Er will lernen, sich bilden, seinen Horizont erweitern. Doch er trifft nicht auf einen wahren Lehrer, sondern auf Mephistopheles – und wird zum Opfer seiner Ahnungslosigkeit. Goethe zeigt hier die Gefahr der »blinden« Bildungsreise, wenn sie nicht von innerer Reife begleitet ist.
2. Ironie der Institution:
Die Universität, traditionell Ort der Wahrheitssuche, wird hier bereits implizit als korrumpierbar dargestellt. Mephisto sagt doppeldeutig, hier sei man recht am Ort – und offenbart damit die Ambivalenz: Der Ort der Bildung kann auch Ort der Irreführung sein. Das wirft die Frage auf: Was ist eigentlich wahre Bildung?
3. Verlust der inneren Führung:
Der Schüler hat sich von der Mutter – dem Symbol des Natürlichen, Emotionalen, Moralischen – entfernt. Er tritt nun in eine Welt, die ihn formt, aber nicht führt. Ohne eigenes Unterscheidungsvermögen ist er leichte Beute für die Verführung. Bildung ohne Charakterfestigkeit führt zur Irreführung.
4. Sprache als Mittel der Täuschung:
Mephistos Satz ist rhetorisch genial: Er gebraucht das Wort des Schülers (»recht«) und gibt ihm eine neue Bedeutung. Das ist ein Grundzug mephistophelischer Wirkung: Er spricht die Sprache seiner Opfer, um sie in ihrer eigenen Sprache zu täuschen. Philosophiegeschichtlich gesehen ist das eine Kritik an rein formaler Rhetorik, die nicht der Wahrheit dient.

Schüler.
1881 Aufrichtig, möchte schon wieder fort:
Der Schüler äußert hier offen seinen inneren Widerwillen und seine spontane Reaktion auf das eben Erlebte. Das Adverb »aufrichtig« deutet an, dass seine Aussage nicht diplomatisch oder strategisch, sondern ehrlich und direkt gemeint ist – ein Kontrast zu der überfrachteten und manipulativen Sprache Mephistos zuvor. Der Wunsch, »schon wieder fort« zu wollen, verdeutlicht seine Unzufriedenheit mit der akademischen Umgebung, noch ehe er sie überhaupt richtig betreten hat. Diese vorzeitige Enttäuschung steht exemplarisch für Goethes kritische Sicht auf ein Bildungssystem, das junge Menschen eher verwirrt als erleuchtet.

1882 In diesen Mauern, diesen Hallen,
Die Wiederholung in »diesen Mauern, diesen Hallen« verstärkt die Empfindung von Eingeschlossensein. Die Architektur wird hier sinnbildlich für das geistige Klima der Universität: starr, veraltet, hermetisch. Goethe spielt auf die Institution als einen Ort der Beschränkung an, nicht der Befreiung. Der Ausdruck evoziert ein Gefühl der Beklemmung und ist Ausdruck einer Philosophie- und Bildungsfeindlichkeit aus der Perspektive des jugendlichen Schülers. Gleichzeitig spricht daraus der romantische Wunsch nach Lebendigkeit und persönlicher Entfaltung jenseits rigider Institutionen.

1883 Will es mir keineswegs gefallen.
Die Ablehnung wird hier abschließend und entschieden formuliert. Das Pronomen »es« ist bewusst unbestimmt – es meint sowohl die Atmosphäre, den Lehrstil als auch die ideologische Ausrichtung. Das starke Modalwort »keineswegs« schließt jegliche Zustimmung aus. Der Schüler erkennt intuitiv, dass dieser Ort für seine persönliche Entwicklung nicht förderlich ist. Seine Aussage hat etwas Unbewusst-Kritisches: Er erkennt zwar nicht die metaphysische Tragweite dessen, was er ablehnt, aber seine natürliche Abwehrhaltung trifft den Kern des Problems, das Goethe im Bildungswesen diagnostiziert: geistige Erstarrung, bloße Reproduktion, keine echte Erkenntnis.

Zusammenfassend 1881-1883
Diese drei Verse wirken auf den ersten Blick wie eine bloße, spontane Gefühlsäußerung des Schülers, doch sie tragen eine gewichtige philosophische Tiefenschicht, die Goethe in den gesamten Faust eingeschrieben hat:
1. Bildungskritik und Autoritätszweifel:
Der Schüler wendet sich enttäuscht von einem akademischen System ab, das ihm in der Begegnung mit Mephisto (in der Professorenrolle) nicht Erleuchtung, sondern Verwirrung gebracht hat. Er spürt, dass dort nicht Wahrheit, sondern leere Worte und Machtgehabe regieren. Goethe stellt damit die Frage: Was ist wahre Bildung? Wer ist ein echter Lehrer?
2. Subjektive Intuition versus objektives System:
Der Schüler vertraut seinem Gefühl, seiner Intuition – ganz im Sinne der aufkommenden romantischen Philosophie, die dem Subjekt und dem Gefühl Vorrang vor bloßem rationalem Wissen einräumt. Damit steht er in Opposition zur Kantschen Vernunftorientierung und zum Positivismus.
3. Freiheit versus Institution:
Die Mauern und Hallen stehen metaphorisch für das Spannungsverhältnis zwischen individueller Freiheit und institutioneller Ordnung. Der Schüler spürt, dass seine geistige Freiheit in diesem System nicht wachsen kann – eine fundamentale Frage, die auch Rousseau oder später Nietzsche stellen: Wird der Mensch durch Kultur gebildet – oder domestiziert?
4. Verfehlter Bildungsauftrag der Universität:
Die Szene kritisiert subtil, dass die Universität nicht auf das Leben vorbereitet, sondern sich in selbstreferenziellen Diskursen verliert. Diese Klage bleibt aktuell: Ist das Studium Mittel zur Wahrheit oder bloßes Karriereinstrument?
Fazit
In der scheinbar einfachen Klage des Schülers verdichtet Goethe eine radikale Infragestellung des Bildungssystems seiner Zeit. Die Verse transportieren eine tiefe Skepsis gegenüber der akademischen Vermittlung von Wissen, der Rolle des Lehrers und der Lebendigkeit des Geistes. Der Schüler wird zum Sprachrohr einer jungen Generation, die – wenn auch unbewusst – erkennt, dass zwischen formeller Lehre und lebendiger Erkenntnis eine große Kluft klafft. Goethe stellt sich damit auf die Seite eines suchenden Subjekts – und gegen die dogmatische Systembildung des 18. Jahrhunderts.

1884 Es ist ein gar beschränkter Raum,
Dieser Vers bringt sofort eine körperlich-räumliche Enge zum Ausdruck. Der Schüler äußert hier seine erste unmittelbare Empfindung über das Studierzimmer des Gelehrten Faust – und diese ist negativ konnotiert. Die Formulierung »gar beschränkter Raum« wirkt fast enttäuscht oder ernüchtert.
Interpretativ spiegelt dieser Vers nicht nur eine bloß äußerliche Raumbeschreibung, sondern kann als Symbol für den geistigen Zustand Fausts verstanden werden: Der Raum ist »beschränkt«, wie auch Fausts Denken sich im Moment in einer Krise der Begrenztheit befindet. Trotz seines umfassenden Wissens fühlt sich Faust geistig und existenziell eingeschlossen.
Philosophisch können wir diesen Vers im Sinne einer Raumkritik der Gelehrsamkeit lesen. Der »beschränkte Raum« verweist auf den Rückzug des akademischen Wissens in enge, abgeschlossene Räume – ein Sinnbild für die Abkapselung der Bildung vom Leben. In der phänomenologischen Tradition (z. B. bei Heidegger) wäre dies ein Hinweis auf eine Verfehlung des Daseins, das sich in geschlossenen Räumen der Reflexion verliert, ohne sich zur Welt hin zu öffnen.

1885 Man sieht nichts Grünes, keinen Baum,
Hier beklagt der Schüler das Fehlen von Natur, von Lebendigkeit. Die Farbe »Grün« steht traditionell für Wachstum, Leben, Hoffnung, Naturverbundenheit – alles Dinge, die im Raum Fausts fehlen.
Der zweite Vers verstärkt die Aussage des ersten: Nicht nur ist der Raum eng, sondern er ist auch lebensfern. Kein Baum – also kein Kontakt zur äußeren Welt, zur Natur, zum Organischen. Auch dies ist wieder symbolisch zu verstehen: Der Schüler spürt intuitiv, dass der Ort, an dem Faust lebt und wirkt, nicht lebendig ist, dass hier Erkenntnis ohne Beziehung zur Welt gewonnen werden soll – was ihn erschreckt oder enttäuscht.
Philosophisch gesehen berührt dieser Vers tiefgründige Fragen nach der Trennung von Natur und Geist. Die Natur – hier durch »Grünes« und »Baum« repräsentiert – bleibt außen vor. Es ist die alte Trennung von Geist und Welt, Subjekt und Objekt, die sich hier andeutet. Auch Goethes eigene Naturphilosophie lässt sich hier einbringen: Goethe, der stets das Lebendige, die »Urpflanze«, die organische Entwicklung suchte, stellt hier ein Umfeld dar, das diesem Ideal diametral entgegensteht.
Aus Perspektive der Bildungskritik (wie sie später etwa Nietzsche oder Adorno formulierten), lässt sich sagen: Der Schüler erkennt – noch unbewusst – dass Bildung in Isolation, ohne Bezug zur lebendigen Welt, verkrüppelt.

Zusammenfassend 1884-1885
Diese beiden scheinbar schlichten Verse offenbaren eine subtile, aber grundlegende Kritik an der abgeschlossenen Gelehrtenexistenz, wie sie Faust führt. Der Schüler – naiv und jung – bringt das Unbehagen an einer Bildung zum Ausdruck, die sich von Natur, Welt und Leben entfernt hat.
Die Szene spiegelt damit eine zentrale Spannung des Werkes: den Konflikt zwischen Denken und Leben, zwischen Wissenschaft und Natur, zwischen abstrakter Erkenntnis und sinnlicher Erfahrung.
Das Fehlen von »Grünem« und »Baum« ist nicht nur eine Raumbeschreibung, sondern Ausdruck eines metaphysischen Mangels – einer geistigen Wüste inmitten gelehrter Bücher. Hier beginnt bereits der tiefe Zweifel an einer bloß rationalistischen Lebensweise, der Faust im Innersten umtreibt – und der auch den Schüler intuitiv erreicht.
Fazit
Diese Verse markieren die Grenzlinie zwischen zwei Welten – zwischen der Welt des Studierzimmers (Verstand, Isolation, System) und der Welt des Lebendigen (Erfahrung, Natur, Ganzheit). Sie eröffnen damit eine der Grundfragen des gesamten Dramas: Wie kann der Mensch ganz werden, wenn er in einem beschränkten Raum lebt, ohne Baum und ohne Grün?

1886 Und in den Sälen, auf den Bänken,
Dieser Vers spielt auf die typischen universitären Lehranstalten der Zeit an – große, kalte Säle, in denen die Vorlesungen stattfinden, mit fest installierten Bänken, auf denen die Studierenden Platz nehmen. Die formale Atmosphäre wird mit diesen beiden Begriffen greifbar. Das »und« weist darauf hin, dass der Schüler einen Zusammenhang mit vorher Gesagtem sieht – im Gespräch mit Mephistopheles schildert er seine Verwirrung und sein Leiden an der akademischen Welt. Der Ausdruck »auf den Bänken« konkretisiert den Schauplatz des Erlebens: der Ort des Lernens wird zugleich zum Ort der Lähmung.
Es liegt eine gewisse Ironie darin: Der Ort des geistigen Aufbruchs ist hier ein Ort des intellektuellen Stillstands. Die Studierstube, als Symbol für Bildung und Erkenntnis, wird durch diesen Vers entzaubert – sie ist kein Hort des Wissens, sondern ein Raum des Verstummens.

1887 Vergeht mir Hören, Seh’n und Denken.
Diese Wendung ist äußerst eindrucksvoll. Die drei zentralen menschlichen Erkenntnisorgane – das Hören, das Sehen und das Denken – werden als unterdrückt oder aufgelöst beschrieben. Das Verb »vergeht« ist in seiner Bedeutung doppeldeutig: Es kann sowohl heißen, dass die Fähigkeiten verschwinden, als auch, dass sie von einem Übel befallen werden – wie ein körperliches »Vergehen«, ein Verwelken, ein innerer Verfall.
Der Schüler beklagt, dass nicht nur seine Sinne, sondern auch seine geistige Fähigkeit – das Denken – in der akademischen Umgebung abstumpfen. Er kann nicht aufnehmen (Hören), nicht beobachten (Sehen), nicht verarbeiten (Denken). Damit wird seine ganze kognitive Existenz in Frage gestellt.
Goethe bringt hier mit knapper Schärfe ein zentrales Bildungskritik-Motiv zum Ausdruck: Die Universität, eigentlich Ort geistiger Entfaltung, ist zu einem Ort der geistigen Betäubung geworden.

Zusammenfassend 1886-1887
1. Kritik am Bildungssystem:
Goethe stellt eine fundamentale Kritik an der Institution Universität dar, wie sie zur Zeit der Aufklärung und auch noch im Sturm und Drang als autoritär und lebensfern empfunden wurde. Die Erkenntnis wird nicht als lebendige Erfahrung vermittelt, sondern als toter Stoff, der durch monotonen Vortrag (»in den Sälen«) zu Gleichgültigkeit und Abstumpfung führt.
2. Sinneserfahrung und Geist:
Der Mensch als leiblich-geistiges Wesen erkennt durch Sinnesorgane – Hören und Sehen – und durch Denken. Wenn diese drei Fähigkeiten vergehen, wird nicht nur die Bildung, sondern das Menschsein selbst in seiner Tiefe getroffen. Es ist eine existenzielle Aussage: Die Seele leidet in der Institution, in der sie eigentlich genährt werden sollte.
3. Entfremdung:
Der Vers beschreibt einen Zustand der Entfremdung – nicht nur vom Lerninhalt, sondern vom eigenen Selbst. Die Fähigkeit, sich als fühlendes, wahrnehmendes und denkendes Wesen zu erleben, geht verloren. Dies ist fast schon ein vorweggenommener Hinweis auf spätere existentialistische Krisen, wie sie bei Kierkegaard oder Heidegger thematisiert werden.
4. Ironische Brechung durch Mephisto:
Im Kontext des Gesprächs mit Mephistopheles entfaltet sich zusätzlich ein feines Spiel mit Ironie: Mephisto, der den Schein der Welt durchschaut, lässt den Schüler diese Wahrheiten ahnen, nicht aber, um ihn zu befreien, sondern um ihn in eine neue Abhängigkeit zu führen. Der Schüler bemerkt die geistige Ohnmacht, ist aber nicht in der Lage, sich selbst daraus zu befreien – dies bereitet subtil den Kontrast zu Faust vor, der in ähnlicher Lage ist, aber andere Wege geht.
Fazit
Der Zweizeiler zeigt in kondensierter Form, wie Goethe mit größter Präzision das Scheitern akademischer Bildung darstellt: nicht im Wissen liegt die Befreiung, sondern in einer ganzheitlichen Erfahrung, die durch das bloße Sitzen auf den Bänken nicht erreicht wird. Bildung, die nicht lebendig ist, tötet Geist, Sinn und Selbst. Die Verse gehören damit zu den schärfsten kulturkritischen Pointen des ganzen Faust.

Mephistopheles.
1888 Das kommt nur auf Gewohnheit an.
Dieser Satz ist lapidar, fast beiläufig, und doch steckt eine tiefe anthropologische und erkenntnistheoretische Aussage darin. Mephistopheles antwortet hier auf Fausts Unbehagen gegenüber der dämonischen Präsenz – und relativiert es sofort: Alles sei nur eine Frage der Gewöhnung. Die Aussage spielt mit einem zentralen Gedanken der Erfahrungsabhängigkeit des Wahrnehmens und Urteilens. Was anfänglich fremd, abstoßend oder unmoralisch erscheint, kann durch Wiederholung und Routine normalisiert werden. Dahinter steckt eine radikale Infragestellung moralischer oder metaphysischer Konstanten: Für Mephisto gibt es kein ontologisch Gutes oder Böses – alles ist relativ zum Habitus, zur Wiederholung, zur menschlichen Anpassungsfähigkeit. Das erinnert an empiristisch-pragmatische Positionen in der Erkenntnistheorie, aber auch an moralphilosophische Relativismen.

1889 So nimmt ein Kind der Mutter Brust
Mit diesem Gleichnis beginnt Mephisto eine Analogie, um seine vorherige Behauptung zu illustrieren. Das Bild des Säuglings an der Mutterbrust ist zunächst zärtlich und unschuldig – doch genau diese Bildwahl ist hinterhältig. Denn sie führt den Hörer zunächst in Sicherheit: Was könnte natürlicher, richtiger, notwendiger sein als der erste Akt des Lebens, das Trinken an der Brust der Mutter? Mephisto verwendet das Bild, um zu zeigen: Selbst etwas so »Natürliches« wird nicht sofort angenommen. Der Hinweis zielt auf die Formbarkeit und Nicht-Selbstverständlichkeit des Instinkts. Es gibt kein unmittelbares, spontanes Vertrauen, sondern selbst das Urverhältnis von Mutter und Kind ist von Unsicherheit, Zögern und Gewöhnung durchzogen. Die implizite Philosophie ist anti-essentialistisch: Es gibt kein natürlich Gutes, kein ursprünglich Richtiges. Selbst das Grundlegendste, das Lebenserhaltende, muss erlernt werden.

1890 Nicht gleich im Anfang willig an,
Diese Zeile beendet das Bild. Der Säugling, so Mephistopheles, nimmt die Brust nicht sofort »willig« an. Hier wird das Bild der Kindheit gegen die Idee des »natürlichen Anfangs« gewendet. Die Verweigerung des Säuglings ist ein Motiv des Widerstands gegen das Gegebene, das selbst die Urbindung zwischen Mutter und Kind betrifft. In Mephistos Perspektive wird damit auch jede Idee von ursprünglicher Harmonie dekonstruiert. Selbst das Leben selbst (repräsentiert durch die Mutterbrust) wird vom Neugeborenen zunächst abgelehnt. Aus diesem Gedanken lässt sich eine radikale Version des Existenzialismus ableiten: Der Mensch wird in eine Welt geworfen, die nicht seine ist; alles, auch das, was lebenserhaltend und »natürlich« erscheint, ist zunächst fremd, muss erst angeeignet werden.

Zusammenfassend 1888-1890
1. Gewöhnung als Ursprung des Urteils:
Mephisto relativiert alle sittlichen und erkenntnismäßigen Maßstäbe auf das habituelle Verhalten. Was wir als »gut« oder »richtig« empfinden, sei bloß anerzogen oder angewöhnt.
2. Dekonstruktion des Natürlichen:
Das Bild des Säuglings zeigt, dass selbst das »Natürlichste« – die Mutter-Kind-Beziehung – nicht spontan, sondern mit Widerstand beginnt. Dies steht in Kontrast zur idealistischen Vorstellung des organischen Ursprungs oder göttlicher Ordnung.
3. Existenzielle Fremdheit:
Der Mensch erscheint bei Mephisto nicht als harmonisches Wesen im Einklang mit der Natur, sondern als ein Fremdling in einer Welt, die er sich erst durch Anpassung aneignen muss.
4. Moralischer Nihilismus:
Implizit untergräbt Mephistopheles jede Vorstellung eines absoluten moralischen Standards. Die Rede von der Gewohnheit ist nicht bloß psychologisch gemeint, sondern zielt auf die Aushöhlung aller normativen Maßstäbe.
Fazit
Diese wenigen Zeilen offenbaren damit das dämonische Prinzip Mephistos nicht im Sinne einer gewaltsamen Verführung, sondern in einer intellektuell subversiven Infragestellung alles Gegebenen, selbst des heiligsten Ursprungs: der Geburt, der Mutterbindung, der Lebensaufnahme.

1891 Doch bald ernährt es sich mit Lust.
Dieser Vers bezieht sich auf den Geist oder die Seele des Menschen, den Mephistopheles zuvor mit einem Kind verglichen hat, das anfangs widerstrebend an fremden Lehren »saugt«. Die anfängliche Zurückhaltung weicht nun aber der Lust: Der Mensch beginnt, sich mit Freude und Begierde von dem zu nähren, was ihm an Erkenntnis, Wissen oder auch Illusionen angeboten wird. Mephistopheles stellt hier eine naturhafte Entwicklung dar: Was zunächst fremd oder unangenehm wirkt, wird durch Gewöhnung und Begehren angenommen.
Der Begriff »ernähren« evoziert das Bild des Säuglings, das in der vorherigen Zeile schon durch den Ausdruck »Brüsten« vorbereitet wird. Doch steckt darin mehr als ein bloß biologisches Bild – es verweist auf geistige Nahrung, auf intellektuelles oder spirituelles Wachstum, das mit Genuss verbunden ist. Hier offenbart Mephistopheles eine ambivalente Wahrheit: Auch das Streben nach Weisheit ist letztlich ein Ausdruck von Lust – ein Begehren, das nicht rein rational, sondern triebhaft ist.

1892 So wird’s euch an der Weisheit Brüsten
Hier wird das Bild des Säuglings konkretisiert: Der Mensch wird als ein Wesen dargestellt, das sich an den »Brüsten der Weisheit« nährt. Goethes Sprache greift auf eine stark körperliche, fast mütterlich-erotische Metapher zurück, um die Beziehung zwischen dem suchenden Geist und der Erkenntnis zu beschreiben. Der Begriff »Weisheit« steht dabei nicht nur für rationales Wissen, sondern für eine umfassende geistige Nahrung – vielleicht auch für die metaphysische Wahrheit oder das Göttliche.
Die Brust ist dabei ambivalent: Einerseits ein Symbol des Lebensspendenden, Fürsorglichen, anderseits ein Ort der Verführung. Mephistopheles entlarvt das Streben nach Weisheit als eine Form des sinnlichen Begehrens – der Mensch begehrt Wahrheit nicht um ihrer selbst willen, sondern aus Lust, Macht oder Selbststeigerung.

1893 Mit jedem Tage mehr gelüsten.
Das Wort »gelüsten« bringt das zentrale Moment des Begehrens auf den Punkt. Es ist kein nüchternes Interesse, sondern eine stetig wachsende Begierde, die mit jedem Tag zunimmt. Was als anfängliches Zögern begann, ist nun ein wachsendes Verlangen geworden – ein Hunger nach immer mehr. Dieses Bild kann sowohl auf den Erkenntnisdrang des Menschen verweisen als auch auf seine prinzipielle Unersättlichkeit.
Mephistopheles beschreibt hier nicht einfach einen Bildungsweg, sondern eine Dynamik des Begehrens, die – aus seiner Sicht – letztlich verführbar und gefährlich ist. Der Mensch wird nicht zur Weisheit geführt, sondern in eine Spirale des unstillbaren Gelüstes gezogen. In dieser Logik wird auch das Streben nach Höherem – etwa Fausts Suche – als eine Form der Triebstruktur entlarvt.

Zusammenfassend 1891-1893
1. Anthropologische Sicht des Menschen als begehrendes Wesen:
Mephistopheles beschreibt die menschliche Natur als von Begehren durchzogen. Der Mensch strebt nach Erkenntnis nicht aus reinem Willen zur Wahrheit, sondern aus Lust. Der Erkenntnisprozess wird in eine leiblich-sinnliche Metaphorik eingebettet. Die Lust ist die treibende Kraft – nicht Vernunft oder Moral.
2. Subversion des Ideals der Weisheit:
»Weisheit«, die in der Aufklärung als Ziel der Vernunft galt, wird hier mit Brüsten und Lust verbunden. Der Idealismus wird von Mephistopheles unterlaufen. Weisheit ist nicht das Erhabene, sondern ein weiterer Gegenstand des triebhaften Gelüstes. Dadurch wird das humanistische Bildungsziel ironisiert – und vielleicht sogar pervertiert.
3. Kritik der Vernunft und Enthüllung ihrer Triebstruktur:
Die Vorstellung, dass Vernunft und Geist unabhängig vom Körper agieren, wird von Mephistopheles zerstört. Die Trennung von Ratio und Trieb wird aufgehoben. Der Mensch strebt nach Wahrheit, aber auf eine Weise, die Lust und Gier gleicht. Diese Sichtweise erinnert an psychoanalytische Perspektiven avant la lettre, etwa an Freuds »Lustprinzip«, das auch hinter dem Erkenntnisdrang steht.
4. Verführungskraft der Erkenntnis:
Erkenntnis wird nicht als nüchtern, sondern als sinnlich verführerisch dargestellt. Mephistopheles vergleicht sie mit Brüsten – einem Symbol nicht nur der Nahrung, sondern auch der erotischen Anziehung. Daraus spricht ein tiefes Misstrauen gegenüber jeglichem Streben nach Wahrheit: Es ist nie rein, sondern immer interessengeleitet – und somit korrumpierbar.
5. Goethes Ironisierung des Strebens:
Goethe nutzt die Figur des Mephistopheles, um das Streben nach »höherem Sinn« in ein paradoxes Licht zu stellen. Wer nach Weisheit strebt, ist – nach Mephistos Logik – nicht moralisch überlegen, sondern besonders anfällig für Versuchung. Die Lust am Denken wird so zur Falle des Teufels.
Fazit
Die Verse 1891–1893 entfalten in knapper Form ein tiefgründiges Bild des Menschen als triebgesteuertes Wesen, das seine Sehnsucht nach Weisheit mit einer zunehmend sinnlichen Gier verfolgt. Mephistopheles zeigt damit eine dunkle Anthropologie: Der Weg zur Wahrheit führt nicht ins Licht, sondern ist selbst schon von dunklen, unbewussten Kräften durchdrungen. Was Faust für ein Streben nach dem Absoluten hält, ist für Mephistopheles ein Ausdruck bloßen Gelüstes – und damit manipulativ nutzbar.

Schüler.
1894 An ihrem Hals will ich mit Freuden hangen;
Dieser Vers stellt einen Ausdruck leidenschaftlicher Begierde dar. Das Bild des »Halses« ist erotisch konnotiert – der Schüler imaginiert sich bereits in körperlicher Nähe zu einer Frau. Die Formulierung »mit Freuden« signalisiert eine unreflektierte, triebhafte Lust, die keinen Platz mehr für Distanz oder Rationalität lässt. Das Verb »hangen« ist ungewöhnlich gewählt: Es evoziert ein Bild von völliger Hingabe, vielleicht auch Abhängigkeit, und steht damit im Spannungsfeld zwischen Lust und Unterwerfung. Die Formulierung erinnert fast an das Bild des Verliebten, der sich willenlos an das Objekt seiner Begierde klammert – ein Motiv, das in der Liebesdichtung häufig auftaucht, hier aber durch das Kontextgespräch mit Mephistopheles eine satirisch-groteske Wendung erfährt.

1895 Doch sagt mir nur, wie kann ich hingelangen?
Nach dem Ausruf sinnlicher Sehnsucht folgt ein Moment der Unsicherheit – eine Bitte um Anleitung. Der Schüler weiß nicht, wie er zu dieser begehrten Frau, zu diesem Ziel, »hingelangen« soll. Der Ausdruck »hingelangen« ist bewusst vage – er kann sowohl den Weg zur Frau im wörtlichen Sinne als auch den Eintritt in das Reich erotischer Erfahrung meinen. Diese Unklarheit spiegelt die innere Unreife des Schülers: Er begehrt das Ziel, kennt aber weder den Weg noch das Wesen dessen, was er begehrt. In seiner Ahnungslosigkeit ist er vollkommen empfänglich für die Verführung, die Mephistopheles verkörpert. Die höfliche Formulierung »Doch sagt mir nur« kontrastiert mit der Dringlichkeit seines Begehrens und zeigt ein Moment des Respekts gegenüber der Autoritätsfigur – was die Abhängigkeit des Schülers zusätzlich betont.

Zusammenfassend 1894-1895
Die beiden Verse bündeln auf kleinstem Raum ein zentrales Thema der Szene – und des Faust-Dramas überhaupt: die Verführungskraft des Wissens und der Begierde in ihrer leichten Korruptibilität. Der Schüler, der ursprünglich gekommen ist, um sich Rat für seine akademische Laufbahn zu holen, wird von Mephistopheles (als vermeintlich gelehrtem Doktor) schnell in eine andere Richtung gelenkt: weg von rationalem Streben hin zur Sinnlichkeit, zur Sexualität, zur Verlockung des unmittelbaren Genusses.
Goethe kritisiert hier nicht nur die Oberflächlichkeit eines bloß neugierigen Bildungstriebs, sondern zeigt, wie leicht menschliche Bildungsaspiration in bloße Triebhaftigkeit umkippen kann, wenn sie nicht von ethischer Reife begleitet wird. Der Schüler verkörpert die naive Jugend, die von der »Welt« (hier durch Mephisto symbolisiert) auf Abwege geführt werden kann – ein Bild für die Gefährdung des Individuums durch Verlockung und Manipulation.
Gleichzeitig parodiert Goethe den Bildungsweg selbst: Aus der ehrwürdigen Idee der geistigen Formung wird ein erotisches Abenteuer. Der Schüler sucht die Nähe zum Weib nicht aus Liebe, sondern aus Lust. Der Hals der Geliebten wird zur Projektionsfläche unreifer Begierden, die aus Mephistos Pseudolehre erwachsen. So wird der Bildungsgang zur Initiation in die Sinnlichkeit, nicht zur Weisheit – ein bitter-ironischer Kommentar zur akademischen Wirklichkeit.
Im Hintergrund steht dabei auch eine dämonologische Tiefendimension: Mephisto tritt als falscher Lehrer auf, ein Teufel im Talar. Die Szene enthüllt die Verführungskraft eines verfälschten, entgeistigten Wissens, das sich nicht um Wahrheit oder Tugend bemüht, sondern bloß um Verlockung und Macht über den Schwächeren. In diesem Sinn kann der Vers »An ihrem Hals will ich mit Freuden hangen« auch gelesen werden als ein Echo auf den »Faustischen« Trieb: die unstillbare Sehnsucht nach dem Anderen, aber ohne sittliche Durchdringung.
Fazit
Zusammenfassend verdichten sich in diesen zwei Versen zentrale Motive des Faust:
die Verführbarkeit des Menschen
• das Spannungsverhältnis zwischen Trieb und Vernunft
• das Scheitern echter Bildung an oberflächlicher Begierde
• der dämonische Einfluss auf das Streben nach Erkenntnis

Mephistopheles.
1896 Erklärt euch, eh’ ihr weiter geht,
Dieser Vers stellt eine direkte Aufforderung Mephistopheles’ an den Studenten dar, sich zu »erklären«, also seine Absichten offenzulegen, bevor er seinen Bildungsweg fortsetzt. Das »eh’« (Verkürzung von »ehe«) bedeutet »bevor« und verweist auf eine Schwelle, die überschritten werden soll. Semantisch markiert Mephisto hier eine entscheidende Weggabelung: Noch bevor der Student sich auf eine akademische Richtung festlegt, soll er sich über seine Motive, Ziele und vielleicht auch über seine persönliche Haltung klar werden.
Die Aufforderung ist ambivalent: Einerseits kann sie als pädagogisch verstanden werden – eine ernste Einladung zur Selbstreflexion. Andererseits wirkt sie im Kontext von Mephistos Rolle als ironischer Verführer und Zyniker manipulativ. Mephistopheles ist kein ernsthafter Mentor, sondern benutzt die Sprache der Aufklärung, um sie zu unterlaufen. Der Schein der Wahlfreiheit wird aufrechterhalten, obwohl Mephisto im weiteren Verlauf des Dialogs jede Fakultät auf ihre Hohlheit reduziert.

1897 Was wählt ihr für eine Facultät?
Diese Frage knüpft direkt an die vorherige Aufforderung an und thematisiert die Wahl der Studienrichtung – ein zentrales Thema in der Welt des akademischen Lebens. Die »Facultät« steht hier nicht nur für ein bestimmtes Fachgebiet (wie Theologie, Jurisprudenz, Medizin, Philosophie), sondern auch symbolisch für Lebenswege, Weltdeutungen, Denkstile.
Indem Mephisto die Wahl stellt, inszeniert er sich als ein Vermittler von Orientierung. Doch im weiteren Verlauf des Gesprächs zeigt sich, dass er jede Fakultät auf spöttische Weise relativiert und den studentischen Idealismus in Lächerlichkeit zieht. Die vermeintliche Freiheit der Wahl erscheint damit wie eine Farce. So stellt dieser Vers eine Illusion von Autonomie dar, die sogleich durch Ironie entlarvt wird.
Auch der Ausdruck »was wählt ihr« in der höflichen Form trägt eine doppelte Schicht: Er spiegelt das höfische Zeremoniell universitärer Etikette wider, aber unter der Maske der Höflichkeit lauert die Zersetzung jeglicher Ernsthaftigkeit.

Zusammenfassend 1896-1897
1. Illusion von Wahlfreiheit
Mephistopheles gibt dem Studenten die Illusion, eine freie Wahl zu treffen. Diese scheinbare Selbstbestimmung ist jedoch eingebettet in eine Welt, die Mephisto beherrscht – eine Welt, in der jede Fakultät und jede Wahrheit bereits als leer, ideologisch oder selbstwidersprüchlich entwertet ist. Der Student glaubt, frei zu wählen; in Wirklichkeit wird er in eine bereits vorgeformte Bahn gelenkt. Dies verweist auf Goethes Skepsis gegenüber einem bloßen Rationalismus oder einem Bildungssystem, das nur äußerlich pluralistisch ist, innerlich aber leer oder korrumpiert.
2. Kritik der Aufklärung
Die Szene spielt mit den Idealen der Aufklärung: Selbstbestimmung, Bildung, rationale Wahl. Doch Mephistopheles pervertiert diese Ideale. Er stellt sie zur Schau, nur um ihre Nichtigkeit zu enthüllen. Damit wird eine tiefe Kritik an einem Bildungsverständnis laut, das Wissen ohne Weisheit, Wahl ohne Verantwortung, und Freiheit ohne Orientierung ermöglicht.
3. Satire auf die Universität
Die Frage nach der Fakultät verweist auf das spätaufklärerische Bildungssystem. Jede Fakultät verkörpert eine bestimmte Weltsicht – Theologie den Glauben, Jurisprudenz die Ordnung, Medizin den Körper, Philosophie den Geist. Mephisto, als ironischer Teufel, stellt alle diese Fakultäten gleichsam zur Disposition, nur um sie gleich im Weiteren zu zersetzen. Damit wird der Universität als Institution – und damit der modernen Wissensgesellschaft – das Fundament entzogen.
4. Metaphysische Orientierungslosigkeit
Der Dialog öffnet sich in Richtung einer existenziellen Leere. Wenn alle Fakultäten inhaltslos sind, bleibt die Frage: Was soll man überhaupt studieren? Oder noch tiefer: Was soll man überhaupt glauben? Wohin soll man sein Leben richten? Diese Leere wird nicht explizit beantwortet, sondern bleibt als Unruhe im Hintergrund bestehen – ein typisches Element Goethescher Dialektik.
Fazit
Die Verse 1896–1897 inszenieren die Wahl einer Fakultät als Scheingeste von Autonomie in einer Welt, in der alle Inhalte durch Zynismus und Ironie entwertet sind. Mephistopheles fungiert als listiger Dekonstrukteur – scheinbar beratend, in Wahrheit jedoch unterminierend. Auf philosophischer Ebene stehen die Verse im Zeichen einer tiefgreifenden Kritik an Rationalismus, Bildungsillusionen und metaphysischer Haltlosigkeit. Inmitten von Optionen bleibt der Mensch – wie Faust – ein Suchender, dessen Freiheit zugleich Möglichkeit und Gefahr ist.

Schüler.
1898 Ich wünschte recht gelehrt zu werden,
Der Schüler formuliert einen Wunsch, keine Forderung. Das Modalverb »wünschte« drückt demütiges Begehren aus – es geht ihm nicht bloß um Information, sondern um recht Gelehrtheit, also um eine vollständige, wahre, gereifte Form von Wissen. Das Adverb »recht« ist dabei ambivalent: es kann »richtig«, »umfassend«, aber auch »ehrlich« bedeuten. Im Hintergrund steht das Ideal der Bildung als innerliche Vervollkommnung.
Zugleich zeigt sich in der Formulierung eine gewisse Naivität: Das »Gelehrtsein« erscheint dem Schüler als etwas, das man »erwerben« oder »vermitteln« könne – er reflektiert nicht, dass wahre Erkenntnis ein existenzieller, auch schmerzhafter Prozess ist (wie Faust selbst ihn erlebt).

1899 Und möchte gern, was auf der Erden
Dieser Vers beginnt die Aufzählung des Erkenntnisobjekts. Die Formulierung »was auf der Erden« ist weit gefasst – sie umfasst nicht nur konkrete Dinge, sondern alles, was auf Erden existiert: Natur, Gesellschaft, Geschichte, Kultur, Leid, Liebe.
Das Wort »gern« signalisiert wiederum das Begehren, aber auch ein gewisses Unverständnis gegenüber der Tiefe dessen, was er begehrt. In dieser Formulierung schwingt kindliche Begeisterung mit – das Staunen des Neulings.

1900 Und in dem Himmel ist, erfassen,
Die Erweiterung vom Irdischen zum Himmlischen offenbart eine metaphysische Dimension. Das »Erfassen« des Himmels ist ein zutiefst theologischer, mystischer Impuls: Erkenntnis soll nicht bei sinnlich Erfahrbarem haltmachen, sondern bis zum Transzendenten vordringen.
Allerdings verrät das Wort »erfassen« (anders als z.B. »erleben« oder »begreifen«) einen rationalistischen Erkenntniszugang. Das Göttliche wird nicht als Mysterium gedacht, sondern als Objekt, das kognitiv zu durchdringen sei. Damit steht der Schüler im Spannungsfeld zwischen Aufklärung und religiösem Empfinden – ohne sich dessen bewusst zu sein.

1901 Die Wissenschaft und die Natur.
Der abschließende Vers kondensiert das Begehren des Schülers in zwei großen Begriffen: Wissenschaft und Natur. Diese stehen in Goethes Zeit im Zentrum philosophischer Debatten. Wissenschaft soll nach aufklärerischem Verständnis die Natur erkennen, erklären, beherrschen.
Goethes eigenes Verhältnis dazu war ambivalent: Er war zwar ein Naturforscher, aber zugleich Kritiker eines rein analytischen, mechanistischen Zugangs. In dieser Formel des Schülers spiegeln sich beide Dimensionen: das Ideal der rationalen Durchdringung und das Streben nach Harmonie mit der Natur – letzteres im Goetheschen Sinne als lebendiger, organischer Zusammenhang.

Zusammenfassend 1898-1901
1. Naiver Rationalismus vs. existenzielle Erkenntnis
Der Schüler glaubt, man könne durch Fleiß und Lehre alles erfassen, was es gibt – von der Erde bis zum Himmel. Damit steht er in scharfem Kontrast zu Faust, der trotz höchsten Wissens verzweifelt und erkennt, dass wahre Erkenntnis nicht nur intellektuell, sondern auch existenziell, sinnlich und spirituell erfahren werden muss. Hier zeigt sich Goethes Kritik an einer bloß rationalistisch-akademischen Bildung.
2. Das Ganze des Wissens
Der Schüler will alles wissen – Erde wie Himmel, Wissenschaft wie Natur. In diesem Allwissenheitsdrang schwingt sowohl das Renaissance-Ideal des uomo universale mit als auch eine hybrisartige Selbstüberschätzung. Er will das Ganze, ohne den Preis zu kennen, den Faust zahlt, um sich dem Ganzen zu nähern.
3. Spiegelung des jungen Faust
Der Schüler erscheint wie ein Spiegelbild des jungen Faust – vor dem Zusammenbruch, vor dem Zweifel, vor dem Teufelspakt. Insofern könnte man sagen, der Schüler ist das unverdorbene Potenzial, das Faust einst war. Der Kontrast zwischen ihnen betont den inneren Bruch des Gelehrten mit seinen eigenen Ursprüngen.
4. Wissenschaft als ideologische Verheißung
Im Kontext der Szene (Mephisto als »Dr. Faust«) wird das Bildungsstreben des Schülers zur Karikatur – es ist manipulierbar, formbar, ausnutzbar. Die Wissenschaft, die er sucht, wird ihm (gleich im Anschluss) entwertet und als leerer Formalismus dargestellt. Goethe spielt hier auf die Gefahr an, dass Wissenschaft ohne Ethik zur bloßen Technokratie wird.
Fazit
Diese wenigen Verse sind nicht nur eine Satire auf den unreflektierten Bildungseifer der Zeit, sondern auch ein tiefes Nachdenken über das Wesen von Erkenntnis, den Wert von Wissenschaft und die Grenzen des menschlichen Verstehens. Sie stehen am Anfang einer dramatischen Entwicklung, in der klar wird: Wissen allein macht nicht weise – im Gegenteil, es kann zur existenziellen Krise führen.

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