Faust.
Der Tragödie erster Theil
Johann Wolfgang von Goethe
Studirzimmer II. (6)
Mephistopheles.
1734 Wie magst du deine Rednerey
In diesem Vers äußert Mephistopheles Verwunderung über Fausts Rhetorik. Das Wort »Rednerey« – eine altertümliche Form für Redekunst oder Redeschwall – ist doppeldeutig: Es bezeichnet sowohl die Fähigkeit zur Rede (also Rhetorik im edlen Sinn), als auch abwertend ein bloßes leeres Gerede oder ein Schwadronieren. Mephistopheles nutzt diesen Begriff spöttisch und ironisch. Er stellt Fausts Wortgewalt infrage, weniger inhaltlich als emotional: »Wie magst du« legt nahe, dass er sich nicht nur wundert, sondern moralisch oder ästhetisch die Art der Rede ablehnt.
Die Frage »Wie magst du« ist kein bloßes Staunen, sondern impliziert: Warum willst du das tun? Was reizt dich dazu? Mephistopheles tritt hier als Korrektiv auf, als einer, der Maß und Form verteidigt – zumindest rhetorisch. Das ist paradox, da er selbst Inkarnation der Maßlosigkeit und Ironie ist.
1735 Nur gleich so hitzig übertreiben?
Die Fortsetzung vertieft die Kritik an Fausts Temperament. Die Adverbien »nur gleich so« deuten auf eine übereilte, impulsive Reaktion hin, die für Mephistopheles unangebracht ist. Er tadelt Fausts Leidenschaftlichkeit mit dem Ausdruck »hitzig übertreiben«, wobei hitzig auf emotionale Aufwallung und übertreiben auf Maßlosigkeit verweist. Es geht ihm weniger um den Inhalt als um die Form: Der Dämon fordert Kontrolle, Zurückhaltung, »kalte« Vernunft.
Diese Ironie ist zentral: Ausgerechnet Mephistopheles, der Verführer zur Grenzüberschreitung, stellt sich hier als Anwalt der Mäßigung dar – ein rhetorisches Spiel, das seine sophistischen Züge enthüllt. Er spiegelt Faust, karikiert ihn zugleich und stellt seine innerliche Unruhe bloß.
Zusammenfassend 1734-1735
In diesen beiden scheinbar beiläufigen Versen verdichtet sich eine zentrale Spannung des »Faust«:
1. Maß versus Maßlosigkeit:
Mephistopheles kritisiert Faust für sein Übermaß, das in der ganzen Szene sichtbar wird – seine Ungeduld, seine Unzufriedenheit, seine philosophische Verzweiflung. Dabei spielt er selbst mit der Idee des Maßes, obwohl er dieses Maß letztlich immer unterwandert. Das erinnert an klassische antike Konzepte (Sophrosyne bei Platon/Aristoteles: Mäßigung) und deren Verkehrung in der Moderne.
2. Vernunft versus Leidenschaft:
Fausts leidenschaftliche Existenzweise steht im Kontrast zur kühlen Ironie Mephistopheles’. Der Teufel tritt hier als Anwalt der Rationalität auf, aber in Wahrheit ist es eine Perversion der Vernunft: Sie wird zur instrumentellen Ironie, zur Strategie der Entwertung, nicht zur Wahrheitssuche.
3. Dialektik von Freiheit und Kontrolle:
Faust strebt nach Entgrenzung, Mephistopheles bietet ihm die Möglichkeit – und zugleich stellt er Grenzen auf, indem er die Form reguliert, Sprache zügelt, Maß einfordert. In dieser Spannung liegt eine Dialektik der modernen Freiheit: Der Freiheitsdrang gerät in Gefahr, sich selbst zu überhitzen, und wird ironisch von seinem eigenen Gegenspieler zur Ordnung gerufen.
4. Sprache als Spiegel innerer Zustände:
Mephistopheles’ Kritik betrifft nicht die Weltanschauung Fausts, sondern den Ausdruck. Die Sprache ist der Ort, an dem sich das Seelenklima offenbart – »Rednerey«, »hitzig«, »übertreiben« zeigen: Faust ist nicht im Gleichgewicht. Goethe inszeniert hier die Sprache als diagnostisches Instrument der Seele.
Fazit
Diese beiden Verse sind mehr als bloßer Spott – sie sind ein Spiegel der zentralen faustischen Problematik: Der leidenschaftlich suchende Mensch wird vom ironisch-distanzierenden Geist zur Ordnung gerufen. Dabei zeigt sich: Mephistopheles ist kein bloßer Verführer zum Bösen, sondern ein dialektischer Spiegel, der Faust mit den Schattenseiten seines Strebens konfrontiert – rhetorisch, psychologisch und philosophisch.
1736 Ist doch ein jedes Blättchen gut.
Dieser Vers wirkt zunächst harmlos und alltäglich – eine Redensart, die suggeriert, dass jedes Stück Papier, selbst das unscheinbarste »Blättchen«, für einen Vertrag oder eine Vereinbarung gut sei. Doch aus Mephistopheles’ Mund erhält der Satz eine doppelte Bedeutung:
1. Ironie und Herabwürdigung:
Mephistopheles reduziert den teuflischen Pakt auf einen bloßen bürokratischen Akt. Das »Blättchen« steht dabei im Kontrast zur metaphysischen Schwere der Szene. Was hier abgeschlossen wird, ist nichts Geringeres als ein Bund zwischen Mensch und Teufel, doch Mephisto macht es klein und trivial.
2. Kritik an juristischer und theologischer Formalität:
Indem Mephistopheles den Vertrag auf ein »Blättchen« reduziert, verspottet er die Vorstellung, dass tiefe spirituelle Bindungen durch äußere, materielle Akte (Papier, Schrift, Unterschrift) rechtskräftig oder verbindlich werden können. Dies erinnert an seine frühere Kritik an der Gelehrsamkeit und Buchgläubigkeit, etwa im Prolog im Himmel oder in seiner Diskussion mit dem Schüler.
3. Anspielung auf die Macht des Wortes:
Gleichzeitig wird hier subtil auf die Macht des Schriftlichen angespielt. Das unscheinbare »Blättchen« wird zum Ort einer existenziellen Wende – eine Warnung vor der scheinbaren Banalität des Bösen.
1737 Du unterzeichnest dich mit einem Tröpfchen Blut.
Dieser Vers bringt den entscheidenden Akt der Teufelsbindung auf den Punkt. Der Ausdruck »ein Tröpfchen Blut« klingt wieder verharmlosend, fast sanft. Doch gerade diese Verharmlosung verstärkt den dämonischen Zynismus:
1. Symbolik des Blutes: Blut steht traditionell für Leben, Identität, Schuld, Opfer und Bund. In der biblischen Tradition ist das Blut Ausdruck des Lebens (vgl. Levitikus 17,11), in der christlichen Theologie Symbol des neuen Bundes durch Christi Blut. Mephistopheles pervertiert diese Symbolik ins Diabolische: Der Bund, der hier geschlossen wird, ist nicht auf Erlösung, sondern auf Verdammnis gerichtet.
2. Bindung durch das Ich selbst: »Du unterzeichnest dich« – Faust gibt nicht nur sein Einverständnis, er bindet seine eigene Person, sein Ich, durch das Lebenssymbol schlechthin. Es ist kein mechanischer Vertragsabschluss, sondern eine existentielle Selbstverpflichtung.
3. Philosophische Tiefendimension – die Selbstentäußerung: Faust opfert symbolisch sein Selbst an eine Macht, die außerhalb des Vernunftbereichs liegt. Der Pakt ist nicht rational gerechtfertigt, sondern Ausdruck einer verzweifelten Existenzsuche. Blut als Medium macht aus einem juristischen Vertrag ein spirituell-metaphysisches Ereignis. Es ist eine Umkehr des sakramentalen Gedankens: Nicht Gott heiligt durch das Blut, sondern der Teufel nimmt durch es Besitz.
Zusammenfassend 1736-1737
Existenzielle Selbstpreisgabe:
Faust unterzeichnet nicht bloß einen Vertrag – er gibt sein Selbst preis, seine Subjektivität, seine Autonomie. Der Einsatz ist nicht äußerlich, sondern innerlich: das Blut als Inbegriff des Lebens.
Zynismus der modernen Welt:
Mephistopheles bringt durch Ironisierung (»Blättchen«, »Tröpfchen«) eine Kritik an der modernen Rationalität und ihrem Umgang mit Sinnfragen: Tiefe wird zur Oberfläche, Schwere zur Leichtigkeit – eine Art nihilistischer Perspektive auf Wahrheit und Bindung.
Umkehr des Heiligen:
Blut, das im religiösen Kontext heilig ist (Opfer, Eucharistie), wird hier zum Medium eines teuflischen Bundes. Goethe spielt mit der Parodie religiöser Rituale – eine theologische Tiefenumkehrung.
Schrift und Geist:
Die Szene stellt die Frage nach der Gültigkeit und dem Ursprung von Verbindlichkeit. Ist es die Schrift, das Papier, das Blut, das Wort – oder etwas Tieferes? Mephistopheles lässt offen, ob der Vertrag wirklich bindend ist – was auf das fortlaufende Thema der Ambivalenz des Bösen verweist.
Fazit
Diese beiden Verse wirken schlicht, doch sie kondensieren ein ganzes philosophisch-theologisches Weltbild: Die Leichtigkeit der Form kontrastiert mit der Schwere des Inhalts. Fausts Weg überschreitet hier symbolisch die Schwelle von menschlicher Vernunft zu dämonischer Transzendenz – getrieben von der Gier nach Sinn, selbst um den Preis der eigenen Seele.
Faust.
1738 Wenn dieß dir völlig G’nüge thut,
Faust spricht hier in herausforderndem, beinahe spöttischem Ton. Das »dir« richtet sich im Kontext an Mephistopheles oder an eine von Faust gedachte höhere Instanz, möglicherweise auch ironisch an sich selbst. »Wenn dies dir genügt« – das »dies« bezieht sich auf die äußere Erscheinung, das Triviale, das bloß Vordergründige: vermutlich auf Mephistos harmlose Bürgergestalt oder auf die bloße Fassade der Welt.
Das Wort »G’nüge« (verkürzt für »Genüge«) verweist auf ein zentrales Thema des Faust: die Frage nach echter, existentieller Sättigung, nach der »Genüge« des Daseins. Faust selbst findet eben diese nie – er sucht das Absolute, das Totale, das Wahre hinter allen Schleiern. Diese Zeile ist also auch Ausdruck von Fausts tiefer Unzufriedenheit mit allem bloß Scheinbaren, allem, was sich zufrieden gibt mit dem Konventionellen, dem bürgerlich-akzeptierten Zustand der Dinge.
1739 So mag es bey der Fratze bleiben.
»Fratze« ist ein starker Begriff: ein entstelltes, verzerrtes Gesicht, oft auch ein dämonisches, eine Maskerade, ein Zerrbild. Der Ausdruck bedeutet: »Wenn dir das genügt – die äußere Erscheinung, die Maske, das Trugbild – dann bleib bei ihr.« In dieser Zeile artikuliert Faust seine radikale Ablehnung aller bloßen Erscheinung, aller konventionellen Oberflächen. Er verlangt nach dem Wesen, dem Innersten – nicht nach einer Karikatur der Wahrheit.
Gleichzeitig ist »Fratze« auch ein Kommentar zur Inkarnation Mephistos in der Szene. Dessen menschlich-harmloses Auftreten als wandernder Gelehrter ist für Faust nur ein Zerrbild der metaphysischen Macht, die er eigentlich sucht. Mephistopheles zeigt sich als Spötter – Faust aber will den Kern, das göttlich-innerste Prinzip.
Zusammenfassend 1738-1739
Diese zwei kurzen Verse enthalten zentrale Spannungsmomente der faustischen Existenz:
1. Ablehnung des Scheins
Faust verweigert sich dem, was nur als Oberfläche erscheint. Die »Fratze« steht exemplarisch für eine Welt, die nicht mehr Ausdruck einer göttlichen Wahrheit, sondern bloß Maske, Spiel und Verzerrung ist – eine Vision, die stark an Platons Ideenlehre erinnert, in der das Sichtbare nur Abglanz des eigentlichen Seins ist.
2. Kritik an der bürgerlichen Weltauffassung
Wer sich mit der »Fratze« begnügt, lebt im Selbstbetrug – sei es der gelehrte Stand, sei es das religiöse Dogma oder auch das romantische Weltbild. Faust will diese Welt nicht affirmieren, sondern transzendieren.
3. Metaphysischer Ernst und Nihilismusgefahr
Zwischen den Zeilen lauert auch die Gefahr: Wer das Ganze, das Absolute sucht und dabei jede Erscheinung als »Fratze« abtut, kann in die Leere, in Verzweiflung oder Zynismus fallen. Die Ablehnung der Fratze ist auch eine existenzielle Entscheidung gegen das Gegebene – und somit der Schritt auf den gefährlichen Weg der »faustischen Verneinung«.
4. Das Streben nach dem Innersten
Fausts Suche ist spirituell, wenn auch auf eigenwillige Weise. Die Verachtung des Trugbilds ist ein Ruf nach dem Numinosen, nach einer Wahrheit jenseits des Weltbilds der Aufklärung und der Religion. Damit steht er in der Linie mystischer Traditionen – doch ohne deren Vertrauen in göttliche Gnade.
Fazit
Diese beiden Verse markieren einen Augenblick der Entscheidung: Faust wendet sich ab von allem, was sich mit Schein begnügt – und öffnet sich damit der Macht des Mephistopheles, der diese Haltung zwar spiegelt, aber zu anderen Zwecken instrumentalisiert. Die Fratze bleibt – doch Faust will hinter sie blicken, auch wenn ihn das den Preis der Seele kosten mag.
Mephistopheles.
1740 Blut ist ein ganz besondrer Saft.
Dieser kurze, prägnante Satz besitzt eine immense metaphorische Tiefe. Blut, im Kontext des Paktes, ist das Medium der Unterschrift: Faust unterzeichnet mit Blut. Dies verweist zunächst auf juristische und dämonologische Vorstellungen, nach denen ein Pakt mit dem Teufel durch das eigene Blut bekräftigt werden muss – ein Element, das Goethe aus der Tradition der Faust-Sage übernimmt.
Doch Mephistopheles’ Aussage geht über ein rein okkultes Ritual hinaus. Sie ist ein ironisch-dämonischer Kommentar zur existenziellen Bedeutsamkeit des Blutes. Blut ist Leben, wie es in zahllosen theologischen und naturphilosophischen Diskursen gedacht wurde – von der Bibel (»Das Leben ist im Blut«, Levitikus 17,11) über mittelalterliche Medizin bis zur Romantik. Dass Faust mit seinem eigenen Lebenssaft unterschreibt, symbolisiert somit eine existenzielle Bindung: Er gibt sein Innerstes preis, sichert mit seiner Lebenssubstanz die Gültigkeit des Pakts.
Zugleich steckt in Mephistos lakonischem Ausspruch eine untergründige Ironie: Das »ganz besondre« am Blut ist aus seiner Perspektive eben nicht die Heiligkeit oder Lebenskraft, sondern seine instrumentelle Verwertbarkeit im Dienste einer höhnischen Transaktion. Die Substanz des Lebens wird zur Tinte eines teuflischen Vertrags degradiert. Dies entlarvt auch Mephistos materialistische Sichtweise: Blut ist für ihn ein »Saft« – nicht sakral, nicht metaphysisch, sondern physisch-chemisch, fast trivial.
Faust.
1741 Nur keine Furcht, daß ich dieß Bündniß breche!
Faust reagiert auf den abgeschlossenen Vertrag mit einer selbstgewissen Bekräftigung: Er wird das Bündnis nicht brechen. Die Aussage zeugt von einer Mischung aus Entschlossenheit, Verzweiflung und innerem Trotz. Faust, der sich selbst als Suchender und Zweifelnden kennzeichnet, scheint hier plötzlich gewiss – ein Paradox, das seine Tragik vertieft. Denn seine Zuversicht gründet sich auf ein Missverständnis über den Charakter des Pakts.
Faust glaubt, durch den Bund mit Mephisto die Tiefe des Lebens erfahren zu können. Sein Schwur ist daher Ausdruck einer hybris: Er ist so überzeugt von seinem unstillbaren Erkenntnisdrang, dass er sich nicht vorstellen kann, je an einen Punkt der Selbstzufriedenheit oder Verführung zu gelangen, der ihn den »Werd’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön!«–Moment sagen ließe (vgl. V. 1700).
Die vermeintliche Sicherheit, mit der Faust das Bündnis nicht brechen will, steht jedoch im Kontrast zur späteren dramatischen Entwicklung – etwa zur Gretchen-Tragödie oder Fausts fortschreitender innerer Zerrissenheit. Goethes Tragik liegt darin, dass Faust, gerade weil er das Bündnis aufrichtig meint, in den Fall gerät.
Zusammenfassend 1740-1741
1. Materialismus vs. Spiritualität:
Mephistos Bemerkung zum Blut als »Saft« ist Ausdruck seiner materialistisch-aufklärerischen Haltung, wie sie auch im 18. Jahrhundert etwa bei La Mettrie oder Holbach formuliert wurde. Der Mensch ist kein beseeltes Wesen, sondern eine Maschine, Blut ist keine sakrale Substanz, sondern nur ein Fluid. Diese Haltung steht im Gegensatz zu Fausts metaphysischem Weltverlangen.
2. Vertrag und Bindung:
Die Idee, durch einen schriftlichen Pakt (noch dazu mit Blut) eine metaphysische Realität zu sichern, verweist auf Fragen der Willensfreiheit und Selbstverpflichtung. Faust gibt sich dem Teufel hin, aber in der Annahme, über sich selbst souverän zu bleiben. Das ist die tragische Illusion eines modernen Subjekts.
3. Heiligkeit des Lebens:
Die Verflüssigung des »Ich« im Blut verweist auf ein existenzielles Opfer. Faust gibt sich hin – aber nicht aus Liebe oder Glauben, sondern aus der Hoffnung auf Grenzüberschreitung. Das Blut wird so zum Symbol einer säkularisierten Passion: kein Märtyrertum, sondern ein Akt der Selbstüberschreitung ohne Transzendenzgarantie.
4. Ironie des Bösen:
Mephistos Satz ist ein Meisterstück diabolischer Ironie: Er erkennt den existenziellen Ernst der Szene, macht sich diesen aber zynisch zunutze. Er reduziert das Sakrale auf das Stoffliche. Seine Redeweise ist dabei lapidar, schnörkellos, bewusst nüchtern – und darin umso wirksamer.
5. Vorgriff auf den Verlust:
Fausts Versicherungen, das Bündnis nie zu brechen, lassen sich auch als tragischer Vorgriff auf die künftige Erschütterung lesen. Die Gewissheit in seiner Stimme täuscht über die inneren Brüche hinweg, die sich im Verlauf des Dramas auftun werden. Der Mensch kann sich selbst nicht garantieren – das ist eine der zentralen Thesen des gesamten Faust-Dramas.
Fazit
Diese beiden Verse bündeln auf engem Raum zentrale Motive der Faust-Dichtung: das Ringen um metaphysische Geltung, das Spiel mit Ironie und Hybris, sowie die existenzielle Wucht des Paktes. Goethe verknüpft hier tiefste philosophische Fragen mit dramatischer Ökonomie – zwei Stimmen, zwei Verse, ein ganzer Abgrund.
1742 Das Streben meiner ganzen Kraft
In diesem Vers verdichtet sich Fausts Lebenshaltung und sein innerstes Ethos. Das Wort Streben ist im gesamten Werk zentral. Es steht für jene dynamische Bewegung des Geistes, die sich nie mit einem Zustand zufrieden gibt, sondern immer das »Mehr«, das »Höhere« sucht. Hier ist nicht bloß ein Streben im banalen Sinn von Ehrgeiz gemeint, sondern ein existenzielles, metaphysisches Streben: ein Drang nach Totalität, nach Erkenntnis, nach Durchdringung des Weltgeheimnisses.
Dass Faust von seiner »ganzen Kraft« spricht, hebt hervor, dass dieses Streben keine halbherzige Unternehmung ist. Es beansprucht seine gesamte Existenz, alle Ressourcen seiner Persönlichkeit. Geist, Wille, Leidenschaft – alles wird auf diesen einen Vektor hin ausgerichtet. Damit hebt sich Faust radikal vom gewöhnlichen Menschenbild ab, das Goethe in anderen Figuren oft darstellt (etwa Wagner), die sich mit begrenztem Wissen oder bloßer gesellschaftlicher Anerkennung begnügen.
1743 Ist g’rade das was ich verspreche.
Mit dieser Feststellung geht Faust auf Mephistopheles' Aufforderung ein, ein Bündnis einzugehen. Was er »verspricht«, ist gerade dieses Streben, nicht einen fixen Erfolg, kein konkretes Ziel. Das hat entscheidende philosophische Implikationen: Faust bindet sich nicht an ein Ergebnis (Erkenntnis, Genuss, Macht etc.), sondern an den Prozess selbst. Dies lässt sich auch als existentialistische Position deuten: Der Mensch erfüllt sein Wesen nicht durch Erreichen, sondern durch unaufhörliches Bemühen – selbst wenn dieses ins Leere oder Scheitern führt.
Zudem steht hinter dieser Wendung eine Art Paradoxon: Das Streben, das niemals zur Ruhe kommt, ist zugleich das, was fest versprochen wird. Es handelt sich also um ein Versprechen auf Unabgeschlossenheit – eine Verpflichtung auf das Offene, auf das Risiko des Nichtwissens. In der Tiefe ist dieses Versprechen fast eine Antithese zu einem klassischen Pakt oder Vertrag, in dem etwas fixiert und garantiert wird. Faust verspricht genau das, was sich nicht garantieren lässt: das dauerhafte, sich selbst transzendierende Streben.
Zusammenfassend 1742-1743
1. Anthropologisches Prinzip des Strebens:
Goethe entwirft mit Faust einen Menschentypus, dessen Wesen nicht in Besitz oder Erkenntnis, sondern im unaufhörlichen »Streben« liegt. Das ist eine Gegenposition zur statischen Selbstzufriedenheit (z. B. des Biedermanns oder des Spießbürgers). In dieser Hinsicht ist Faust ein Symbol des modernen, suchenden Menschen.
2. Existenzialismus avant la lettre:
Fausts Aussage kann als Vorgriff auf existentialistische Denkformen gelesen werden. Er definiert sich nicht über ein Was, sondern über ein Wie – das »Wie« seines Seins liegt im unaufhörlichen Werden, im Engagement, in der Bewegung.
3. Vertragsparadoxie:
Der Teufelspakt wird hier auf eigentümliche Weise umgedreht. Faust verspricht kein konkretes Tun oder Lassen, sondern die metaphysische Haltung des Strebens. Damit entzieht er dem Teufel jede einfache Verwertung: Mephisto kann nur gewinnen, wenn Faust sich selbst verliert, also aufhört zu streben. Doch genau das verspricht Faust auszuschließen.
4. Goethes ethisch-metaphysisches Weltbild:
In Goethes Denken ist das Streben nicht bloß eine menschliche Schwäche, sondern zugleich seine Größe. Auch wenn es ihn in die Irre führt, ist es letztlich das, was ihn rettet (»Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen«, Faust II). Die Verse 1742–1743 sind somit nicht nur Charakteräußerung, sondern ein metaphysisches Bekenntnis.
Fazit
Insgesamt markieren diese zwei Verse einen Wendepunkt: Faust formuliert sein innerstes Wesen, das zugleich zur Grundlage des Pakts mit Mephisto wird. Der Teufel kann diesen Pakt nur missverstehen – denn das wahre Ziel liegt jenseits seiner Reichweite: im paradoxen Streben nach dem Unerreichbaren.
1744 Ich habe mich zu hoch gebläht,
Faust erkennt hier in einem Moment der Ernüchterung seine Selbstüberschätzung. Die Formulierung »zu hoch gebläht« evoziert ein Bild übermäßiger Aufblähung – wie ein Luftballon, der droht zu platzen. Sie erinnert an hybris, den klassischen Hochmut tragischer Helden, der im Übermaß des eigenen Willens das Maß überschreitet. Faust hat sich intellektuell, spirituell und existenziell überhöht – er wollte göttergleich wirken, das »Was die Welt im Innersten zusammenhält« erkennen (vgl. V. 382). Der Begriff »gebläht« hat auch körperlich-pejorative Konnotationen: Er klingt nach Leere, nach eitler Selbstvergrößerung ohne Substanz. Das Ich hat sich überdehnt und steht nun vor der Entlarvung seines inneren Mangels.
1745 In deinen Rang gehör’ ich nur.
Die Wendung zur zweiten Person zeigt, dass Faust sich nun wieder Mephistopheles zuwendet – und zwar nicht nur als Gesprächspartner, sondern als seinesgleichen. Der »Rang«, in den er sich nun einordnet, ist der des Teuflischen, der des Zynikers, des Verneinenden. Es ist eine erschütternde Selbstzuweisung: Faust gesteht, dass sein Streben, das ursprünglich auf Erkenntnis, vielleicht sogar auf Erlösung abzielte, ihn nicht in himmlische Höhen, sondern in dämonische Nähe geführt hat. Die Betonung liegt auf »nur« – ein resignativer Ton, als gäbe es keinen höheren Platz mehr für ihn. Dies ist nicht nur eine moralische Kapitulation, sondern eine existentielle Standortbestimmung: Faust verortet sein Wesen nun auf derselben Ebene wie das Mephistophelische Prinzip.
Zusammenfassend 1744- 1745
Diese beiden Verse verdichten eine zentrale Grundspannung der ganzen Tragödie: das Scheitern des übermäßigen, modernen Ichs an seinen eigenen Ansprüchen. Faust steht hier an einem Wendepunkt – nicht der ekstatischen Überheblichkeit wie in der Beschwörung des Makrokosmos, sondern an einem Punkt tragischer Selbsterkenntnis. Die erkenntniskritische Dimension ist deutlich: Was als Aufstieg gedacht war – das Streben nach totaler Erkenntnis und Sinn –, entpuppt sich als Weg in die Tiefe des Selbstverlusts.
Das Verhältnis von Mensch und Dämon wird hier nicht mehr bloß als äußere Versuchung inszeniert, sondern als innere Identifikation. Faust hat sich nicht einfach von Mephisto verführen lassen; er ist selbst Mephisto geworden – oder erkennt, dass Mephisto ein Spiegel seiner selbst ist. Diese Selbsterkenntnis ist nahe an der gnostischen Einsicht, dass das Böse nicht von außen kommt, sondern aus dem Innern des Menschen. Gleichzeitig kündet sich hier eine tiefe Theodizee-Frage an: Wenn der Mensch seinem Wesen nach dazu neigt, das Maß zu überschreiten, ist dann das Böse nicht notwendig in das Menschliche eingebettet?
Zudem entfaltet sich eine anthropologische Tragik: Der Mensch, der sich über seine Grenzen hinaus entfalten will – der homo desiderans –, muss, wenn er die Transzendenz nicht erreicht, in die Immanenz der Schuld zurückstürzen. Fausts Tragik ist also die Tragik der Moderne, der durch das Verwerfen tradierter metaphysischer Ordnung der Kompass abhandenkam. Die Selbsteinordnung in Mephistos Rang ist daher nicht nur moralisch, sondern existenziell: ein Symptom der Verlorenheit im fragmentierten Weltbild nach dem Zusammenbruch eines theologisch gestützten Kosmos.
Goethes Faust spricht in diesem Moment nicht nur zu Mephisto, sondern als Chiffre für die ganze menschliche Gattung – eine Gattung, die sich immer wieder »zu hoch gebläht« hat, und nun, nach Prometheus, nach Kant, nach der Aufklärung, mit Mephisto konfrontiert ist – als dunklem Schatten ihrer selbst.
1746 Der große Geist hat mich verschmäht,
Dieser Vers bezieht sich auf die frühere Szene in Fausts »Studierzimmer« (ab 1385), in der Faust den »Erdgeist« beschwört. Der »große Geist« ist jener Erdgeist, der sich kurzzeitig zeigt, Faust jedoch nicht anerkennt. Der Ausdruck »hat mich verschmäht« offenbart eine tiefe Kränkung und existenzielle Enttäuschung: Faust fühlt sich zurückgewiesen von der Macht, der er sich ebenbürtig oder zumindest würdig wähnte. Diese Zurückweisung trifft ihn im Zentrum seines Sehnens: in seinem Drang nach metaphysischer Erkenntnis und transzendenter Vereinigung mit dem Ganzen. Der Geist, Symbol einer überindividuellen, schöpferischen Kraft (eine Art pantheistisch gedeutete Weltseele), erkennt Fausts menschliche Begrenztheit und weist ihn damit in seine Schranken.
Zugleich enthält der Vers eine theologische Unterströmung: Der »große Geist« erinnert an eine gottähnliche Instanz. Fausts Scheitern hier ist mehr als bloß eine verpasste magische Verbindung – es ist ein Hinweis darauf, dass der Mensch im Streben nach dem Absoluten an seine Grenze stößt. Der Geist verschmäht Faust nicht aus Willkür, sondern weil Fausts Erkenntnisstreben noch nicht die nötige Demut und Reife trägt.
1747 Vor mir verschließt sich die Natur.
Die Folge dieser Zurückweisung ist die tiefe Einsicht, dass ihm das Wesen der Natur verborgen bleibt. Das Verb »verschließt sich« legt nahe, dass Faust versucht hat, die Natur wie ein Buch zu entziffern oder gar zu durchdringen (vgl. frühere Szene mit dem Zeichen »Im Anfang war das Wort«). Doch nun erkennt er, dass die Natur nicht verfügbar ist, dass sie sich dem bloßen Willen, sie zu ergründen, entzieht.
Dieser Vers ist auch ein Echospruch auf das Erkenntnisproblem der Aufklärung: Die Idee, dass man durch Wissenschaft, Magie oder metaphysische Mittel die Wahrheit »entbergen« könne, wird hier erschüttert. Fausts Ideal des »was die Welt im Innersten zusammenhält« zerschellt an der Realität der Unerreichbarkeit des Ganzen. Die Natur bleibt ein Mysterium – nicht weil sie grausam ist, sondern weil sie sich dem Zugriff entzieht, wenn dieser Zugriff nicht in Einklang mit ihrer eigenen Ordnung steht.
Zusammenfassend 1746-1747
1. Grenze menschlicher Erkenntnis:
Faust muss schmerzhaft erfahren, dass sein Streben nach dem Absoluten an natürliche und geistige Schranken stößt. Die Hybris, sich mit dem großen Geist gleichzustellen, endet in Demütigung. Damit verweist Goethe auf das klassische gnōthi seautón (»Erkenne dich selbst«), das in Fausts Überhebung gebrochen wird.
2. Metaphysische Entfremdung:
Die Natur verschließt sich ihm nicht nur kognitiv, sondern existenziell. Der Mensch steht vor dem Universum wie vor einer verschlossenen Tür – eine Situation, die zur modernen Erfahrung der Entfremdung führt, wie sie später in der Existenzphilosophie (Heidegger, Sartre) entfaltet wird.
3. Kritik an magischem und rationalistischem Erkenntnisweg:
Fausts Versuch, sich über den natürlichen Weg der Wissenschaft hinaus mit Magie Zugang zur Wahrheit zu verschaffen, ist gescheitert. Damit übt Goethe eine implizite Kritik sowohl an okkultem Machtstreben als auch an der rationalistischen Anmaßung der Aufklärung, die meint, alles durch Vernunft erfassen zu können.
4. Theologischer Subtext:
Im Hintergrund steht die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu einer höheren, göttlichen Ordnung. Der große Geist verschmäht Faust – nicht aus Bosheit, sondern aus Wahrheit. Das legt nahe, dass der Mensch nicht autonom Schöpfer und Richter sein kann, sondern sich in ein größeres, unerkennbares Ganzes einfügen muss – ein Gedanke, der auch bei Meister Eckhart oder Jakob Böhme anklingt.
Fazit
Goethes dichterische Sprache verdichtet in diesen beiden Versen eine ganze anthropologische Tragödie: die Zerrissenheit zwischen Sehnsucht und Grenze, Geist und Natur, Licht und Verschlossensein.
1748 Des Denkens Faden ist zerrissen,
In diesem Vers greift Goethe auf das Bild des Fadens zurück, das metaphorisch für einen zusammenhängenden Gedankengang, für kohärente Rationalität steht. Der »Faden« erinnert an den sprichwörtlichen »roten Faden«, der Struktur und Richtung verleiht. Dass dieser nun »zerrissen« ist, zeigt Fausts intellektuelle und existentielle Desorientierung. Er kann seine Gedanken nicht mehr bündeln, ist in einer inneren Krise, in der das rationale Denken – das ihm als Gelehrtem bislang höchste Autorität war – versagt. Das Zerrreißen des Denkfadens steht auch symbolisch für das Scheitern des cartesianisch-aufklärerischen Weltbildes, in dem das Denken als Fundament der Wahrheit gilt (»cogito, ergo sum«). Bei Faust zerfällt dieses Fundament. Er steht nicht mehr im Zentrum der Erkenntnis, sondern am Rand des Abgrunds.
1749 Mir ekelt lange vor allem Wissen.
Dieser Satz ist radikal: Nicht nur ist das Denken gescheitert, es widert ihn an – »ekelt« ist ein starker Ausdruck körperlicher Abwehr, nicht nur rationaler Kritik. Das Wissen, das Faust in langen Jahren des Studiums angehäuft hat – in Philosophie, Jurisprudenz, Medizin und Theologie (vgl. V. 354ff.) – ist ihm nun nicht nur wertlos, sondern widerwärtig. Der Ekel richtet sich gegen eine Form von totem Wissen, das keine existenzielle Erlösung bietet. Faust erkennt die Grenze des bloß intellektuellen Erkennens. Damit vollzieht sich in diesen Versen ein Bruch mit dem Ideal des homo academicus: Der Gelehrte, der durch Wissenschaft zur Wahrheit gelangt, erweist sich als ohnmächtig gegenüber den letzten Fragen des Daseins. Fausts Ekel markiert also den Übergang vom Logos zum Lebensdrang – zur »Tat«, wie später Mephisto es formulieren wird.
Zusammenfassend 1748-1749
Diese zwei Verse markieren einen Wendepunkt in der geistigen Konstitution Fausts. Er befindet sich an der Schwelle zwischen klassischem Rationalismus und moderner Subjektivität. Was hier ausgesprochen wird, ist eine fundamentale Kritik an der Vorstellung, dass Wahrheit durch Denken allein zugänglich sei. Faust leidet unter einer kognitiven Hybris: Er hat alles gelernt und nichts gefunden, was seiner Seele genügt. Der Ekel vor dem Wissen ist damit auch ein Ekel vor einer entleerten Welt, in der die Begriffe das Leben nicht mehr fassen.
Philosophisch steht dieser Moment in Nähe zu einem existenzialistischen Bewusstsein: Wissen bietet keine Rettung mehr, das Subjekt bleibt auf sich selbst zurückgeworfen. Das erinnert an Kierkegaards Verzweiflung oder Nietzsches Diagnose des Nihilismus – beide formulieren Jahrzehnte später ähnliche Zweifel an der rettenden Kraft der Vernunft.
Gleichzeitig liegt hier ein Übergang vom bloßen Denken zur Erfahrung, vom Begriff zur Tat. Faust wird aus dieser Krise heraus bereit für den Pakt mit Mephisto – nicht weil er das Böse sucht, sondern weil das bloß Gute, das bloß Wahre ihn nicht mehr trägt. Er sehnt sich nach einem »Erlebnis der Wahrheit«, nach gelebtem Sinn statt abstraktem Wissen.
Diese Verse sind somit eine der existenziell tiefsten Stellen im gesamten Drama: Sie bündeln Lebensüberdruss, metaphysische Enttäuschung und den Umschlagspunkt vom Denken zur Erfahrung – eine geistige Revolution, die sich in Fausts Innerstem vollzieht. thes Faust I, Szene »Studierzimmer« (Zweiter Teil der Szene mit Mephisto), lauten Tiefen der Sinnlichkei enschaften stillen -Analyse und Interpretatio
1750 Laß in den Tiefen der Sinnlichkeit
Der Vers beginnt mit einer Imperativbitte: »Laß« – Faust spricht hier Mephisto an und fordert ihn zu einer Handlung auf oder zumindest dazu, ihm ein bestimmtes Erleben zu ermöglichen. Das ist keine bloße Höflichkeitsform, sondern Ausdruck eines verzweifelten inneren Drangs.
»In den Tiefen der Sinnlichkeit« verweist auf eine radikale Hinwendung zum Körperlich-Triebhaften. Der Begriff »Sinnlichkeit« ist doppeldeutig: Er bedeutet zum einen das sinnliche Wahrnehmen, zum anderen – und hier vorrangig – das erotische Begehren und die leibliche Lust. Die Metapher »Tiefen« legt nahe, dass es sich nicht um oberflächliche Reize handelt, sondern um existenziell verwurzelte Triebkräfte im Untergrund der menschlichen Natur – was psychoanalytisch als das Unbewusste oder »Es« gedeutet werden könnte.
Gleichzeitig kann dieser Vers als Gegenbild zur vorherigen intellektuell-geistigen Existenz Fausts gelesen werden. Während er zu Beginn des Dramas in seiner Studierstube von der Erkenntnis der höchsten Prinzipien getrieben war, wendet er sich nun der niedersten, jedoch ebenso machtvollen Seite des Menschseins zu.
1751 Uns glühende Leidenschaften stillen!
Faust will nicht bloß erleben, sondern seine Leidenschaften stillen – ein Ausdruck, der gleichsam widersprüchlich ist: Die Glut der Leidenschaft ist ein Zustand des Brennens, der Bewegung, der Ekstase – »stillen« hingegen verweist auf Beruhigung, Befriedigung, Lösung eines Mangels. Dieses Paradox drückt den inneren Widerspruch des Begehrens aus: Leidenschaft will brennen, aber zugleich befriedigt sein.
Der Zusatz »uns« zeigt, dass Faust sich bereits mit Mephisto verbunden fühlt – eine Art diabolischer Bund in der Lust. Diese Gemeinschaft in der Sinnlichkeit ist zugleich eine Aufgabe der autonomen, geistigen Selbstbestimmung: Der Mensch sucht nicht mehr nach Wahrheit oder moralischer Ordnung, sondern nach leidenschaftlicher Erfüllung – in Gemeinschaft mit dem Dämonischen.
Auch das Adjektiv »glühende« intensiviert das Bild der sinnlichen Leidenschaft: Es ist eine Bildsprache des Feuers, der Hitze, der Unkontrolliertheit. Die Glut verweist auch auf die alchemistisch-symbolische Vorstellung der transformativen Kraft: Das Brennen der Leidenschaft könnte Reinigung oder Zerstörung bedeuten – oder beides.
Zusammenfassend 1750-1751
Diese beiden Verse markieren einen Wendepunkt in Fausts Daseinsausrichtung – von der asketischen, erkenntnisgetriebenen Suche des Anfangs hin zur Bejahung des sinnlich-leiblichen Daseins. Die philosophischen Tiefendimensionen lassen sich in mehreren Schichten erschließen:
1. Anthropologische Dimension:
Faust bekennt sich zur Leiblichkeit und Sinnlichkeit als konstitutive Dimension menschlicher Existenz. Er sucht das »wahre Leben« nicht mehr im Geist, sondern im Erleben, im Spüren, im Körper. Damit folgt er einem spätaufklärerischen Impuls, die Ganzheit des Menschen zu bejahen – aber auch einer romantisch-dionysischen Sehnsucht nach dem Rauschhaften.
2. Ethik und Moral:
Die Forderung, Leidenschaften zu stillen, wirft moralische Fragen auf: Ist die Auslebung des Begehrens eine Befreiung oder eine Preisgabe der Vernunft? Faust strebt nach Selbstverwirklichung durch die Überschreitung traditioneller moralischer Schranken. Die Verantwortung für die Folgen wird jedoch verdrängt – was später etwa in Gretchens Tragödie mündet.
3. Theologisch-diabolischer Aspekt:
Der Wunsch, die »Tiefen der Sinnlichkeit« mit Mephisto zu erkunden, verweist auf eine perverse Umkehrung der christlichen Heilsordnung. Nicht in der Sublimierung, sondern in der Hingabe an die »niederen« Triebe sucht Faust Erfüllung. Es ist ein Abstieg in die Tiefe, der – in christlicher Begrifflichkeit – Höllenassoziationen weckt.
4. Existenzialistische Perspektive:
Faust stellt sich existenziell der Leere seines bisherigen Lebens: Die Sinnlichkeit wird zur letzten Hoffnung, Bedeutung zu finden. In ihr liegt für ihn der Versuch, authentisch zu sein – im vollen Erleben des Lebens, selbst wenn dieses in Schmerz oder Schuld mündet. Das erinnert an Motive bei Kierkegaard oder Nietzsche, in denen die existentielle Entscheidung für das Leben im Ganzen – auch in seiner Dunkelheit – ein Akt der Freiheit ist.
5. Dialektik von Begehren und Erfüllung:
Wie in der gesamten Faust-Dichtung wird auch hier deutlich: Das Begehren selbst ist unstillbar. Jeder Versuch, die »glühenden Leidenschaften« zu stillen, erzeugt nur neue Begierde. Damit ist Fausts Streben von Beginn an in eine tragische Unendlichkeit gestellt – ein modernes Motiv der Entgrenzung ohne Erlösung.
Fazit
Diese zwei Verse enthalten also im Keim bereits zentrale Themen des gesamten Dramas: Sinnlichkeit versus Geist, Streben versus Erfüllung, Freiheit versus Schuld, Mensch versus Dämon. In Fausts Begehren nach der Tiefe der Sinnlichkeit liegt eine radikale Lebensbejahung – aber auch der Beginn seiner inneren Zerrissenheit.
1752 In undurchdrungnen Zauberhüllen
Dieser Vers beschreibt eine mystisch-magische Sphäre, in der die Wunder verborgen liegen. Die »Zauberhüllen« sind metaphorisch aufgeladene Hüllen, Schleier oder Sphären des Geheimen, die den Zugang zur wahren Wirklichkeit verhüllen. Die Bezeichnung »undurchdrungn\[e]« legt nahe, dass sie bislang nicht durchdrungen, nicht erschaut, nicht erkannt wurden – ein zentrales Motiv in Goethes Faust, das den Erkenntnisdrang des Menschen gegenüber einer verschlossenen, aber verheißungsvollen Welt zum Ausdruck bringt.
Diese »Zauberhüllen« erinnern auch an die okkulte Sprache der Alchemie, der hermetischen Philosophie und des neuplatonischen Denkens. In diesen Traditionen sind die Hüllen Symbole für die äußeren Formen oder Erscheinungen, hinter denen sich die Essenz, das Wunder, die Wahrheit verbirgt. Faust will diese Hüllen nicht länger als Grenze akzeptieren – er will sie durchbrechen.
1753 Sey jedes Wunder gleich bereit!
Mit diesem fast imperativen Ausruf ruft Faust die Wunder auf, sich sofort, unmittelbar zu zeigen. Das Wort »gleich« hebt diese Forderung nach Gegenwärtigkeit hervor: Faust duldet keinen Aufschub mehr. Er verlangt die Vergegenwärtigung des Wunders im Hier und Jetzt, als ob seine magische Anrufung die Welt selbst zum Gehorchen bringen könnte.
Es ist dies ein weiterer Schritt in Fausts Überschreitung des Maßes des Menschen. Er will nicht mehr wissenschaftlich, methodisch oder rational erkennen, sondern magisch, durch das Wort, durch die Beschwörung. Damit erhebt er sich in eine Prometheus-hafte Position: als einer, der den Göttern gleich Wunder erschaffen oder hervorlocken will.
Zugleich spricht aus dieser Zeile ein utopischer Glaube an das Potenzial der Magie als ein Mittel zur Enthüllung der Welt. Sie soll die Wunder, die »hinter« der Erscheinung lauern, bereit machen – sichtbar, zugänglich, spürbar. Die Linie zwischen göttlicher Offenbarung und menschlicher Hybris beginnt hier endgültig zu verschwimmen.
Zusammenfassend 1752-1753
1. Erkenntnistheoretische Transgression:
Fausts Wunsch, die »Zauberhüllen« zu durchdringen, steht sinnbildlich für den Menschen, der sich nicht mehr mit den Grenzen empirischer Erkenntnis zufriedengibt. Er will hinter das Phänomenale, ins Noumenale, ins Wunderhafte – im Sinne Kants aber auch darüber hinaus. Es ist eine radikale Abkehr von rationalistischer Bescheidenheit hin zu einem magisch-transzendentalen Erkenntnismodus.
2. Magie als existentielle Technik:
Magie wird hier nicht bloß als fantastische Praxis verstanden, sondern als existentielle Methode, die Welt zum Sprechen zu bringen. Die Formulierung »Sey jedes Wunder gleich bereit« ist ein performativer Sprechakt – Faust spricht, um Wirklichkeit zu verändern. Das ist eine machtvolle Setzung des Ichs als schöpferisch-gestaltender Instanz – und zugleich eine religiös-philosophische Grenzüberschreitung.
3. Metaphysik der Verborgenheit:
Die »undurchdrungnen Zauberhüllen« stehen für die metaphysische Struktur der Welt, in der das Wahre, das Göttliche oder das Sinnhafte nie unmittelbar zugänglich ist. Fausts Drang zur Enthüllung verweist auf den tiefen Schmerz der Trennung vom Absoluten – ein Schmerz, der ihn zu einer modernen Gnosis treibt, in der Wissen nicht rational, sondern durch Erleuchtung, Magie oder Ekstase gewonnen werden soll.
4. Faust als moderner Mystiker oder Hybrideur:
In seiner Forderung, dass jedes Wunder gleich bereit sei, nähert sich Faust einem mystischen Denken an – jedoch ohne Demut oder Hingabe. Er fordert das Wunder, statt es geschehen zu lassen. Darin liegt ein Zwiespalt: Faust steht zwischen mystischer Sehnsucht und titanischer Selbstüberhöhung. Diese Ambivalenz macht seine Figur so tiefgründig – er ist Sucher, Erkenner, Übertreter und Schöpfer in einem.
Fazit
Diese beiden Verse markieren einen entscheidenden Punkt im inneren Weg Fausts: Er verlässt den Bereich der bloßen Wissensaneignung und tritt in eine Phase der magischen Selbstermächtigung. Die Welt soll sich ihm öffnen – sofort, ganz, ohne Rest. Die Tiefe dieser wenigen Worte liegt in der Spannung zwischen metaphysischem Verlangen, erkenntnistheoretischer Hybris und einer Sehnsucht nach totaler Gegenwart des Wunderbaren. Es ist ein Moment der höchsten Intensität, in dem sich Fausts Streben, seine Philosophie und seine existenzielle Lage kulminieren.
1754 Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit
Faust verwendet hier ein kraftvolles, fast stürmisches Bild: »Stürzen wir uns« evoziert eine aktive, mutige, ja waghalsige Bewegung, die nicht nur ein Eintreten, sondern ein Hineinwerfen ins Leben bezeichnet. Das »Rauschen der Zeit« ist ein poetisches Bild für die unaufhaltsame Bewegung und Vielstimmigkeit der historischen, gesellschaftlichen und persönlichen Entwicklungen. Zeit rauscht, sie steht nicht still; sie ist weder berechenbar noch vollkommen durchschaubar. In diesem Sinne wird die Zeit nicht als ruhiger Fluss, sondern als etwas Dynamisches, mitreißend Klangvolles dargestellt, das sich der menschlichen Kontrolle entzieht. Faust sucht nicht länger die stille Erkenntnis im Studierzimmer, sondern will nun mitten im Zeitstrom stehen – ein deutliches Zeichen seines existentiellen Wandels vom kontemplativen zum tätigen Menschen.
1755 In’s Rollen der Begebenheit!
Auch dieser Vers verstärkt das Bild eines unaufhaltsamen Prozesses. Die »Begebenheit« steht für das Geschehen, das Faktische, das Zufällige, das gelebte Leben in all seiner Konkretheit. Dass dieses Geschehen »rollt«, fügt eine weitere Dynamik hinzu: Es wird zu einer Bewegung, die nicht planbar oder lenkbar ist, ähnlich einem Rad der Geschichte oder des Schicksals, das alles mit sich fortreißt. Faust will sich nun nicht mehr vom sicheren Ort der Reflexion aus mit der Welt befassen, sondern sich in das Werden und Wirken, in das unvorhersehbare, oft chaotische Rollen der Begebenheit einmischen. Die Entscheidung ist bewusst aktiv, ja sogar heroisch.
Zusammenfassend 1754-1755
1. Zeitlichkeit und Existenz (in Anlehnung an spätere Existenzphilosophie):
Faust akzeptiert nun das Leben in seiner zeitlichen Struktur – nicht mehr als Fluchtpunkt (wie in der Nacht-Szene), sondern als Erfahrungsraum. Das »Rauschen der Zeit« erinnert an die spätere Philosophie Martin Heideggers, in der die »Geworfenheit« des Menschen in die Zeit eine Grundkategorie des Daseins ist. Faust will nicht mehr über das Leben reflektieren, sondern es erleben – mit all seinen Widersprüchen, Unsicherheiten und seiner Endlichkeit.
2. Handlung statt Erkenntnis (Aktivismus vs. Intellektualismus):
Faust wendet sich gegen die Erstarrung des akademischen Wissensbetriebs. Der Rückzug ins Denken hat ihm keine Erlösung gebracht. Jetzt will er in die Welt eingreifen, selbst wirken. Hierin liegt eine tiefe Kritik an einer bloß theoretischen Vernunft, wie sie Kant beschreibt, und eine Hinwendung zur praktischen Vernunft, wie sie insbesondere in Goethes Spätwerk und im Ideal des »tätigen Menschen« (z. B. Wilhelm Meisters Lehrjahre) eine zentrale Rolle spielt.
3. Dynamik des Lebens als Sinnstiftung:
Das Leben erhält seinen Sinn nicht durch transzendente Erkenntnis (wie Faust sie in der Anfangsszene suchte), sondern durch das Mitgehen im Strom der Welt. Diese Philosophie der Bewegung – des »Stürzens« und »Rollens« – verweigert ein statisches Weltbild und öffnet sich einem offenen, nicht-deterministischen Dasein. Faust will »im Prozess« sein, nicht am Ziel. Dies spiegelt Goethes eigenes Weltbild, das stark vom Prozesshaften, vom Werdenden geprägt ist – ein Denken in Entwicklung und Wandlung.
Fazit
In Summe sind diese beiden Verse ein verdichteter Ausdruck von Goethes humanistischem Ideal: Der Mensch soll nicht im abstrakten Denken verharren, sondern sich in die Welt hineinwerfen, Erfahrungen machen, irren, handeln und dadurch wachsen. Das »Rauschen der Zeit« und das »Rollen der Begebenheit« stehen symbolisch für das lebendige, konkrete Leben, das Faust nun – mit Mephistos Hilfe – erfahren will. Es ist der erste klare Schritt hinein in das große Abenteuer der Gretchen-Tragödie.
1756 Da mag denn Schmerz und Genuß,
Faust bringt hier eine Gleichsetzung oder zumindest ein Gleichgewicht zwischen Schmerz und Genuss zum Ausdruck. Das »mag denn« deutet eine resignative Zustimmung an – eine Hinwendung zur Lebenswirklichkeit in all ihren Ambivalenzen. Schmerz und Genuss sind Antipoden menschlicher Erfahrung, aber Faust erklärt sich bereit, beide als gleichberechtigte Aspekte des Lebens zu akzeptieren.
Das ist nicht nur eine stoische Haltung, sondern verweist auf die zentrale Idee des Faust: den Menschen als Wesen, das sich durch Spannung, Widerspruch und Bewegung definiert. Schmerz (Leiden) und Genuss (Lust) bilden die Pole, zwischen denen sich das Leben entfaltet. Faust möchte alles erleben – nicht nur das Erhabene, sondern auch das Dunkle und Schmerzhafte.
1757 Gelingen und Verdruß,
Auch hier begegnen sich Gegensätze: das Gelingen, also Erfolg, Erfüllung, positiver Ausgang – und Verdruß, der Ausdruck von Misslingen, Enttäuschung, Frustration. Wieder wird kein Werturteil gefällt: Beides gehört zum Menschsein dazu. Faust bekräftigt, dass er auch diesen Gegensatz in Kauf nimmt, ja ihn sogar wünscht. Es geht nicht um eine Vermeidung von Leid oder Scheitern, sondern um das Erleben an sich.
Diese Verse sind insofern ein Bekenntnis zur Totalität menschlicher Erfahrung. Faust will nicht nur das Gute, Schöne und Wahre. Er will die Extreme, die ganze »Fülle des Lebens«. Dieser Wunsch ist gefährlich – denn er löst sich aus Maß, Mitte und moralischer Begrenzung. Er öffnet sich damit dem Zugriff Mephistos.
Zusammenfassend 1756-1757
1. Existenz in der Polarität:
Faust erkennt, dass menschliches Leben nicht aus einem Idealzustand besteht, sondern aus Gegensätzen, Spannungen, Konflikten. Diese Polarität ist notwendig, um überhaupt als Mensch zu existieren. Schmerz und Genuss, Gelingen und Verdruß sind keine Störungen, sondern Grundstrukturen des Daseins.
2. Aktive Bejahung des Lebens in seiner Ambivalenz:
Faust beschreitet den Weg, den Nietzsche später als »Dionysisch« bezeichnet: eine Lebensbejahung, die auch das Schwere, das Dunkle und das Scheitern umfasst. Es geht um eine umfassende Erfahrung, nicht um moralische Vervollkommnung.
3. Kritik am rein rationalen oder moralischen Lebensentwurf:
Die Verszeile steht in direkter Spannung zur christlich-bürgerlichen Ethik der Zeit. Der Mensch strebt dort nach Tugend, Mäßigung und Erlösung. Faust dagegen will erleben – auch um den Preis der Verirrung. Damit tritt er aus der traditionellen Ordnung heraus und wird zum modernen, autonomen Subjekt.
4. Vorbereitung auf die »Wette« – metaphysischer Ernstfall:
Mit dieser Haltung ebnet Faust der »Wette« mit Mephisto den Weg. Indem er alles erleben will, gibt er sein Heil in ein gefährliches Spiel. Schmerz und Verdruß, die für andere abzulehnen wären, werden für Faust zum Teil des gewünschten Daseins.
5. Faust als Grenzgänger:
Er will nicht nur theoretisches Wissen, sondern lebendige Erfahrung. Diese Haltung ist dem mystischen Streben ähnlich (wie z. B. bei Johannes vom Kreuz oder Meister Eckhart), wird aber hier in ein säkulares, sogar dämonisches Umfeld gestellt.
Fazit
Diese wenigen Verse sind ein konzentriertes Bekenntnis zur radikalen Lebensbejahung – nicht im Sinne eines naiven Optimismus, sondern als Anerkennung und Integration aller Dimensionen menschlicher Existenz. In der Tiefe spiegelt sich hier der tragische Drang des modernen Menschen, durch Erfahrung zur Wahrheit zu gelangen – selbst auf die Gefahr des Scheiterns hin.
1758 Mit einander wechseln wie es kann;
Dieser Vers thematisiert Wandel, Bewegung und den ständigen Wechsel der Zustände. Die Formulierung »mit einander wechseln« suggeriert nicht nur eine bloße Abfolge von Zuständen (Freude und Leid, Erfolg und Scheitern, Erkenntnis und Zweifel), sondern auch ein ineinander Übergehen, ein oszillierendes Zusammenspiel. Das »wie es kann« relativiert dabei jede Vorstellung von Kontrolle oder Vorhersehbarkeit – es herrscht eine gewisse Offenheit, ein »Geschehenlassen«, das auf die menschliche Begrenztheit verweist, aber auch auf eine Art metaphysische Fluidität des Lebens hinweist.
Philosophisch anklingend ist hier der Gedanke des Heraklitischen Werdens: »Alles fließt« (panta rhei). Die Realität ist nichts Statisches, sondern besteht im Wechselspiel, im Übergang. Auch Goethes eigene Naturphilosophie, besonders seine Lehre von der Metamorphose, lässt sich hier andeuten: Das Leben selbst ist eine Folge von Wandlungen.
1759 Nur rastlos bethätigt sich der Mann.
Dieser Vers gibt gewissermaßen die anthropologische Konstante zum vorhergehenden Weltprinzip: Der Mensch wird als ein Wesen charakterisiert, das sich nicht in Ruhe oder Kontemplation erfüllt, sondern in rastloser Tätigkeit. Es ist die Tat, die Goethes Faust – und vielleicht den modernen Menschen insgesamt – kennzeichnet.
Das »nur« ist wichtig: Es schließt andere Daseinsweisen (Muße, Ruhe, passives Sein) aus und stellt das ständige Tun als Wesenskern menschlicher Existenz dar. Goethe schreibt dem Menschen so eine dynamische Bestimmung zu, die in der Tradition des Faust-Stoffes völlig neu ist. Nicht die reine Erkenntnis, nicht die Kontemplation Gottes oder der Natur (wie in der scholastischen Tradition), sondern das Handeln – auch im Irrtum – wird zum eigentlichen Ort menschlicher Existenz.
Die Formulierung »rastlos« birgt Ambivalenz: Sie verweist sowohl auf Schaffenskraft und Streben (im Sinne eines schöpferischen Lebens), als auch auf eine Gefahr der Selbstzerstörung, die im dauernden Drang nach Mehr, nach Überschreitung, liegt. In dieser Hinsicht steht der Vers auch im Kontrast zu christlicher Askese oder Gelassenheit und ist ein Vorgriff auf das faustische Prinzip, das in der Moderne oft mit ruheloser Selbstüberschreitung gleichgesetzt wird.
Zusammenfassend 1758-1759
1. Welt als Prozess:
Die Welt ist in einem ständigen Wechsel, ohne fixen Punkt. Goethe schließt an einen prozessualen Weltbegriff an, in dem das Sein selbst Bewegung ist. Dies widerspricht jeder metaphysischen oder teleologischen Fixierung.
2. Der Mensch als tätiges Wesen:
Fausts Menschenbild beruht auf der Idee, dass der Mensch nur in aktiver Selbstverwirklichung zu sich findet. Diese Sichtweise steht in der Tradition von Fichtes Tat-Philosophie und Goethes Humanismus zugleich, aber auch im Spannungsfeld zur Gefahr des Verzweckens des Daseins.
3. Dialektik von Ruhe und Bewegung:
Implizit enthalten ist auch ein Verzicht auf ewige Ruhe oder ewige Erkenntnis. Im Hintergrund steht Fausts berühmte Wette: Er wird nur dann seine Seele verwetten, wenn ein Augenblick ihn so sehr erfüllt, dass er ihn festhalten möchte. Diese Szene ist somit eine Vorbereitung auf das Kernmotiv: Die Unmöglichkeit eines erfüllten Stillstands.
4. Existenzphilosophischer Impuls:
Bereits vor den großen existentialistischen Denkern legt Goethe hier die Idee nahe, dass der Mensch kein Wesen mit vorgegebener Essenz, sondern ein sich ständig selbst schaffendes Wesen ist – durch Handlung, durch Tun, durch das Ringen mit der Welt.
Zusammenfassend
Diese zwei Zeilen fassen in ihrer Schlichtheit die dynamische Anthropologie und Kosmologie Goethes zusammen: Welt und Mensch sind nicht ruhende Wesenheiten, sondern ständigem Wandel und Tätigsein unterworfen – und genau in diesem Wechsel, in dieser Bewegung liegt ihr eigentliches Sein.
Mephistopheles.
1760 Euch ist kein Maß und Ziel gesetzt.
Dieser Vers bringt in lapidarer Kürze eine fundamentale anthropologische These zum Ausdruck: Der Mensch ist grenzenlos im Begehren. Das »Maß und Ziel« – zentrale Kategorien antiker Ethik, etwa bei Aristoteles, aber auch christlicher Tugendlehre – fehlen ihm. Mephistopheles spricht hier von der menschlichen Existenz, wie er sie sieht: als ungebremst, maßlos, unruhig, getrieben. Das »Euch« meint den Menschen als Gattung – insbesondere aber den geistig suchenden Menschen, dessen Dasein nicht durch natürliche Schranken wie das Tier begrenzt ist.
In diesem Satz klingt auch Goethes Auseinandersetzung mit dem Prometheus-Motiv und mit der titanischen Hybris der Aufklärung an. Zugleich könnte Mephisto sich selbst in dieser Einschätzung gefallen: Als Vertreter des Diabolischen verweist er gerne auf das Unmäßige im Menschen, um sein Spiel mit diesem zu legitimieren.
1761 Beliebt’s euch überall zu naschen,
Das Bild des »Naschens« ist zunächst scheinbar harmlos, fast spielerisch. Es evoziert Genuss, Neugier, ein tastendes Kosten an vielen Dingen. Doch in diesem Zusammenhang gewinnt das Wort eine ironische und zugleich kritische Schärfe. Mephistopheles unterstellt dem Menschen eine flatterhafte, oberflächliche Haltung – ein probierendes Leben ohne Bindung, ohne Tiefe, ohne Durchhaltevermögen. Es wird nicht gegessen, nicht genährt, sondern genascht.
Diese Zeile lässt sich auch als Kritik an der modernen Wissensgesellschaft lesen: Der Mensch sammelt Erfahrungen, probiert Theorien und Lebensformen, ohne sich festzulegen oder zur Wahrheit durchzudringen. In der Perspektive Mephistos ist das Ausdruck eines existenziellen Scheiterns – aus Lust wird Zerstreuung, aus Neugier wird Unruhe.
1762 Im Fliehen etwas zu erhaschen;
Diese Zeile kulminiert in einem paradoxen Bild: Der Mensch will »im Fliehen« etwas »erhaschen«. Das steht sinnbildlich für eine Lebensform, in der das Seiende nie erreicht, das Ziel nie ergriffen wird – weil der Mensch selbst immer in Bewegung ist, im ständigen Vorwärtsdrängen, im Entgleiten vor sich selbst.
Das »Fliehen« kann doppeldeutig verstanden werden: Einerseits als das rastlose Streben, das aus jedem Besitz flieht, um Neues zu suchen (Faust als Wanderer, Suchender, als homo viator). Andererseits kann es das psychologische Fliehen vor sich selbst, vor Tiefe, Verantwortung und Erkenntnis meinen. Die Jagd nach dem Sinn wird zur Jagd ohne Ziel – man »erhascht« nur im Vorübergehen, fragmentarisch, flüchtig.
Dieses Bild ist zugleich ein Ausdruck der faustischen Grundkonstellation: Der Mensch sucht nach dem Absoluten, doch bleibt ihm immer nur das Momentane. Seine Bewegung ist nicht teleologisch erfüllt, sondern eine Bewegung um der Bewegung willen.
Zusammenfassend 1760-1762
Diese drei Verse bringen in dichter Form ein zentrales Motiv der goetheschen Anthropologie zur Sprache: die Unabgeschlossenheit des Menschen. Der Mensch hat kein »Maß und Ziel« – das unterscheidet ihn vom Tier, macht ihn offen für das Göttliche, aber auch anfällig für das Diabolische. Diese Offenheit wird zur existenziellen Spannung: Der Mensch ist ein Wesen des unendlichen Begehrens, des tastenden Probierens und des ständigen Scheiterns an der Endlichkeit.
Mephistos Worte tragen zugleich eine zutiefst gnostische oder manichäische Färbung: Die Schöpfung ist durchzogen von Irrsinn, der Mensch in sich zerrissen. Der Teufel erkennt in der Getriebenheit des Menschen sein Spielfeld – und rechtfertigt dadurch seine Präsenz. In dieser Perspektive spiegelt sich auch Goethes Auseinandersetzung mit dem Sturm-und-Drang-Ideal der Genieästhetik, das sich ebenfalls durch Maßlosigkeit und Zersplitterung auszeichnet.
Faust selbst verkörpert die hier gezeichnete Tendenz: Er ist ein Mensch ohne Ruhe, ohne befriedigte Sehnsucht, ohne bleibendes Ziel – und genau deshalb empfänglich für Mephistos Lockungen.
Fazit
Insgesamt formulieren diese Verse eine Diagnose der Moderne, die Goethes Zeit weit übersteigt: Der Mensch lebt in der Spannung zwischen Transzendenz-Sehnsucht und empirischer Zersplitterung, zwischen metaphysischem Begehren und der Realität des Scheiterns. Dieses »Im Fliehen etwas zu erhaschen« ist bis heute ein gültiges Bild für die Rastlosigkeit des modernen Subjekts.
1763 Bekomm’ euch wohl was euch ergetzt.
Diese Formulierung spielt auf einen doppelten Sinn an. Einerseits scheint Mephistopheles höflich und zuvorkommend zu sein, beinahe gastgeberhaft: »Bekomm’ euch wohl« erinnert an eine übliche Höflichkeitsformel (»Es möge euch gut bekommen«). Andererseits offenbart sich im Begriff »was euch ergetzt« (von »ergötzen«) eine subtil verführerische Note. Mephistopheles verspricht nichts anderes als sinnliches Vergnügen, unmittelbare Befriedigung, die Lust des Moments. Der Ausdruck enthält eine erotische, aber auch konsumistische Färbung – es geht um das, was dem Ich unmittelbar »bekommt«, was es »ergötzt«, was ihm Genugtuung verschafft. Das Streben nach Wahrheit, das Faust zu Beginn noch qualvoll umtrieb, wird hier ersetzt durch einen Appell an das Lustprinzip.
1764 Nur greift mir zu und seyd nicht blöde!
Die Aufforderung ist entschieden, energisch, ja drängend. »Greift mir zu« erinnert an ein Angebot, das man nur zu fassen braucht – die Sprache evoziert ein Bild von reifen Früchten, die nur noch gepflückt werden müssen, ein Motiv, das auch mit der verbotenen Frucht des Sündenfalls mitschwingt. Das Possessivpronomen »mir« (»greift mir zu«) ist dabei bemerkenswert: Es zeigt Mephistopheles als den Gebenden, als den Herrn der Gaben, aber zugleich als jenen, dem die Handlung nützt. Die Versuchung ist doppelbödig: Wer zugreift, tut es im vermeintlichen Eigeninteresse, steht aber bereits unter dem Einfluss Mephistos.
Das Wort »blöde« meint hier nicht modern »dumm«, sondern »schüchtern«, »zögerlich«, »verlegen«. Die Formulierung hat einen provozierenden Unterton: Wer nicht zugreift, ist ein ängstlicher Narr, der sich selbst um das Vergnügen bringt. Die Rhetorik zielt darauf, Faust (und damit auch den Zuschauer) über die Schwelle der moralischen Hemmung zu stoßen – eine klassische Strategie der Verführung, die mit der Scham spielt, nicht »mutig« oder »mannhaft« genug zu sein, um das Leben zu genießen.
Zusammenfassend 1763-1764
1. Anthropologische Grundfrage:
Die Verführung Mephistopheles zielt auf den Kern menschlicher Bedürftigkeit: den Wunsch nach Befreiung von der Schwere des Denkens, nach unmittelbarer Erfüllung. Der Mensch, so suggeriert Mephisto, ist nicht primär ein Vernunftwesen (homo sapiens), sondern ein genussfähiges Tier (animal desiderans). Die Aufforderung »greift zu« ist der Aufruf zur Selbstverwirklichung im Modus der Begierde.
2. Kritik des Idealismus:
Faust, der noch vor wenigen Szenen über Bücher, Zeichen und Erkenntnis geschmachtet hat, wird nun mit einem ganz anderen Erkenntnisweg konfrontiert – dem des Erlebens. Mephistos Rhetorik stellt den Transzendenzdrang des Subjekts bloß, indem sie ihn auf seine leibliche Bedürftigkeit zurückführt. So betreibt Mephisto eine ironische Dekonstruktion des idealistischen Weltverhältnisses.
3. Sprachmagie und Machtstruktur:
Der scheinbare Imperativ zur Freiheit – »greift zu« – ist in Wahrheit ein Angebot zur Selbstunterwerfung. Der Sprechakt selbst ist performativ: Wer ihn befolgt, begibt sich unter die Herrschaft Mephistos. Die Szene verweist damit auf die Ambivalenz der Freiheit – sie kann zur Falle werden, wenn das Begehren durch einen fremden Willen gelenkt wird.
4. Theologische Tiefenschicht:
In christlicher Perspektive erinnert die Szene an die Versuchung Jesu in der Wüste (Matthäus 4): Auch dort bietet der Teufel Reiche, Macht und Lust, wenn man sich nur unterwirft. Das »Zugreifen« wird zur Ursünde – im Bild des Apfels aus dem Paradies, der nicht genommen werden sollte. So ist auch hier das Angebot an Faust ein symbolischer Akt: Der Mensch soll vom Baum der Erkenntnis (oder der Lust) nehmen, aber der Preis ist die Selbstverstrickung in die Knechtschaft des Bösen.
Fazit
Diese zwei Verse sind mehr als bloße Verführung – sie sind ein Knotenpunkt von Anthropologie, Erkenntnistheorie, Theologie und Sprachphilosophie. In Mephistos scheinbar lockerer Rede liegt die ganze Dialektik des Faust-Dramas: Zwischen der Sehnsucht nach dem »Höchsten« und der Anfälligkeit für das »Niederste« entfaltet sich das Drama menschlicher Existenz.