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Faust.
Der Tragödie erster Theil

Johann Wolfgang von Goethe

Studirzimmer II. (5)

Faust.
1692 Werd’ ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen,
Dieser Vers bringt eine zentrale Bedingung des berühmten »Teufelspakts« zwischen Faust und Mephisto auf den Punkt: Faust erklärt, dass er, sobald er je innere Ruhe und Zufriedenheit empfindet, also »beruhigt« ist, sein Lebensziel – das rastlose Streben nach Erkenntnis, Erfahrung, Erfüllung – verraten habe. Das Bild des »Faulbetts« ist hier besonders bedeutungsvoll. Es steht nicht nur für körperliche Trägheit oder Passivität, sondern auch für geistige Selbstzufriedenheit, für das Ende des Strebens, für das Sich-Einrichten in einem Zustand der Behaglichkeit, der das ursprüngliche Ideal des Menschen konterkariert.
In der Faustfigur steht das »Faulbett« also symbolisch für das Aufgeben der inneren Bewegung – und das wäre für Faust ein spiritueller Tod. Die Syntax des Konjunktivs II (»Werd’ ich...«) unterstreicht die hypothetische, beinahe unvorstellbare Natur dieser Möglichkeit. Faust hält es im Moment seines Sprechens für ausgeschlossen, je in solche Ruhe zu verfallen.

1693 So sey es gleich um mich gethan!
Dieser Vers formuliert die Konsequenz, die Faust selbst für den Fall festlegt, dass er seiner inneren Bewegungslosigkeit nachgibt: »so sey es gleich um mich gethan!«, d. h. er wäre des Todes – geistig und existenziell vernichtet. Das klingt wie ein freiwilliges Todesurteil. In der Sprache schwingt die Vorstellung mit, dass das eigentliche Leben nur im ständigen Ringen, im Suchprozess besteht. Sobald dieser Prozess endet, hat das Leben keinen Wert mehr für Faust.
Die Formulierung ist auch eine rechtliche, fast juristisch-feierliche Formel: »So sei es!« – als spräche Faust einen Schwur aus oder schlösse einen Vertrag. In der Tat wird dieser Satz in der Szene als Teil der Vertragsverhandlung mit Mephisto gesprochen. Faust definiert seine eigene Grenze zwischen Leben und Tod nicht biologisch, sondern existenzialistisch: Nicht das Aufhören der Atmung, sondern das Aufgeben des Strebens bedeutet das Ende.

Zusammenfassend 1692-1693
Diese beiden Verse markieren einen entscheidenden Augenblick im Drama – sowohl biographisch für Faust, als auch metaphysisch für das Menschenbild, das Goethe hier inszeniert. Sie stehen im Zentrum des »Faustischen Prinzips«:
1. Anthropologie der Rastlosigkeit:
Faust glaubt, der Mensch sei nur dann wahrhaft Mensch, wenn er niemals zur Ruhe kommt, sondern immer strebt, immer tastet, immer ringt. Ruhe wird mit Tod gleichgesetzt, Bewegung mit Leben. Das ist eine zutiefst moderne Vorstellung vom Menschen als dynamisches Projekt, nicht als abgeschlossene Substanz.
2. Selbstgesetzgebung als Bedingung des Pakts:
Faust definiert seine eigene Vernichtung – nicht Mephisto. Das ist mehr als Stolz: Es ist eine autonome Selbstverpflichtung, beinahe ein kantischer Gestus der Selbstgesetzgebung. Faust ist nicht verführbar durch äußere Reize, sondern nur durch sein eigenes Urteil über Erfüllung. Mephisto kann nur gewinnen, wenn Faust selbst sich als erfüllt empfindet.
3. Streben als metaphysische Pflicht:
Der Wille zum Streben wird bei Goethe zum ethisch-metaphysischen Imperativ. Die absolute Ruhe – das »Faulbett« – ist nicht einfach Faulheit, sondern ein Verrat an der göttlichen Idee des Menschen. Der Mensch soll nach dem Höchsten streben, auch wenn es unerreichbar bleibt. Das erinnert an Goethes berühmte Formel: »Das ewig Weibliche zieht uns hinan« – das Ziel ist nicht das Erreichen, sondern das Gezogenwerden.
4. Grenze zur Versuchung:
Gleichzeitig wird hier bereits die tragische Ambivalenz vorbereitet: Kann ein Mensch ewig streben, ohne je erschöpft zu sein? Ist Erfüllung nicht Teil des Lebens? Faust verlangt von sich Übermenschliches, und genau das wird Mephisto später ausnutzen, indem er Fausts Grenzen auslotet.
Fazit
In diesen beiden Versen liegt der Kern des faustischen Pakts und zugleich der Kern der modernen Subjektivität: ein rastloses, nie zur Ruhe kommendes Ich, das seine Identität allein durch sein Streben konstituiert – und dessen Untergang beginnt, sobald es sich zufrieden zurücklehnt. Goethe entwirft hier eine Psychologie des modernen Menschen, in der Bewegung über Bestand, Werden über Sein gestellt wird.

1694 Kannst du mich schmeichelnd je belügen,
Faust spricht diese Zeile zu Mephistopheles im Rahmen der Aushandlung ihres Pakts. Das zentrale Verb »belügen« steht hier in Kombination mit dem Adverb »schmeichelnd«, was eine subtile, schmeichelhafte Täuschung impliziert – nicht die brutale Lüge, sondern die sanft-verführerische. Der Satz beginnt hypothetisch (»Kannst du«), was auf eine Möglichkeit oder eine Bedingung hinweist. Faust fragt: Bist du überhaupt imstande, mich so zu täuschen, dass ich selbst der Täuschung erliege?
Damit spricht Faust ein zentrales Motiv der gesamten Tragödie an: Selbsttäuschung. Es geht nicht nur um eine äußerliche Irreführung durch Mephisto, sondern um die tiefere Frage, ob Faust sich selbst belügen lassen will. Faust ist sich der Gefahr der Täuschung bewusst – und vielleicht sehnt er sich paradoxerweise sogar danach.
Philosophisch betrachtet steht hier die Erkenntnistheorie im Raum: Kann der Mensch jemals wissen, ob das, was er empfindet oder glaubt, wirklich wahr ist – oder nur ein Produkt angenehmer Illusion? Faust fragt also: Gibt es eine Lüge, die mich so tief verführt, dass ich sie für mich selbst zur Wahrheit mache?

1695 Daß ich mir selbst gefallen mag,
Dieser Vers führt die Frage aus dem vorherigen fort und bringt ihre eigentliche Pointe: Die Lüge hätte nur dann Macht über Faust, wenn sie dazu führt, dass er sich selbst gefällt – also in einem Zustand der Selbstzufriedenheit, Selbstgenügsamkeit oder gar Selbstverherrlichung lebt.
Der Ausdruck »mir selbst gefallen« ist vielschichtig: Zum einen bezeichnet er Eitelkeit und Selbstgefälligkeit; zum anderen evoziert er den Verlust kritischer Selbstsicht. Faust, der bislang von ruheloser Selbstkritik und Erkenntnishunger getrieben ist, sieht in solcher Selbstzufriedenheit eine Art inneren Tod.
Gerade in der Selbsterkenntnis, wie sie Sokrates forderte (»Erkenne dich selbst«), liegt für Faust die letzte Wahrheit – und nicht im trügerischen Wohlgefallen an sich selbst.
Diese Zeile enthält damit eine ethisch-existenzielle Tiefe: Sich selbst zu gefallen ist für Faust nicht Ausdruck des Gelingens, sondern der Verfehlung. Es wäre ein Indikator dafür, dass er sein Streben aufgegeben und sich einer bequemen Illusion hingegeben hätte.

Zusammenfassend 1694-1695
Diese zwei Verse sind ein hochkonzentrierter Ausdruck faustischer Anthropologie: Faust will keine Täuschung, die ihn in einem Zustand subjektiven Glücks wiegt, wenn dieser auf Illusion beruht. Die Gefahr liegt darin, sich selbst durch schmeichelhafte Bilder (etwa von Erfolg, Liebe, Macht oder Weisheit) einredend zu gefallen – und damit den Drang nach Wahrheit und innerer Aufrichtigkeit zu verraten.
Hier manifestiert sich das faustische Grundmotiv: die unstillbare Sehnsucht nach Erkenntnis, Wahrheit und echter Erfahrung. Mephistos größte Versuchung wäre, Faust in die Selbstgenügsamkeit zu verführen – nicht in die Sinnlichkeit per se, sondern in einen Zustand, in dem Faust nicht mehr weiterfragt.
Im Hintergrund steht auch die Philosophie der Aufklärung und ihre Kehrseite: die dunkle Einsicht, dass der Mensch zum Selbstbetrug fähig ist – und dass Freiheit eben auch heißt, der süßen Lüge zu widerstehen, besonders wenn sie das eigene Ego schmeichelt.
Fausts Frage ist also keine naive Sorge vor Betrug, sondern ein Bekenntnis zur Wahrheitssuche um jeden Preis. Der höchste Verrat an sich selbst wäre für ihn nicht das moralische Versagen, sondern der Moment, in dem er sich selbst »gefällt«.

1696 Kannst du mich mit Genuß betrügen;
Die Struktur dieses Verses ist hochspannend. Das »betrügen« steht nicht im Widerspruch zum »Genuß«, sondern ist paradoxal mit ihm verknüpft. Faust verlangt nicht die Wahrheit, sondern eine Illusion, die als Genuß empfunden wird. Die Pointe liegt auf dem »mit Genuß« – also nicht irgendeine Täuschung, sondern eine solche, die subjektiv als Erfüllung erlebt wird.
Diese Wendung hat zwei Schichten:
Psychologisch-existentiell fordert Faust eine Betäubung seines tiefen Weltleids. Der Genuß wird zur narkotischen Form der Sinnstiftung.
Epistemologisch zeigt sich Fausts Skepsis gegenüber jeder Form von Wahrheit: Wenn schon Wahrheit nicht zu haben ist, so soll wenigstens die Lüge süß sein.
Goethe spielt hier mit der spätaufklärerischen Einsicht in die Relativität des Wissens und zugleich mit der romantischen Tendenz, Wahrheit durch Gefühl zu ersetzen. Der Begriff des Genusses ist dabei mehrdeutig: sinnlich, geistig, ästhetisch, vielleicht auch erotisch – auf jeden Fall umfassend. Der Genuß muss so stark sein, dass er Faust zur Selbstaufgabe bewegt.

1697 Das sey für mich der letzte Tag!
Dieser Vers ist performativ: Mit dem Ausdruck einer Bedingung knüpft Faust sein Leben an das Gelingen dieser Verführung. Der Genuß ist Bedingung und Grenze zugleich. Sobald Faust wünscht, dass ein Moment verweile, ist er bereit zu sterben.
Im dramatischen Kontext bedeutet dies: Faust bindet sich nicht direkt an Mephisto, sondern an das Gelingen eines innerweltlichen Erlebnisses. Der Teufel ist bloß der Mittler, der dieses Erlebnis ermöglichen soll. Die tiefere Ironie liegt darin, dass Faust ausgerechnet die Endlichkeit als Maß für das Glück setzt. Sobald er das Höchste erfährt, soll sein Leben enden – eine sehr unchristliche Vorstellung, weil sie kein Jenseits erwartet, sondern das Diesseits absolut setzt.
Zugleich formuliert Faust hier eine Art ethisch-existenzielle Wette: Er will nicht sterben, solange das Leben nicht voll erfüllt ist. Er wird nur dann sein Leben beenden, wenn es keinen Wunsch mehr gibt – das wäre das paradoxe Ende der menschlichen Sehnsucht.

Zusammenfassend 1696-1697
Diese beiden Verse gehören zu der entscheidenden Wendung im Faust, wo Faust gegenüber Mephistopheles seine Bedingung formuliert: Er wird seine Seele nur dann preisgeben, wenn er durch das irdische Leben vollkommenen, erfüllenden Genuß erfährt. Die Verse sind Teil des sogenannten »Teufelspakts«, dessen eigentliche Formulierung kurz darauf mit dem berühmten »Werd’ ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön!« kulminiert. Doch schon hier wird die entscheidende Bedingung angedeutet.
1. Skepsis gegenüber objektiver Wahrheit
Fausts Bedingung hebt die Wahrheit selbst auf: Der Genuß ist dann akzeptabel, wenn er überzeugend wirkt – ob er auf Wahrheit beruht, ist sekundär. Damit verweist Goethe auf eine Subjektivierung des Sinns. Der Mensch kann mit einer Lüge leben, solange sie erfüllend wirkt.
2. Anthropologie der Unersättlichkeit
Faust definiert sich über das Streben, das »ewige Werden«. Indem er sagt, nur wenn er je innehalten wolle, dürfe er sterben, stellt er das rastlose Streben als Wesensmerkmal des Menschen heraus. In dieser Perspektive liegt Faust nah bei Heraklit oder später Nietzsche: Der Mensch lebt nicht durch Besitz, sondern durch Bewegung.
3. Kritik an der Aufklärung und am Ideal der Selbstvervollkommnung
Faust, als Archetypus des modernen Menschen, ist von der Wissenschaft enttäuscht und sucht nun Erfüllung im Leben selbst – eine existenzielle Wendung von der ratio zur vita. Der Pakt mit Mephisto ist ein Symbol für die moderne Krise zwischen Erkenntnisdrang und Lebenssinn.
4. Zeitphilosophie: Das Moment als Grenze
Die Bedingung, dass ein Moment der Erfüllung das Leben beenden soll, wirft eine tiefe Reflexion über die Vergänglichkeit und Erfüllung in der Zeit auf. Die Zeit wird hier als Gegner, aber auch als Möglichkeit gedeutet. Die Spannung liegt im Widerspruch zwischen dem Moment und dem ewigen Streben.
5. Existenzphilosophische Vorwegnahme Kierkegaards oder Heideggers
Faust lebt in einer strukturellen Verzweiflung, in einem »Entweder–Oder«: Entweder Sinn – oder Tod. Diese radikale Bedingung, die er stellt, zeigt bereits Züge einer existentialistischen Freiheitskonzeption, in der der Mensch sich selbst durch Entscheidung und Bedingung setzt.

1698 Die Wette biet’ ich!
Mit diesen Worten bekräftigt Faust, dass er den zuvor ausgehandelten Pakt mit Mephistopheles tatsächlich annimmt. Die Formulierung ist lakonisch, prägnant und trägt etwas Spielerisches in sich. Die »Wette« ist zugleich eine Form der Selbstverpflichtung: Faust setzt sein ganzes Leben und sein metaphysisches Heil auf eine Bedingung – nämlich dass Mephistopheles ihn jemals in einen Zustand bringen könne, in dem er mit der Welt zufrieden ist.
Der Begriff »Wette« verweist auf eine lange philosophisch-theologische Tradition: Bereits im Buch Hiob stellt Satan eine Wette mit Gott an, ob Hiob angesichts von Leiden seinem Glauben treu bleibe. Auch bei Faust wird nicht direkt mit Gott gewettet – das hat Mephistopheles schon im »Prolog im Himmel« getan –, aber Faust selbst wiederholt dieses Motiv nun auf irdischer Ebene. Er bezieht sich aktiv in das Spiel ein. Damit wird Faust zum verantwortlichen Subjekt seines Schicksals. Die Tragik entsteht nicht nur durch die Verführung, sondern durch die bewusste Zustimmung zum Wagnis.
Die Kürze der Aussage »Die Wette biet’ ich!« ist dramatisch pointiert und inhaltlich gravierend: ein Augenblick vollkommener Willensfreiheit, aber mit unausweichlichen Folgen.

Mephistopheles.
1698 Top!
Die Antwort Mephistopheles’ ist ebenso lakonisch. »Top« ist ein damaliger Ausdruck beim Spiel oder Wetten, etwa gleichbedeutend mit »angenommen« oder »einverstanden«. Diese saloppe, fast volkstümlich klingende Interjektion kontrastiert mit dem existenziellen Ernst der Situation.
Mephistopheles macht aus dem metaphysischen Vertrag ein »Spiel« im trivialen Sinn. Die Entheiligung des Paktmoments durch diese banale, fast burschikose Zustimmung ist charakteristisch für den Mephistopheles dieser Szene: Er steht für Ironie, Herabsetzung, die Brechung aller Pathosgebärden. Hierin liegt ein dämonischer Zug: Das Höllische zeigt sich nicht in Schreckensgestalt, sondern in der Verharmlosung des Unheils.
Zugleich ist »Top!« ein Siegessignal: Mephistopheles hat erreicht, was er will – ein Mensch hat sich ihm freiwillig verschrieben.

Faust.
1698 Und Schlag auf Schlag!
Mit dieser Zeile wird die Wette sofortig besiegelt. Faust drängt auf rasche Handlung, ohne Zögern, ohne Umschweife. Die Redewendung »Schlag auf Schlag« bedeutet: unmittelbar aufeinanderfolgend, ohne Pause, mit unmittelbarem Vollzug. Es ist ein Ausdruck des Willens zur Tat, zum Aufbruch, zum Handeln – eine seelische Verfassung, die Goethe oft mit dem Begriff »Tatendrang« beschreibt.
Faust will nicht philosophieren, sondern erleben. Damit offenbart sich eine existentielle Ungeduld, ja Gier nach Leben, nach Erfahrung, nach Bewegung. Der Mensch Faust ist im Moment der Entscheidung von einer inneren Dynamik getrieben, die ihn aus der Sphäre der bloßen Reflexion hinaustreibt – ein tragischer Überschwang, der ihn blind macht für die Konsequenzen.

Zusammenfassend 1698
In diesen drei knappen Versen verdichtet sich ein ganzer Komplex menschlicher Existenzfragen:
1. Willensfreiheit und Selbstverantwortung:
Faust handelt aus freiem Willen. Seine Zustimmung zur Wette ist kein Betrug Mephistopheles’, sondern ein bewusstes Einverständnis. Damit wird die Schuldfrage komplex: Faust ist kein bloß Verführter, sondern ein Aktiver – und genau das ist der Kern goethescher Tragik.
2. Metaphysisches Spiel:
Die Wette, eigentlich eine Form der Leichtfertigkeit, wird hier zur Struktur für existentielle Entscheidungen. Das Tragische liegt in der Profanierung des Höchsten: Ewigkeit, Erlösung, Seele – alles wird zum Spielobjekt.
3. Zeitlichkeit und Augenblick:
Die Wette dreht sich um den einen »Augenblick«, in dem Faust sagen würde: »Verweile doch! du bist so schön!« – Das Thema des erfüllten Moments steht im Zentrum. In dieser Szene beginnt das Drama um die Frage: Gibt es einen Augenblick, der das Leben selbst rechtfertigt?
4. Ironie des Dämonischen:
Mephistopheles' »Top!« ist eine Karikatur des Sakralen. Das Diabolische liegt bei Goethe nicht im Monströsen, sondern im Banalen, im Ironischen, im Leichten, das das Schwere entwertet.
5. Tat- und Erkenntnistrieb:
Fausts »Schlag auf Schlag!« ist Ausdruck des Willens, die Welt nicht bloß zu verstehen, sondern zu durchdringen, zu verwandeln, zu erleben. Damit steht Faust im Spannungsfeld zwischen antiker bios theoretikos (das Leben des Denkens) und moderner Aktivitätsethik.
Fazit
In dieser kurzen Sequenz kulminiert der Übergang vom Grübler zum Handelnden, vom Wissenden zum Wagnenden. Faust erklärt sich zum Einsatz seines eigenen Lebens – aus freiem Willen, in der Hoffnung auf einen erfüllenden Moment. Der Mensch tritt in ein Spiel ein, das ihn übersteigen wird – und genau darin liegt Goethes tiefste Darstellung menschlicher Freiheit und tragischer Größe.

1699 Werd’ ich zum Augenblicke sagen:
Hier formuliert Faust eine hypothetische Bedingung, die er mit Mephistopheles zuvor ausgehandelt hat. Wenn es je einen Moment geben sollte, den Faust so sehr genießt, dass er ihn festhalten möchte, dann soll sein Leben enden – er hätte verloren. Dieses »zum Augenblicke sagen« ist mehr als nur eine Redewendung – es ist die Versuchung, das Unendliche im Endlichen zu fassen. Faust ist ein ruheloser Geist, der sich nicht mit dem Gegebenen begnügt. Die Bedingung, die er hier stellt, ist also Ausdruck seines metaphysischen Strebens: Nur wenn er in einem Moment die absolute Erfüllung fände – die er bislang im Studium, in der Magie, in der sinnlichen Welt nicht gefunden hat –, würde er stillstehen.
Die Konstruktion im Futur (»Werd’ ich«) weist auf eine potenzielle Zukunft hin, deren Eintreten mit einem existenziellen Preis verknüpft ist. Es ist auch ein performativer Sprechakt: Sollte dieser Satz je ausgesprochen werden, ist Fausts Seele verloren – wie ein Bannspruch oder eine Selbstverfluchung.

1700 Verweile doch! du bist so schön!
Dieser Vers ist zugleich der conditio damnationis und Ausdruck tiefster Sehnsucht. Das »Verweile doch!« ist die Bitte, die Zeit anzuhalten, das Fließen des Lebens zu stoppen – genau das, was Fausts Existenz als suchender, strebender Mensch eigentlich ausschließt. Es ist der Wunsch nach dem Innehalten im Moment der höchsten Schönheit oder Erfüllung. Die Schönheit des Moments wird als so überwältigend empfunden, dass Faust ihn nicht mehr übertreffen möchte – ein Gedanke, der seinem bisherigen Lebensdrang widerspricht.
Doch das Streben Fausts ist ja unabschließbar, und genau darin liegt seine Größe: Er will das Unendliche, das Göttliche, das Absolute. Sollte aber ein Moment ihm genügen, dann wäre das Ziel erreicht – und zugleich das Ende.
Philosophisch tief ist der Gedanke, dass das Anhalten des Augenblicks einer Verneinung des Lebens gleichkommt. Denn Leben bedeutet Bewegung, Entwicklung, Werden. Das Festhalten eines Momentes wäre Stagnation und Tod. Der Augenblick, den man festhalten möchte, wird paradoxerweise zerstört, sobald man ihn festhält – ähnlich wie in mystischer Erfahrung oder romantischer Ironie.

Zusammenfassend 1699-1700
Diese berühmten Verse gehören zu den zentralsten und meistzitierten des gesamten »Faust« und stehen im Zentrum der Wette zwischen Faust und Mephistopheles. Sie offenbaren in kondensierter Form Fausts innerstes Streben und zugleich seine existentielle Gefährdung.
1. Zeit und Ewigkeit:
Fausts Wunsch, den Augenblick anzuhalten, bringt ihn in Konflikt mit der Dynamik der Zeit. Die Zeit ist das Medium der Endlichkeit, das Streben ist ihr Motor. Ein Augenblick absoluter Schönheit wäre ein Bruch mit dieser Dynamik und ein Einbruch des Ewigen in das Zeitliche. Doch das Ewige kann im Zeitlichen nicht verharren, ohne es zu zerstören.
2. Subjektives Glück vs. metaphysische Wahrheit:
Faust stellt seine subjektive Erfahrung – die Schönheit des Augenblicks – als höchstes Kriterium auf. Das Glück, das sich darin zeigt, ist jedoch fragil: Kann ein Moment Glück tatsächlich ewig sein, oder ist seine Schönheit gerade in seiner Flüchtigkeit begründet? Goethe spielt hier mit der Idee, dass das Streben selbst das Wesen des Menschseins ist – nicht das Erreichen.
3. Der Preis des erfüllten Lebens:
Faust bietet seine Seele dem Teufel, wenn er je mit einem Augenblick zufrieden ist. Das heißt: Der höchste Grad menschlicher Erfüllung ist zugleich der Punkt, an dem das Leben aufhört – metaphysisch, spirituell, vielleicht auch tatsächlich. Das Streben macht lebendig, das Verweilen tötet.
4. Anthropologische Grundaussage:
Der Mensch ist ein Wesen des »Mehr«, ein Mangelwesen (Plessner, Gehlen), das nie in sich ruht. Faust ist Inbegriff dieses homo viator, des wandernden, suchenden Menschen. Die Schönheit des Augenblicks ist verführerisch – aber Stillstand ist Tod. Goethe scheint zu sagen: Nur im ständigen Werden ist der Mensch wahrhaft Mensch.
5. Goethes Mystik des Augenblicks:
Trotz der Warnung vor dem »Verweile doch« birgt der Augenblick bei Goethe auch etwas Göttliches – die Möglichkeit einer Offenbarung. In Faust II, im Moment des höchsten Einsatzes in der gesellschaftlichen Welt, ruft Faust diesen Satz tatsächlich aus – aber im Sinne der tätigen Liebe. Das verweilte Glück ist nicht das passive Genießen, sondern das tätige Gestalten.
Fazit
Diese zwei Verse gehören zum poetisch-philosophischen Kern von Goethes Faust I. In ihnen kreuzen sich existentielle Fragen nach Glück, Erfüllung, Zeit, Tod, Sinn und menschlicher Natur. Der Wunsch, den Augenblick zu fixieren, ist eine mystische Versuchung – aber auch die Bedrohung des Menschlichen. In der Dialektik zwischen Streben und Verweilen liegt die Tragik – und Größe – der faustischen Existenz.

1701 Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Die Konjunktion »Dann« verweist auf eine konditionale Struktur – Faust formuliert eine hypothetische Bedingung: Wenn er jemals in einem Zustand der vollkommenen Befriedigung verharrt (wie im vorigen Verszusammenhang angekündigt: »Verweile doch, du bist so schön!«), dann soll Mephistopheles ihn in »Fesseln schlagen« dürfen.
Der Ausdruck »in Fesseln schlagen« evoziert klare Bilder von Gefangenschaft und Fremdbestimmung. In symbolischer Hinsicht verweist das auf den Verlust geistiger Freiheit und innerer Bewegung. Faust, der sich durch das ganze Drama hindurch als rastlos Suchender und niemals Befriedigter zeigt, erklärt sich bereit, seine existenzielle Bewegung nur dann aufzugeben, wenn ein Moment kommt, in dem er das Absolute im Endlichen erkennt.
Hier bricht sich ein Motiv Bahn, das tief im deutschen Idealismus verwurzelt ist – namentlich in Kants und Fichtes Freiheitsphilosophie: Der Mensch soll niemals zum bloßen Objekt werden, sondern bleibt Subjekt durch das unaufhörliche Streben, nicht durch Genugtuung. Die »Fessel« steht hier für den endgültigen Bruch mit dem Streben – mithin für den Tod des freien Geistes.

1702 Dann will ich gern zu Grunde gehn!
Auch dieser Vers steht unter dem Diktat der Bedingung. Faust erklärt sich bereit, nicht nur sich fesseln zu lassen, sondern zu Grunde zu gehen – ein Ausdruck, der sowohl den physischen Tod als auch den geistigen Untergang umfasst. Die Formulierung »gern« ist von tragischer Ironie: Die Preisgabe seiner Existenz geschieht nicht widerwillig, sondern im vollen Bewusstsein und mit Zustimmung.
Philosophisch gesehen ist das ein Akt radikaler Selbstverpflichtung: Faust stellt sein Dasein unter die Bedingung der Sinnhaftigkeit. Sollte sich diese Sinnhaftigkeit je in einem Moment vollkommen realisieren, dann wäre das Streben beendet – und mit ihm das Leben selbst. Das stellt nicht nur eine existentielle, sondern auch eine metaphysische Wette dar. Faust wagt das Absolute im Zeitlichen – eine Unmöglichkeit im klassischen metaphysischen Denken, und doch das Ideal der Romantik und des frühen Idealismus.

Zusammenfassend 1701-1702
Diese beiden Verse stehen im dramatischen Höhepunkt des sogenannten »Paktgesprächs« zwischen Faust und Mephistopheles. Es handelt sich dabei um Fausts zentrale Selbstverpflichtung im Rahmen der Wette.
Diese zwei Verse verdichten das zentrale Paradox des gesamten Faust-Dramas:
1. Das Streben als Existenzprinzip:
Faust ist ein Symbol des modernen Menschen, dessen Identität nicht mehr durch Herkunft, Stand oder Offenbarung bestimmt ist, sondern durch das unaufhörliche Streben nach Erkenntnis, Glück und Sinn. Dieses Streben wird hier zur Bedingung seines Lebens.
2. Die Dialektik von Freiheit und Bindung:
Die Bereitschaft, sich »in Fesseln schlagen« zu lassen, ist paradox: Nur wenn er das Streben selbst aufgibt, wird er unfrei – aber gerade darin liegt die Bedrohung der eigentlichen menschlichen Würde.
3. Zeit und Ewigkeit:
Faust bietet Mephisto die Seele an, wenn ein Moment ihn so sehr erfüllt, dass er ihn ewig machen möchte (»Verweile doch!«). Damit stellt er sich gegen die religiöse Idee, dass nur das Göttliche ewig und das Irdische vergänglich sei. Er sucht das Ewige im Zeitlichen – was von Mephisto, dem Verführer zur Diesseitigkeit, provoziert wird.
4. Selbstüberbietung und Scheitern:
Die Verse zeigen auch Fausts Hybris: Er glaubt, durch ein Leben voller Erfahrungen möglicherweise einen Moment des vollkommenen Glücks finden zu können. Doch darin liegt bereits der Keim seines möglichen Scheiterns, da das Streben an sich nicht durch äußere Erfüllung beendet werden kann.
Fazit
Diese zwei Verse markieren eine existentielle Selbstbindung, deren Tragweite das ganze Drama durchzieht. Faust macht sein Leben zur Wette auf die Möglichkeit einer vollkommenen Sinnerfüllung im Irdischen – ein Gedanke, der theologisch gefährlich, philosophisch faszinierend und dramatisch folgenreich ist. Sie bilden die Grundlage für Mephistos Zugriff und setzen den Rahmen für die weitere Handlung, in der sich erweisen muss, ob der Mensch durch sein Streben der Verdammung oder der Erlösung zugeführt wird.

1703 Dann mag die Todtenglocke schallen,
Dieser Vers ist ein Ausruf Fausters, gerichtet an Mephistopheles, mit dem er die Bedingung formuliert, unter der er bereit ist, sein Leben zu beenden. Die Formulierung ist theatralisch und enthält das Bild der »Todtenglocke« – ein traditionelles Zeichen für das nahe Ende eines Menschenlebens, wie es in kirchlichen Riten üblich war. Diese Glocke symbolisiert hier nicht nur das körperliche Sterben, sondern auch das metaphysische Ende der Seele, vielleicht sogar das Scheitern der menschlichen Existenz an sich. Der Konjunktiv »mag … schallen« drückt zugleich eine hypothetische Zukunft und eine innerlich akzeptierte Möglichkeit aus – Faust stellt seine Lebensverneinung in Aussicht für den Fall, dass das Leben ihn nicht mehr zu höherem Streben treiben sollte. Die »Todtenglocke« fungiert hier als Memento mori – als Erinnerung an die Vergänglichkeit, aber auch als Grenze, an die Faust den Wert seines Lebens bindet.
In dieser Zeile steckt also ein radikales Zeit- und Lebenskonzept: Das Leben ist nur lebenswert, wenn es stetig auf Transzendenz, auf Bewegung, auf »Streben« gerichtet ist. Sobald dieses Streben endet – sobald der Mensch im »Augenblick« verweilen will –, ist das Leben aus Fausters Sicht bereits symbolisch tot. Er stellt damit eine existenzielle Bedingung: Das Leben ohne Streben ist gleichbedeutend mit dem Tod.

1704 Dann bist du deines Dienstes frey,
Faust wendet sich mit diesem Satz direkt an Mephistopheles, und mit dieser Formulierung macht er deutlich, dass der Teufel ihn in jenem Moment »freigeben« kann – oder besser: beanspruchen kann. Denn der scheinbare »Freispruch« des Teufels ist in Wahrheit die Einlösung des Paktes, bei dem Fausts Seele dem Teufel gehört, sobald er den Willen zum Streben verliert. Der Ausdruck »deines Dienstes« spielt auf den Vertrag an, in dem Mephistopheles Faust auf Erden dient, während Faust ihm dafür nach dem Tod dient.
Das Paradox in dieser Aussage liegt in der Vorstellung von Freiheit. Denn das Ende des Dienstes Mephistos bedeutet nicht Freiheit im eigentlichen Sinn, sondern den Eintritt Fausts in die absolute Unfreiheit: Er wird nach seinem Tod dem Teufel gehören. Diese ironische Verkehrung spiegelt Goethes tiefes Interesse an den Doppelbödigkeiten von Freiheit, Abhängigkeit und Selbstbestimmung wider. Der Mensch, der glaubt, sich von allem befreien zu können, stellt sich hier unversehens unter ein noch absolutes Joch.

Zusammenfassend 1703-1704
Diese beiden Verse bilden den Kern des sogenannten »Teufelspakts«. Sie formulieren den Preis, den Faust zu zahlen bereit ist, sollte er je in Selbstgenügsamkeit oder Behaglichkeit verharren. Fausts Streben ist ein metaphysisches Streben nach Totalität, nach dem »Göttlichen« im Menschen, wie es Goethe im Geist der Weimarer Klassik verstand: Der Mensch als ein sich entwickelndes Wesen, das nur im Werden – nie im Sein – seine Bestimmung findet. Damit wird Faust zum radikalen Antipoden der hedonistischen Lebenshaltung.
Philosophisch steht dieser Moment im Zeichen eines existenziellen Idealismus: Der Mensch lebt nur wahrhaft, solange er sich über das Gegebene hinaus erhebt. Fausts Bedingung stellt eine Ethik des permanenten Transzendierens dar, die sich gegen jede Form von Stillstand, Genügsamkeit oder Konsumismus richtet. Damit knüpft Goethe nicht nur an antike Vorstellungen des homo viator, des wandernden, suchenden Menschen an, sondern auch an die spätere existentialistische Idee (bei Kierkegaard, Nietzsche oder Heidegger), dass das menschliche Dasein durch den Sprung, die Entscheidung, das »Noch-nicht« bestimmt ist.
Der Tod wird in diesem Kontext nicht biologisch, sondern metaphysisch gefasst: Als Verlöschen des Geistes, als Ende des inneren Feuers. Der Mensch ist tot, wenn er sich selbst genügt.

1705 Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen,
In dieser Zeile vollzieht Faust ein symbolisch hochbedeutsames Bild: Er stellt sich vor, dass die Zeit selbst aufgehoben wird – die Uhr steht still, der Zeiger fällt. Der Uhrzeiger ist dabei pars pro toto für den linearen, messbaren Verlauf der Zeit, wie sie etwa durch den Tagesrhythmus oder den akademischen Kalender strukturiert ist.
Faust verwirft diese Zeitordnung radikal. Die Uhr – Inbegriff bürgerlicher Rationalität, wissenschaftlicher Messbarkeit und theologischer Geschichtsteleologie – wird hier entmächtigt. In der Vorstellung, dass der Zeiger »fallen« möge, klingt nicht nur eine mechanische Störung, sondern fast eine sakrale Erschütterung an: Zeit selbst, als metaphysisch strukturierendes Prinzip, wird von Faust zur Disposition gestellt.
Dies erinnert an ähnliche Bilder in mystischen oder romantischen Kontexten, etwa Novalis’ »Abend wird’s, es ruhen die Gänge / Aller Zeitlichkeit« oder an die Idee der Zeitlosigkeit im mystischen Einswerden mit dem Absoluten.

1706 Es sey die Zeit für mich vorbey!
Mit dieser Aussage radikalisiert Faust seine Abkehr vom Zeitlichen noch weiter: Es geht ihm nicht mehr bloß um eine hypothetische Stillstellung der Uhr, sondern um eine existentielle Absage an das Leben in der Zeit. Die Wendung »für mich« ist entscheidend – sie zeigt, dass Faust sich subjektiv aus der Zeit herausnimmt, sich gleichsam an einen todesnahen oder jenseitigen Ort versetzt.
Zugleich klingt in der Formulierung »es sey« eine Art magischer Imperativ oder sogar ein performativer Willensakt an – als wolle Faust durch die Kraft seines Sprechens Wirklichkeit setzen. Diese Wortwahl hat beinahe den Tonfall biblischer Schöpfungssprache (»Es werde Licht«), allerdings im umgekehrten Sinn: nicht Schöpfung, sondern Aufhebung der Weltzeit ist das Ziel.
Im Zusammenhang der Szene handelt es sich hier um den emotionalen Kulminationspunkt Fausts Suizidgedanken: Er ist fest entschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen, weil er in der Welt keine Wahrheit, keine Tiefe, keinen Sinn mehr findet. Das »vorbey« ist dabei doppeldeutig: Es meint sowohl das Ende einer biographischen Zeitspanne als auch die Vorstellung, dass alle Hoffnung und aller Sinn an ihm »vorbeigegangen« sei.

Zusammenfassend 1705-1706
Die beiden Verse artikulieren ein zentrales Motiv der frühromantischen Existenzkritik und der metaphysischen Verzweiflung des modernen Menschen. Fausts Sehnsucht nach der Überwindung der Zeit verweist auf eine fundamentale Krise des Subjekts im Zeitalter der Aufklärung. Die äußere Welt – von Uhren, Ordnung, Messbarkeit und Fortschritt regiert – ist für ihn sinnentleert. Die lineare Zeit (Chronos) kann seine innere Leere nicht füllen, er sehnt sich nach einer anderen Zeit – einer erfüllten, »kairologischen« Zeit, in der Sinn und Dasein zusammenfallen.
Darin liegt auch ein metaphysischer Protest: Faust stellt sich gegen das Weltganze, wie es von Gott, Natur und Gesellschaft eingerichtet ist. Der Wunsch, dass »die Zeit für \[ihn] vorbey« sei, ist eine Rebellion gegen das Dasein, wie es gegeben ist – ähnlich wie in Schopenhauers Willensverneinung, aber aus einer noch unerlösteren, von tiefer Ungeduld getriebenen Position.
Zugleich ist dies der Vorabend des Pakts mit Mephisto: Das Gefühl, mit der Zeit abgeschlossen zu haben, macht Faust bereit, sich einem zeitüberschreitenden Prinzip zu öffnen – wenn auch einem dunklen.
Die Szene ist deshalb nicht nur ein psychologisches Porträt, sondern ein existentiales Drama im Kern: Faust steht an der Grenze zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Sein und Nichtsein – und entscheidet sich für einen Weg, der beides durchquert.

Mephistopheles.
1707 Bedenk’ es wohl, wir werden’s nicht vergessen.
Dieser Satz ist eine doppeldeutige Warnung und zugleich ein Stück juristische Spitzfindigkeit. Mephistopheles drängt Faust dazu, sich der Tragweite des Pakts bewusst zu sein. »Bedenk’ es wohl« kann einerseits bedeuten: »Sei dir im Klaren, worauf du dich einlässt«, andererseits aber auch: »Denke jetzt gut nach, denn später wirst du dich nicht herausreden können.«
Die Fortsetzung »wir werden’s nicht vergessen« klingt wie die Stimme eines Beamten oder Gerichtsschreibers. »Wir« steht hier nicht nur für Mephisto allein, sondern evoziert ein überindividuelles Prinzip – eine Instanz des Gedächtnisses, vielleicht sogar der Hölle, die unverrückbar Protokoll führt. Es ist auch ein Spiel mit der Ironie des Teufels: In einem Universum, in dem der Mensch vergänglich und fehlbar ist, ist der Teufel der, der erinnert – unerbittlich.
Das Motiv des Gedächtnisses steht damit im Gegensatz zur menschlichen Tendenz zur Verdrängung oder Selbsttäuschung. Mephistopheles hält sich (anders als Faust später vielleicht) exakt an das Vereinbarte – ein Paradox der teuflischen Logik: dass gerade das Böse die Ordnung wahrt.

Faust.
1708 Dazu hast du ein volles Recht;
Diese Antwort Fausts wirkt zunächst wie eine Geste der Zustimmung und Selbstverantwortung. Er gibt Mephisto das Recht, ihn an den Pakt zu erinnern – scheinbar souverän, fast lakonisch. Doch gerade diese Lakonie verrät eine doppelte Spannung:
1. Psychologisch: Faust antwortet mit einer Art stoischer Kälte. Er ist entschlossen, hat die Entscheidung getroffen, vielleicht auch, weil er sich selbst über seine Zweifel und Ängste hinwegtäuschen will. Die Zustimmung wird zur inneren Flucht – er muss Mephisto dieses Recht zugestehen, um seine Freiheit zu behaupten.
2. Philosophisch-rechtlich: Indem Faust Mephistopheles das »volle Recht« gibt, anerkennt er das Prinzip der Gegenseitigkeit in einem Vertrag. Das hebt den Moment über den bloßen »Teufelspakt« hinaus: Es ist nicht nur ein dämonisches Spiel, sondern eine juristische Struktur, in der Faust sich selbst bindet. Und genau darin liegt die tragische Ironie: Er glaubt, autonom zu handeln, und gerät gerade dadurch in die tiefste Unfreiheit. Die Anerkennung des Rechts des Teufels ist die Preisgabe der eigenen innersten Souveränität.

Zusammenfassend 1707-1708
1. Freiheit und Verantwortung:
Die Szene zeigt einen entscheidenden Moment im Spannungsfeld von Freiheit und Notwendigkeit. Faust wählt, aber der Teufel wird »nicht vergessen« – er vergisst nicht, was Menschen oft verdrängen: die Folgen ihrer Entscheidungen. Die Frage, ob der Mensch durch Wissen und Streben frei wird oder sich gerade dadurch in neue Abhängigkeiten verstrickt, wird hier verdichtet.
2. Gedächtnis und Schuld:
Mephistopheles wird zum Erinnerer, zum Gewissen im Schatten. In christlicher Theologie wie auch in der Tragödientradition (etwa bei Aischylos) ist das Erinnern oft mit dem Schuldgedächtnis verbunden. Die Hölle ist nicht unbedingt Feuer, sondern: das ewige Wissen um das, was man tat – und nicht tat.
3. Der Teufel als Wahrer der Ordnung:
Ironisch ist, dass Mephistopheles, das Prinzip der Verneinung, in seiner Funktion als Vertragspartner und Mahner eine Ordnung repräsentiert. Dies verweist auf das tiefe Paradox des Bösen in Goethes Welt: Es zerstört und ordnet zugleich. Das Böse ist nicht anarchisch, sondern strukturiert. In der Tiefe ist Mephisto nicht nur ein Zerstörer, sondern auch ein Vollstrecker der Logik – und gerade deshalb gefährlich.
Diese beiden Verse – scheinbar nur ein kleiner Austausch zwischen zwei Figuren – bündeln zentrale Fragen des gesamten Dramas: Was bedeutet es, sich zu binden? Ist Freiheit ohne Erinnerung möglich? Und ist das Böse nicht gerade deshalb so wirkmächtig, weil es besser erinnert als der Mensch?

1709 Ich habe mich nicht freventlich vermessen.
Faust rechtfertigt sich gegenüber Mephistopheles oder auch vor sich selbst. Der Ausdruck »freventlich vermessen« bedeutet eine anmaßende, sündhafte Überschreitung von göttlicher oder sittlicher Grenze – eine Hybris also. Faust will sich nicht des Übermuts oder der Blasphemie schuldig wissen. Das Adjektiv »freventlich« hat religiöse Konnotationen; es meint eine frevelhafte Handlung im Sinne eines Vergehens gegen das göttliche Gebot.
Fausts Aussage ist ambivalent: Einerseits ist sie eine Abwehr gegenüber dem Verdacht der Hybris, andererseits legt die Notwendigkeit dieser Abwehr nahe, dass er sich ihrer wohl doch nicht ganz sicher ist. Der Subtext ist daher: Er hat vielleicht doch eine Grenze überschritten – zumindest an der Schwelle.

1710 Wie ich beharre, bin ich Knecht,
Hier reflektiert Faust seine existenzielle Lage: So, wie er in seiner momentanen Lebensweise »beharrt« – also durch sein Verharren im status quo der bloßen Gelehrsamkeit –, bleibt er ein »Knecht«. Das Wort »Knecht« ist vielschichtig. Es bedeutet sowohl Unterworfener als auch ein Werkzeug im Dienste eines Höheren. Es verweist auf soziale, theologische und metaphysische Abhängigkeit.
Diese Aussage kontrastiert mit Fausts vorherigen Bestrebungen nach absoluter Freiheit und Erkenntnis. Er erkennt hier, dass seine bloße Beharrung – sein Verharren im Intellekt, in der Theorie – ihn nicht befreit, sondern versklavt. Er ist Knecht: einem System, einem Herrn, einem metaphysischen Gefüge unterworfen. Es bleibt nur unklar: welchem?

1711 Ob dein, was frag’ ich, oder wessen.
Diese letzte Zeile vertieft das existentielle Dilemma. »Ob dein« meint: »ob dein Knecht« – das »dein« bezieht sich auf Mephistopheles. Faust stellt also die Frage, ob er Mephistos Knecht ist, oder jemand anderes, oder überhaupt wessen Knecht er sei. Doch er fügt sogleich hinzu: »was frag’ ich« – was kümmert es ihn noch, wem er untertan ist?
Diese Geste der Resignation, vielleicht auch Verzweiflung, offenbart eine philosophische Radikalität: Faust bekennt, dass der Mensch nie völlig frei ist. Es gibt keine Position jenseits von Dienstbarkeit oder Abhängigkeit. Selbst im Streben nach Befreiung gerät er – so die zugrunde liegende Dialektik – in neue Formen der Knechtschaft. Damit steht er in einer langen Reihe philosophischer Denkfiguren vom servus Augustins über Luthers Unfreiheit des Willens bis zu Hegels Herr-Knecht-Dialektik.

Zusammenfassend 1709-1711
Diese drei Verse markieren eine bedeutsame Stelle im Dialog zwischen Faust und Mephistopheles. Faust befindet sich hier in einem inneren Zwiespalt: Er hat gerade dem Teufel, Mephistopheles, seine Dienste im Diesseits angeboten, im Gegenzug für die Erfahrung der höchsten Erfüllung – was später zur berühmten Wette führt. In diesem Moment jedoch ringt Faust noch um seine eigene moralische Selbstvergewisserung.
1. Freiheit und Knechtschaft
Faust bringt hier eine fundamentale Einsicht zum Ausdruck: Der Mensch kann sich nicht in einen neutralen, herrschaftsfreien Raum stellen. Selbst sein Streben nach Autonomie verstrickt ihn in neue Abhängigkeiten. Der scheinbar frei sich entwerfende Mensch erkennt: Er ist und bleibt Knecht – entweder der göttlichen Ordnung, seiner Begierden, des Bösen, des Systems, des eigenen Ichs. Das hat existenzialistische Vorwegnahmen: Es gibt keine Freiheit ohne Bindung, und diese ist oft unbewusst gewählt.
2. Verlust des moralischen Maßstabs
Indem Faust fragt »was frag’ ich«, stellt er den Wert solcher moralischen und metaphysischen Unterscheidungen überhaupt in Frage. Es ist gleichgültig geworden, »wessen« Knecht man ist – Gott, Teufel, Weltgeist, Erkenntnisdrang. Hier kulminiert ein Nihilismus, der aus der Enttäuschung über das bloße Denken erwächst. Was zählt, ist nicht mehr, ob man dem Guten oder dem Bösen dient – sondern, dass man lebt, wirkt, erfährt.
3. Vorbereitung des Pakts mit Mephistopheles
Fausts Worte bereiten die Logik des bald folgenden Pakts vor: Wenn der Mensch ohnehin unfrei ist, warum nicht dem Teufel dienen, sofern dies zu intensiverem Leben führt? Die moralische Ambivalenz dieser Zeilen ist deshalb so wirkmächtig, weil sie keinen klaren Standpunkt mehr kennen: Sie zeigen einen Faust, der sich nicht aus Prinzip oder Rebellion an das Böse verkauft, sondern weil er im Guten keine Befreiung mehr sieht.
Fazit
In diesen drei Versen verdichtet Goethe eine existentielle Krise von ungeheurer Tiefe. Faust erkennt, dass sein Beharren im Denken ihn zum Knecht macht – ohne dass er sagen könnte, wessen. Es ist der Moment, in dem Freiheit als Illusion erscheint und moralische Differenz aufgehoben wird. Diese Passage markiert somit einen Knotenpunkt der tragischen Anthropologie des modernen Menschen: Der Mensch will alles – aber kann niemals aus der Struktur des Dienstes ausbrechen. Das ist die Dialektik von Erkenntnis, Freiheit und Verstrickung, wie sie Goethe meisterhaft verdichtet.

Mephistopheles.
1712 Ich werde heute gleich, beym Doctorschmaus,
Mephistopheles spricht hier mit ironischem Unterton. Der »Doctorschmaus« ist das Festmahl, das traditionell nach einer bestandenen Promotion oder einem erfolgreichen Doktorexamen veranstaltet wird. Im Drama bezieht sich dies auf Fausts (symbolische) Promotion, die im Sinne des Pakts mit dem Teufel steht – ein Übergang zu einer höheren »Wirklichkeit«, aber nicht im akademisch-redlichen Sinn, sondern als Übergabe seines Seins an eine dämonische Macht.
Der Ausdruck »heute gleich« verstärkt die Dringlichkeit und Schnelligkeit des Geschehens – Mephistopheles ist bereit, unverzüglich in Aktion zu treten. Das zeigt seine dämonische Dienstbereitschaft – aber auch seinen Spott über die menschlichen Rituale und Ehrentitel. Das »Schmausen« erhält hier eine zweideutige Färbung: Einerseits feiert man den akademischen Aufstieg, andererseits bereitet sich Mephistopheles darauf vor, seine Rolle im höllischen Schauspiel aufzunehmen.
Es ist auch denkbar, dass Goethe hier eine Satire auf die Eitelkeit akademischer Rituale liefert: Der »Doctorschmaus« wird durch die Präsenz Mephistopheles’ entwertet und profaniert – das Fest wird zur dämonischen Farce.

1713 Als Diener, meine Pflicht erfüllen.
Diese Aussage ist in höchstem Maße doppelbödig. Mephistopheles bezieht sich auf die Vereinbarung, Faust »zu dienen«, um ihn im Gegenzug zu seiner »Erfüllung« zu führen. Die Ironie liegt darin, dass Mephistopheles zwar formal als »Diener« auftritt, aber seine wahre Absicht darin besteht, Faust zu verführen und zu verderben. Die Rede von der »Pflicht« wirkt daher wie eine diabolische Karikatur moralischer Kategorien.
Mephistopheles pervertiert den Begriff des Dienens: Es geht nicht um Demut oder Unterordnung, sondern um ein listiges Spiel mit Rollen und Masken. In der christlichen Denkweise wäre das »Dienen« ein Tugendideal – hier aber wird es zur Strategie der Verführung.

Zusammenfassend 1712-1713
1. Umkehrung des klassischen Dienstmotivs:
In der Philosophie und insbesondere in der christlich-humanistischen Tradition ist das Dienen (etwa in der Nachfolge Christi) mit Demut, Ethos und Hingabe verbunden. Mephistopheles hingegen unterwandert dieses Ideal: Er dient nur, um zu beherrschen – ein klassisches Motiv der teuflischen Subversion, das auf Augustinus’ Lehre vom amor sui (der selbstsüchtigen Liebe) anspielt.
2. Maskenspiel der Macht:
Der Teufel tarnt sich als Knecht, um Kontrolle auszuüben – eine philosophische Reflexion über Täuschung, Illusion und die Dialektik von Macht und Unterordnung. Die vermeintliche »Pflicht« ist keine sittliche Kategorie mehr, sondern ein kalkuliertes Mittel zum Zweck. Dies entspricht Goethes Faszination für Ambivalenz: Das Böse erscheint in der Maske des Guten.
3. Säkularisierte Theologie:
Der »Doctorschmaus« wird nicht als religiöser Akt der Danksagung oder geistigen Weihe inszeniert, sondern als profanes, fleischliches Fest – ein Zeichen dafür, dass der ganze Kontext des Wissens bei Goethe nicht mehr theologisch gesättigt ist, sondern ins Weltliche umschlägt. In dieser Situation gewinnt der Teufel an Raum: Wenn das Wissen sich vom Transzendenten löst, kann Mephistopheles »als Diener« in das Spiel eintreten.
4. Ironie des Fortschritts:
Goethes Mephistopheles verkörpert nicht nur das Böse, sondern auch den Geist der Aufklärung in seiner destruktiven Seite – den zersetzenden, ironischen Intellekt. Dass Mephisto ausgerechnet beim »Doctorschmaus« seine Dienste beginnt, deutet auf die Spannung zwischen Wissenschaft, Macht und moralischer Verantwortung. Der Fortschritt ist nicht rein positiv: Er kann, durch falsche Motivation und Hybris, in das Gegenteil umschlagen.

1714 Nur eins! – um Lebens oder Sterbens willen,
Die Formulierung »Nur eins!« ist eine theatralisch gesetzte Bitte oder Forderung, die den Eindruck erwecken soll, Mephistopheles wolle Faust mit einer bescheidenen Geste entgegenkommen – ein klassisches Stilmittel des Verführers. Gleichzeitig erzeugt der Einschub »– um Lebens oder Sterbens willen –« eine dramatische Überhöhung: Es klingt, als hinge alles, das ganze Sein, am Gewähren dieser einen Bitte. Das ist rhetorisch brilliant manipulativ: Der Teufel dramatisiert die scheinbar triviale Geste (eine Unterschrift) als existenziellen Moment.
Damit wird bereits das Motiv des Pakts metaphysisch aufgeladen – unterschwellig evoziert Mephisto, dass das, was nun gefordert wird, über bloße Schrift hinausgeht: Leben und Tod stehen auf dem Spiel. Auch klanglich (Alliteration »Lebens oder Sterbens«) und rhythmisch ist dieser Vers stark aufgeladen: Die Polarität von Leben und Tod verweist auf das Gesamtprojekt des Faustischen Strebens.

1715 Bitt’ ich mir ein paar Zeilen aus.
Hier wird die Bitte konkretisiert – scheinbar harmlos: Es gehe nur um »ein paar Zeilen«. Doch genau diese Verharmlosung ist das perfide Moment. Die Formulierung »bitt’ ich mir aus« ist archaisch höflich, fast galant – ein Ton, der nicht zu einem höllischen Pakt passt, und gerade deshalb irritiert. Das Verb »ausbitten« impliziert, dass Mephisto ein ihm zustehendes Recht geltend macht, das ihm von Faust gewährt werden soll.
Doch es ist nicht irgendein Text, den er erbitten will – es geht um die vertragliche Fixierung des Teufelspakts. Der Schein der Freiwilligkeit (»ich bitte«) kontrastiert mit dem existenziellen Ernst, den der vorherige Vers aufruft. Hier wird faustisch verdichtet: Das große Drama wird durch eine Geste kleiner Schrift verkörpert – das Verhängnis ist unscheinbar.

Zusammenfassend 1714-1715
In diesen zwei Versen kulminieren zentrale Themen der Faust-Tragödie:
1. Die Illusion des Formalen
Mephisto präsentiert den Vertragsabschluss als reine Formalität – »ein paar Zeilen« – während in Wirklichkeit das gesamte metaphysische Sein Fausts davon betroffen ist. Hier greift Goethe ein uraltes Motiv auf: das Verhältnis von Schrift und Wirklichkeit, Zeichen und Sein. Der Teufel operiert auf der Ebene der Form, der Sprache, der Fiktion – aber die Konsequenzen sind real.
2. Verführung durch Sprache
Die Wortwahl ist höflich, elegant und fast beiläufig – aber sie verschleiert einen Akt ontologischer Selbstpreisgabe. Der Verführer nutzt die Macht der Sprache nicht nur rhetorisch, sondern metaphysisch: Sprache wird Medium der Selbstbindung.
3. Die Preisgabe des Subjekts
Faust, der das Absolute will, wird durch »ein paar Zeilen« an eine absolute Macht gebunden. Der Vertrag stellt symbolisch den Tausch von Freiheit gegen Wissen oder Erfüllung dar. Insofern sind diese Verse das Echo eines biblischen Motivs: wie Esau sein Erstgeburtsrecht für eine Linsensuppe verkauft, verkauft Faust seine metaphysische Integrität für das Erleben der Welt.
4. Die Dialektik von Leben und Tod
Mephistopheles nennt beide Pole des Daseins – Leben und Sterben – im selben Atemzug. Damit evoziert er die Totalität seines Anspruchs. Im Hintergrund steht eine tiefe Philosophie: Wer das Leben in seiner Totalität erfahren will, muss auch den Tod – vielleicht sogar den spirituellen Tod – in Kauf nehmen. Das ist die existentielle Wette, die Faust eingeht.
5. Kritik an juristischer Formalität
Goethe spielt mit der Kritik am damaligen Glauben an Verträge, Recht und Rationalität als Garanten von Ordnung. Indem Mephistopheles den Vertrag als triviale Formalität darstellt, entlarvt sich die moderne Vernunft als machtlos gegenüber dämonischer List und rhetorischer Verführung. Der Pakt ist äußerlich rational, aber innerlich irrational – eine Kritik an Aufklärung, die das Dämonische unterschätzt.

Faust.
1716 Auch was Geschriebnes forderst du, Pedant?
In dieser rhetorischen Frage attackiert Faust die Haltung Mephistos, der offenbar eine schriftliche Bestätigung ihres Pakts einfordert. Faust nennt ihn einen »Pedanten« – ein Begriff, der im damaligen Sprachgebrauch einen übermäßig korrekten, formelhaften, auf Vorschriften fixierten Menschen bezeichnet. Der Vorwurf hat eine klare Spitze gegen den bürokratischen, legalistischen Geist, wie er in Universitäten, Kirchen oder Kanzleien regiert – all jene Institutionen, die Goethe immer wieder ironisch darstellt.
Faust hingegen sieht sich als Mann von Tat und Geist, nicht als jemand, der durch Schriftformeln gebunden ist. Die Abneigung gegenüber dem »Geschriebenen« verweist auf ein tiefes Misstrauen gegenüber Abstraktion und Dokument – ein Motiv, das sich durch Goethes Werk zieht, etwa auch in der späteren Parodie auf das Evangelium (»Im Anfang war das Wort«). Die Schrift wird zum Symbol einer entgeistigten Ordnung, einer Welt der Buchstaben, die die lebendige Wahrheit erstickt.

1717 Hast du noch keinen Mann, nicht Manneswort gekannt?
Hier setzt Faust seine Selbstbehauptung fort: Das »Manneswort« steht für Integrität, Ehre und Vertrauenswürdigkeit – Tugenden, die keiner schriftlichen Absicherung bedürfen. Faust versteht sich als jemand, dessen bloßes Wort Gewicht hat; er will als freier, auf sich selbst gegründeter Mensch anerkannt werden. Die Wiederholung des Wortes »Mann« hebt die Betonung auf persönliche Autorität und Erfahrungsstärke.
Zugleich wird der Begriff »Manneswort« aber ironisch gebrochen durch die Gesamtsituation: Faust will sich mit dem Teufel einlassen. Dass er dabei auf die Rechtsform verzichtet, ist nicht nur ein Ausdruck von Freiheitsstolz, sondern auch von Hybris – ein Übermaß an Selbstgewissheit, das ihn blind für die Konsequenzen macht. Goethes Wortwahl lässt erkennen, wie sehr Faust sich hier in einer gefährlichen Selbsttäuschung wiegt.

Zusammenfassend 1716-1717
1. Kritik am Formalismus und an der Institutionalisierung von Wahrheit
Fausts Spott über die Forderung nach einem schriftlichen Vertrag verweist auf seine Ablehnung einer Welt, in der Wahrheit, Treue und Glaube an Dokumente gebunden sind. Dies stellt einen Angriff auf die symbolische Ordnung der Gesellschaft dar – ein nihilistisches Element in Fausts Denkweise, das ihn von den moralischen und sozialen Konventionen emanzipiert, ihn aber zugleich in ein existenzielles Vakuum führt.
2. Das »Manneswort« als Symbol für subjektive Wahrheit
In der Betonung des gesprochenen Wortes liegt ein tiefer existenzialphilosophischer Gehalt: Faust vertraut auf die Unmittelbarkeit seines Willens und die Authentizität seiner Entscheidung. Damit wird das »Wort« zum Zeichen einer Wahrheit, die nicht durch äußere Instanzen beglaubigt, sondern aus innerer Freiheit heraus bezeugt wird. Man kann hier eine Nähe zu Kierkegaards Betonung des »Subjekts« sehen – wobei Fausts Wort nicht von religiöser Innerlichkeit getragen ist, sondern von titanischer Selbstbehauptung.
3. Hybris des modernen Menschen
Faust überschätzt die Kraft seines Willens und glaubt, aus der bloßen Autorität seiner Person heraus den Teufel kontrollieren zu können. Dies verweist auf ein zentrales Motiv der Moderne: den Glauben an das souveräne Subjekt. Doch Goethe zeigt bereits hier die tragische Spannung: Das Vertrauen in das eigene Wort wird zur Selbstüberhebung, zur Verkennung der dämonischen Kräfte, mit denen man sich einlässt.
4. Dialektik von Geist und Schrift
Der Widerwille gegen das »Geschriebene« ist auch als Fortführung des Eingangsmotivs aus der »Studierzimmer«-Szene zu lesen, in der Faust verzweifelt versuchte, den Sinn des Evangeliums zu erfassen (»Im Anfang war das Wort«). Die Schrift erscheint als unzureichendes Medium für geistige Wahrheit – sie kann das Lebendige nicht fassen. Doch zugleich ist das Geschriebene in Mephistos Forderung Ausdruck einer anderen Wahrheit: der juristischen und dämonischen Ordnung, die Faust unterschätzt.

1718 Ist’s nicht genug, daß mein gesprochnes Wort
In dieser Zeile äußert Faust die beklemmende Vorstellung, dass das gesprochene Wort eine bindende Kraft besitzt. Das »gesprochene Wort« verweist hier konkret auf den Pakt, den er mit Mephistopheles im Begriff ist zu schließen – ein Vertrag, der durch die Sprache und den Willen ratifiziert wird. Die Wortwahl »gesprochen« hebt die Unwiderruflichkeit und performative Kraft der Sprache hervor, wie sie auch in theologischen und juristischen Kontexten gedacht wird: Ein einmal gesprochener Eid, ein Versprechen oder ein Schwur bindet den Sprecher – nicht nur gesellschaftlich, sondern existenziell. Faust fragt hier rhetorisch: Reicht es nicht aus, dass dieses gesprochene Wort bereits meine Lebenszeit regiert?
Die Frage ist voller Furcht und Ambivalenz: Faust scheint zu spüren, dass das Wort, einmal ausgesprochen, Konsequenzen nach sich zieht, die über seinen unmittelbaren Willen hinausreichen. Er erkennt, dass Sprache hier nicht nur Mitteilung ist, sondern Schöpfung – ein Gedanke mit biblischem Hintergrund (vgl. Und Gott sprach: Es werde Licht). Die performative Kraft des Sprechens hat metaphysische Dimensionen.

1719 Auf ewig soll mit meinen Tagen schalten?
Die zweite Zeile vertieft die Beklommenheit: Das Wort soll »auf ewig« mit seinen »Tagen schalten« – es soll also eine dauerhafte Macht über sein Leben gewinnen. Das Verb »schalten« ist doppeldeutig: Es meint sowohl das »Verfügen über« als auch das »Lenken« oder »Bestimmen«. Faust fürchtet, dass er sich durch sein gesprochenes Wort ewig bindet, dass er die Kontrolle über seine Zeit, seine Freiheit, sein Selbst verliert.
Die Zeit selbst – »meine Tage« – wird durch den Vertrag, also durch das Wort, fremdbestimmt. Diese Angst betrifft nicht nur die Zukunft, sondern die gesamte Lebensführung: Der metaphysische Vertrag könnte eine Art Verdinglichung des Menschen sein, eine Unterwerfung unter fremden Willen, unter ein dämonisches Prinzip. Zugleich wird auch die christliche Vorstellung der Ewigkeit und der unauflösbaren Bindung an ein einmal gegebenes Ja-Wort angesprochen, wie man es etwa im Kontext der Taufe oder des Glaubensbekenntnisses kennt.

Zusammenfassend 1718-1719
1. Sprache als performativer Akt
Faust ringt mit der Erkenntnis, dass Sprache nicht nur Ausdruck, sondern Tat ist. Im Sinne von J. L. Austins speech acts wäre sein gesprochenes Wort ein illokutionärer Akt, der Realität schafft – eine Bindung eingeht, die nicht mehr rückgängig zu machen ist. Damit reflektiert Faust über die metaphysische Verantwortung des Sprechens.
2. Freiheit und Determination
Die Angst, »auf ewig« gebunden zu sein, verweist auf das Ringen um Autonomie. Faust fürchtet, dass er mit seinem Willen zwar einen Moment bestimmt – durch das Wort –, aber die Zukunft unbeabsichtigt versklavt. Diese Spannung ist zentral in der Philosophie des Willens (etwa bei Schopenhauer oder später bei Nietzsche): Die Entscheidung als Moment der Freiheit, die zugleich zur Quelle der Unfreiheit wird.
3. Zeit und Ewigkeit
»Meine Tage« versus »auf ewig« stellt den Kontrast zwischen endlicher Zeit und transzendenter Ewigkeit dar. Faust empfindet eine metaphysische Enge: Das Endliche (Leben) wird durch ein Wort mit dem Unendlichen (Vertrag, Hölle, ewiges Schicksal) kurzgeschlossen. Damit berührt der Text das Problem des menschlichen Handelns im Angesicht der Unendlichkeit – eine Grundfrage theologischer wie existentialistischer Ethik.
4. Verantwortung und Angst
Diese Zeilen sind nicht nur Ausdruck rationaler Überlegung, sondern auch eines tiefen Unbehagens vor der Verantwortung, die das Subjekt durch seine Entscheidungen trägt. Sie klingen fast modern, etwa im Sinne von Kierkegaards Angstbegriff: Die Angst vor dem, was aus der Freiheit erwächst.
Fazit
Faust steht hier am Scheideweg seiner Existenz: Er weiß, dass sein »Ja« zu Mephisto eine Sprachhandlung mit ontologischer Wucht ist – kein bloßes Versprechen, sondern ein Akt, der sein Dasein verwandelt. Die beiden Verse destillieren die Tragik der menschlichen Freiheit: Die Sprache schafft Realität, aber eben auch Unumkehrbarkeit, Verantwortung, Bindung – und möglicherweise Verdammnis.

1720 Ras’t nicht die Welt in allen Strömen fort,
Faust beginnt diesen Satz mit einer rhetorischen Frage, die den Eindruck eines kosmischen, unaufhaltsamen Wandels vermittelt. Die Welt erscheint ihm als ein in Strömen dahinrasendes Ganzes – ein Bild für das dynamische, chaotische, unberechenbare Wesen der Wirklichkeit. Das Verb »rasen« ist Ausdruck einer entfesselten Bewegung, fast gewalttätig, während »Ströme« an Flüsse, Blutkreisläufe oder geistige Bewegungen denken lässt. Die Welt ist also nicht statisch, sondern im Gegenteil in ständiger, ja fieberhafter Veränderung begriffen. Dieses Bild spiegelt Fausts tiefe Skepsis gegenüber Stabilität, Ordnung und Festlegung.
Zugleich enthält die Zeile eine unterschwellige Kritik am metaphysischen Weltbild, das auf ewigen Wahrheiten oder göttlichen Ordnungen beruht. Fausts Erfahrung der Welt ist eine des Strömens, des Auflösens, des Übergangs – ein deutlicher Ausdruck des modernen Bewusstseins im Zeitalter der Aufklärung und Romantik, in dem alte Sinnsysteme fragwürdig werden.

1721 Und mich soll ein Versprechen halten?
Diese zweite Zeile bringt die existenzielle Reaktion auf das zuvor Gesagte. Faust stellt sich selbst in den Zusammenhang der rasenden Welt und zieht daraus eine Folgerung für seine eigene Bindungsfähigkeit. Das »soll« signalisiert eine empfundene Fremdbestimmung oder moralische Erwartung, während das »halten« auf Treue, Vertrag, Verlässlichkeit verweist.
Doch diese Erwartung steht in scharfem Kontrast zur als chaotisch empfundenen Welt. Wie könne ein einzelner Mensch, der Teil dieser unsteten Welt ist, durch ein bloßes »Versprechen« gebunden werden? Faust bezweifelt die Wirksamkeit des Wortes, des Versprechens – vielleicht sogar die Gültigkeit aller ethischen oder vertraglichen Ordnung.
In diesem Moment wird der Vertrag mit Mephisto ins philosophisch-existenzielle Licht gerückt: Nicht nur, dass Faust sich an kein Versprechen gebunden fühlen will – er stellt die Idee des Versprechens an sich in Frage. Es ist ein radikal moderner Gedanke: Wenn die Welt in ständiger Bewegung ist, wie kann dann noch Verbindlichkeit existieren?

Zusammenfassend 1720-1721
1. Kritik an metaphysischer Stabilität
Fausts Worte entlarven einen tiefgreifenden Zweifel an der Idee, dass es im Leben unverrückbare Wahrheiten oder Verpflichtungen gibt. Der Mensch lebt in einer Welt der »Ströme«, der Übergänge, der Transformation – dies verweist auf ein Denken, das mit Heraklit, aber auch mit modernen Existenzphilosophen wie Nietzsche oder Heidegger verwandt ist: panta rhei, alles fließt.
2. Skepsis gegenüber Sprache und Vertrag
Der »Vertrag« mit Mephisto wird in diesen Versen selbst entwertet. Sprache ist für Faust kein Garant mehr für Verlässlichkeit. Dies verweist auf eine tiefere Sprachskepsis, wie sie später etwa bei Wittgenstein oder Derrida ausformuliert wird: das Versprechen verliert seine bindende Kraft, wenn das Subjekt keine Stabilität mehr besitzt.
3. Existentialistische Selbstbehauptung
Faust erhebt sich über die moralische Forderung, sich an ein Versprechen zu binden. Dies ist Ausdruck einer radikalen Individualität, die in einer chaotischen Welt keinen äußeren Maßstab anerkennt. Die moralische Ordnung wird nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt, sondern erscheint als illusorisch.
4. Zeitkritik und Moderne
Der Vers spiegelt das Lebensgefühl der frühen Moderne: Beschleunigung, Unübersichtlichkeit, Verlust von Bindungskraft. Faust ist ein Subjekt, das sich nicht mehr in ein traditionelles Wertsystem einfügen kann – und das zugleich nach einer neuen, innerlich wahrhaftigen Existenzform sucht.
Fazit
Die beiden Verse markieren einen entscheidenden Umschlagspunkt im Dialog mit Mephisto: Faust erklärt die Idee verbindlicher Verpflichtung für nichtig angesichts der rasenden Welt. Diese scheinbar beiläufige Bemerkung bringt eine ganze Weltanschauung zum Ausdruck – eine des unsteten, zweifelnden, suchenden modernen Menschen, der keine endgültigen Sicherheiten mehr anerkennt. Es ist die Stimme eines Geistes, der nicht mehr im Glauben ruht, sondern im ständigen Werden und Vergehen seine Wirklichkeit erkennt.

1722 Doch dieser Wahn ist uns ins Herz gelegt
Der Ausdruck »dieser Wahn« verweist retrospektiv auf die vorangegangene Rede, in der Faust über das menschliche Bedürfnis nach Sinn, nach metaphysischem Trost, nach einer jenseitigen Weltordnung und nach moralischer oder spiritueller Geborgenheit reflektiert. Mephistopheles hatte zuvor dieses Bedürfnis als »Wahn« und Selbsttäuschung bezeichnet – als eine Illusion, die der Mensch konstruiert, um die Unzulänglichkeit und Endlichkeit seiner Existenz zu kompensieren. Faust gesteht hier ein, dass dieser »Wahn« nicht bloß von außen oktroyiert oder rational erschlossen ist, sondern dass er »ins Herz gelegt« wurde. Das Verb »legen« verweist auf eine tiefe, ursprüngliche Verankerung, die entweder anthropologisch (natürlich), theologisch (göttlich) oder kulturell (sozial überformt) gedeutet werden kann.
Zugleich evoziert das Bild des »Herzens« eine Doppeldeutigkeit: Einerseits steht es für Gefühl, Innerlichkeit und Menschlichkeit, andererseits für Trieb, Begehren und Wunschstruktur. Der »Wahn« ist somit nicht nur ein kognitiver Irrtum, sondern eine existenzielle Notwendigkeit, fast ein ontologisches Bedürfnis. Der Mensch ist nicht einfach ein vernünftiges Wesen, sondern ein »phantasievolles«, wünschendes, sehnsüchtiges – und deshalb auch truganfälliges – Wesen.

1723 Wer mag sich gern davon befreyen?
Diese rhetorische Frage, die formal ein resignatives Echo enthält, vertieft die vorherige Feststellung: Auch wenn der Mensch erkennt, dass er sich einem Wahn hingibt, ist er selten bereit oder imstande, sich davon zu »befreyen«. Das mittelhochdeutsch klingende »befreyen« (statt dem modernen »befreien«) lässt eine gewisse archaische Schwere mitschwingen und ruft die tiefen Bindungen des Menschen an seine Trugbilder wach. Die Formulierung »Wer mag sich gern…« impliziert, dass selbst ein Akt der geistigen Emanzipation nicht mit Leichtigkeit oder innerer Zustimmung geschieht. Der Mensch klammert sich an Illusionen, selbst wenn er sie durchschaut – eine These, die auf die paradoxe Spannung zwischen Erkenntnis und Lebenspraxis verweist.
Diese Dialektik zwischen Aufklärung und Lebensbedürfnis erinnert an Motive der Religionskritik bei Feuerbach oder Freud, vor allem aber an Goethes eigene tiefenpsychologische Intuition: Das Leben braucht sinnstiftende Fiktionen, selbst wenn sie nicht rational haltbar sind.

Zusammenfassend 1722-1723
Diese beiden Verse verdichten zentrale Themen des Faust: die Ambivalenz zwischen Wahrheit und Lebenslüge, zwischen Erkenntnisdrang und Seelenfrieden. Goethe verhandelt hier – noch vor den großen Systemphilosophen des Idealismus – das Problem der »notwendigen Illusion«, wie es später Nietzsche in »Die Geburt der Tragödie« oder Freud in »Die Zukunft einer Illusion« aufgreifen wird.
Fausts Eingeständnis bringt ihn an die Schwelle zur Tragik: Er erkennt die Illusion, aber er kann und will nicht ohne sie leben. Das verweist auf die tiefe philosophische Einsicht, dass die menschliche Existenz zwischen Sehnsucht nach Wahrheit und Bedürfnis nach Trost oszilliert. Der »Wahn« ist keine bloße Täuschung – er ist konstitutiv für das, was Menschsein überhaupt bedeutet.
In einer theologischen Lesart lässt sich das Motiv auch augustinisch deuten: Der Mensch trägt eine Unruhe im Herzen, die nur durch ein transzendentes Ziel Ruhe finden kann – ob dieses Ziel nun real oder eingebildet ist, bleibt offen. Faust ist zugleich Suchender und Gefangener seiner inneren Konstruktionen.
Fazit
Goethe stellt mit diesen Versen eine existenzielle Konstellation ins Zentrum, in der Erkenntnis, Illusion und menschliche Bedürftigkeit untrennbar verwoben sind. Der »Wahn« ist nicht bloß Trug, sondern – paradoxerweise – auch Bedingung des Lebenswillens. Wer sich »davon befreyen« will, muss bereit sein, das Leben selbst zu riskieren – wie Faust es in seinem Pakt letztlich tut.

1724 Beglückt, wer Treue rein im Busen trägt,
In dieser Zeile äußert Faust eine feierliche, fast fromm anmutende Sentenz. Das Glück — nicht als äußeres, sondern inneres, existenzielles Glück verstanden — wird hier an einen sittlich-moralischen Zustand geknüpft: die Treue, und zwar in »reiner« Form.
Die Formulierung »im Busen« verweist auf die Innerlichkeit, das Herz, das Zentrum der moralischen Integrität. »Treue« meint hier nicht bloß personale Treue (etwa in der Liebe), sondern lässt sich umfassender verstehen: als Treue gegenüber dem eigenen Gewissen, dem sittlichen Gesetz, einem überpersönlichen Ideal.
Damit stellt Faust einen Kontrapunkt zu seiner bisherigen Haltung dar: In der Szene »Nacht« sprach er noch voller Zweifel über die Grenzen des Wissens und des Glaubens. Nun aber, nach der Begegnung mit Gretchen, scheint in ihm eine andere Stimme zu erwachen — eine, die das Herz höher stellt als den Verstand, und moralische Lauterkeit als Quelle des Glücks anerkennt.
Diese Zeile hat eine stark affirmativ-moralische Klangfarbe. Es klingt wie eine Art Segensspruch: Wer diese innere Reinheit besitzt, ist »beglückt« – nicht im Sinne flüchtiger Freude, sondern im Sinne einer tiefen, ontologischen Geborgenheit.

1725 Kein Opfer wird ihn je gereuen!
Die zweite Zeile entfaltet die Konsequenz dieser inneren Treue: Wer sie besitzt, der wird auch bereit sein, Opfer zu bringen – sei es an äußeren Dingen, an persönlichen Wünschen oder selbst an Leben und Sicherheit – und wird niemals Reue empfinden.
Das Wort »Opfer« ist zentral. Es trägt religiöse Konnotationen, verweist auf Hingabe, auf einen Verzicht zugunsten eines höheren Wertes. In der Verbindung mit »gereuen« wird eine seelische Bilanz gezogen: Wer Treue in sich trägt, bereut nicht, was er aufgibt, weil sein inneres Maß bereits über dem äußeren Gewinn steht.
Diese Zeile stellt eine sittlich-heroische Maxime dar: Es ist ein Ideal moralischer Integrität, das Faust hier ausspricht — nicht aus theoretischer Überzeugung, sondern offenbar aus emotionaler Bewegung. In der Szene geht es um Gretchens religiöse Gesinnung, um ihre Reinheit und Treue. Faust, der sie liebt und zugleich verführt, erkennt in diesem Moment eine moralische Größe, die ihn selbst überragt. Seine Worte lassen sich als spontan-ergriffene Bewunderung lesen — vielleicht sogar als Ausdruck eines inneren Konflikts, denn Faust weiß: Er selbst ist nicht dieser Reine.

Zusammenfassend 1724-1725
Die beiden Verse sind von bemerkenswerter Dichte und bergen eine Reihe philosophischer Tiefenschichten:
1. Kantische Ethik und das Konzept der Pflicht
Die Vorstellung, dass Treue — als Ausdruck des sittlichen Willens — dem Menschen Glück bringt, erinnert an Kants Begriff des »guten Willens«: Nicht das Ergebnis, sondern die innere Gesinnung macht eine Handlung moralisch. Wer aus Pflicht handelt (nicht aus Neigung), lebt nach dem »kategorischen Imperativ«. Auch das Motiv des Opfers, das nicht gereut wird, passt in diesen Zusammenhang: Moralität ist unabhängig vom persönlichen Nutzen.
2. Reinheit und Opfer in religiöser Mystik
Die Rede vom »reinen Busen« evoziert mystische Vorstellungen innerer Lauterkeit. Man denke an Meister Eckharts Lehre vom »abegescheidenen Gemüt« oder an das Ideal der Heiligen, die aus Treue zu Gott Opfer bringen — etwa Maria, die Faust indirekt anruft, oder Märtyrerfiguren. In dieser Perspektive wird Treue zur Transzendenzachse, zur Voraussetzung innerer Vergöttlichung.
3. Fausts Tragik und das Doppelgesicht des Menschen
Fausts Ausspruch ist ambivalent: Einerseits erkennt er das sittliche Ideal an, andererseits weiß der Hörer, dass er dieses Ideal nicht verwirklicht. Damit liegt eine tragische Ironie über dem Satz: Wer Treue rein im Busen trägt — das wäre Gretchen. Doch derjenige, der dies ausspricht, wird sie später verraten. Es ist ein Moment der Selbstentfremdung, in dem Faust etwas Höheres anerkennt, das seiner eigenen Wirklichkeit zuwiderläuft.
4. Das Opfer als anthropologische Konstante
Opferbereitschaft als Zeichen wahrer Innerlichkeit: Diese Idee findet sich in vielen Kulturen. In Fausts Formulierung ist das Opfer nicht negativ konnotiert, sondern wird zur Bedingung echter Sinnhaftigkeit. Der Satz verweist damit auf eine alteuropäische Denkfigur: dass Glück nicht durch Genuss, sondern durch Entsagung und Hingabe entsteht. Die romantische Ethik knüpft genau hier an.
Fazit
In diesen zwei Versen bündelt sich ein Moment hoher dichterischer Verdichtung: Faust spricht eine moralische Wahrheit aus, die ihn selbst anklagt. Die Zeilen sind durchzogen von innerer Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit, Ethik und Begierde, Erkenntnis und Handlung. Inmitten seiner Verführung begreift Faust den Wert von Treue – aber er wird sie nicht leben. Damit markieren diese Verse einen zentralen Punkt im Drama: den tragischen Zwiespalt der menschlichen Natur.

1726 Allein ein Pergament, beschrieben und beprägt,
Faust äußert hier seine tiefsitzende Skepsis gegenüber der bloßen Schrift, dem toten Buchstaben. Das »Pergament« ist Sinnbild der tradierten, schriftlich fixierten Wissenschaft, wie sie an den Universitäten gelehrt wird – also das, was Faust bis jetzt jahrzehntelang studiert hat. »Beschrieben« verweist auf den Inhalt, das überlieferte Wissen, während »beprägt« eine doppelte Bedeutung hat: Zum einen verweist es auf das Äußere, etwa Siegel, Embleme, Autoritätszeichen; zum anderen aber auch auf den Vorgang der geistigen Prägung – es geht also um einen Text, der autoritativ, festgelegt, abgeschlossen ist.
Faust missachtet jedoch diesen bloßen Schriftträger. Seine Enttäuschung über die Unzulänglichkeit des Buchwissens, das er als abstrakt und lebensfern empfindet, kulminiert in dieser Ablehnung. In seinem inneren Monolog spiegelt sich die Krise des gelehrten Subjekts wider, das sich von der bloßen Theorie abwendet und eine lebendige, existenzielle Wahrheit sucht. Das Pergament wird zur Metapher für tote Überlieferung – eine Hülle ohne Geist.

1727 Ist ein Gespenst vor dem sich alle scheuen.
Die starke Metaphorik dieses Verses verleiht der Aussage dramatische Kraft. Das Pergament, also das niedergeschriebene Wissen, erscheint Faust nicht als Garant von Wahrheit, sondern als Gespenst – etwas Totes, Unheimliches, das dennoch eine unrechtmäßige Macht über die Menschen ausübt. Dieses »Gespenst« wirkt nicht durch Leben, sondern durch Furcht. Der Ausdruck »vor dem sich alle scheuen« legt nahe, dass Menschen dieser toten Autorität blindlings gehorchen, aus Ehrfurcht oder Angst vor Abweichung.
In dieser radikalen Aussage kommt Fausts tiefe Ablehnung jeglicher bloß äußerlicher, institutioneller Autorität zum Ausdruck. Er kritisiert eine Gesellschaft (und besonders eine Wissenschaft), die sich nicht aus der eigenen Erfahrung nährt, sondern vor einem Gespenst kapituliert, das längst tot, aber noch wirkmächtig ist. Damit wendet sich Faust gegen die scholastische Tradition, gegen dogmatische Gelehrsamkeit – und indirekt auch gegen das religiöse Dogma, das auf kanonischen Schriften beruht.

Zusammenfassend 1726-1727
Diese beiden Verse fassen ein zentrales Motiv des Faust I zusammen: die Kritik an der toten Schriftgelehrsamkeit und der Ruf nach lebendiger Erfahrung. Goethes Faust lehnt die Vorstellung ab, dass Wahrheit in Büchern zu finden sei. Er verlangt nach einer unmittelbaren Erkenntnis, einer »Tat«, einem existenziellen Vollzug. Insofern steht dieser Moment in der Nähe der mystischen Traditionen, die das innere Erleben über das äußere Lehrsystem stellen – ähnlich wie Meister Eckhart zwischen »gelernten Leuten« und »wahren Einsichtigen« unterscheidet.
Darüber hinaus reflektiert sich hier die Dialektik von Geist und Buchstabe, wie sie schon Paulus in 2 Kor 3,6 formulierte: »Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.« Fausts Ablehnung des Pergaments stellt ihn in die Linie jener Denker, die in der Schrift nicht die Wahrheit selbst, sondern bloß deren Schatten sehen.
Schließlich kann man diese Stelle als Teil einer erkenntnistheoretischen Wende verstehen: Es geht um eine Abkehr von der Repräsentation hin zur Präsenz, von der Vermittlung zur Unmittelbarkeit. Das »Gespenst« steht für eine Wahrheit, die sich nur vermittelt durch Sprache und Zeichen gibt – Faust aber sehnt sich nach der Wahrheit selbst. In diesem Wunsch liegt bereits die Gefahr: dass der Mensch sich überhebt, göttliches Wissen begehrt – und so seinen tragischen Weg beginnt.

1728 Das Wort erstirbt schon in der Feder
Der Vers beklagt die Leblosigkeit der Sprache im akademisch-bürokratischen Gebrauch. Die Wendung »erstirbt schon in der Feder« weist darauf hin, dass das Wort – also das geistige, lebendige Ausdrucksmittel des Menschen – noch während des Schreibakts stirbt. Das bedeutet, dass Sprache nicht mehr lebendige Kommunikation oder schöpferischer Ausdruck ist, sondern schon bei ihrer Entstehung in der Schreibfeder zum toten Buchstaben wird. Goethe spielt hier auf die Diskrepanz zwischen lebendigem Denken und totem Schriftgebrauch an. In Fausts Mund wird dies zu einer Anklage gegen das Wissenschafts- und Rechtssystem, das nicht mehr auf Wahrheit oder inneres Erfassen, sondern nur auf Form, Formalismus und Mechanik basiert.
Zugleich reflektiert dieser Vers ein zentrales Motiv der deutschen Literatur um 1800: die Ohnmacht der Sprache angesichts des Lebendigen, Unmittelbaren, Transzendenten. Das lebendige Denken wird im Akt des Schreibens verdinglicht, mechanisiert, entseelt. Fausts Klage erinnert hier an die Kritik an der Scholastik, an der Buchgelehrsamkeit, wie sie bereits im Sturm und Drang geäußert wurde – insbesondere durch Herder und Goethe selbst. Die »Feder« wird hier zur Metapher für ein Medium, das Erkenntnis nicht vermittelt, sondern unterdrückt.

1729 Die Herrschaft führen Wachs und Leder.
Dieser Vers bringt eine zweite Ebene der Kritik ins Spiel: die Anklage gegen das institutionelle System, insbesondere die Justiz und Verwaltung. »Wachs« steht metonymisch für das Siegel (also für Beglaubigung, Autorisierung), »Leder« für das Bucheinbandleder (Archiv, Gesetzbuch, Urkunde). Beide Materialien symbolisieren tote Materie – im Kontrast zum lebendigen Wort.
Die Formulierung »führen die Herrschaft« ist brisant: Nicht mehr Vernunft, Gerechtigkeit oder menschlicher Geist regieren, sondern die äußeren Zeichen und Medien von Macht – Bürokratie, Akten, Archive. Damit kritisiert Goethe die Entfremdung der gesellschaftlichen Ordnung von ihrem ursprünglichen Sinn: Gerechtigkeit, Wahrheit, Menschlichkeit. In der Welt, die Faust hier anklagt, ist Autorität nicht mehr durch Sinn und Geist begründet, sondern durch Formalität und Dokumentation. Was zählt, ist nicht der lebendige Sinn, sondern die versiegelte Urkunde, das gebundene Gesetz, das archivarische Gedächtnis.
In einem weiteren Sinne kann der Vers als Kritik an der modernen Verwaltungsgesellschaft gelesen werden – eine Welt, in der Dokumente, Regeln und Institutionen die Oberhand über das Lebendige und Ethische gewinnen.

Zusammenfassend 1728-1729
1. Sprache und Wahrheit:
Goethe problematisiert hier die ontologische Spannung zwischen lebendigem Denken und seiner sprachlichen bzw. schriftlichen Fixierung. Sprache, die ursprünglich ein Medium der Offenbarung und Erkenntnis sein könnte, verkommt im »wissenschaftlichen« oder »juristischen« Gebrauch zu einem toten Zeichen. In Anlehnung an frühromantisches Denken (Novalis, Schlegel) ließe sich sagen: Die Sprache hat ihren transzendentalen Bezugspunkt verloren.
2. Formalisierung und Entfremdung:
Die Verszeile über Wachs und Leder verweist auf eine zunehmende Veräußerlichung menschlicher Herrschaft. In Anlehnung an Hegels späteres Rechtsphilosophie-Modell könnte man sagen: Das objektive Recht hat sich von der sittlichen Idee des Rechts entfremdet. Die materielle Signatur (Wachs), das rechtliche Dokument (Leder) sind Ausdruck eines Systems, das nicht mehr dem Geist dient, sondern ihn verdrängt.
3. Medienkritik avant la lettre:
Die Verse lassen sich auch als frühe Form der Medienkritik deuten. Goethe sieht die Herrschaft der äußeren Medien (Siegel, Bücher, Schriftstücke) über das Denken, über das lebendige Wort. Damit thematisiert er ein Problem, das in der Moderne zunehmend virulent wird: die Mediatisierung der Wirklichkeit.
4. Fausts Anthropologie:
Der Mensch als schöpferisches Wesen, das durch Sprache Welt erschließt, verliert sich in einem System, das das Wort versteinert. Faust leidet an dieser Spaltung, sie begründet seinen Drang nach einer »Tat«, nach einem neuen Zugang zur Wirklichkeit, jenseits von Sprache, Feder und Buch.
Fazit
In den zwei Versen »Das Wort erstirbt schon in der Feder, / Die Herrschaft führen Wachs und Leder« verdichtet Goethe eine fundamentale Kritik an der toten Buchgelehrsamkeit, an der erstarrten Sprache der Wissenschaft und am entmenschlichten Verwaltungssystem. Fausts Stimme ist hier zugleich romantisch, existenziell und aufklärungsfern: Es geht um die Verlorenheit des lebendigen Geistes in einer Welt der Zeichen, Akten und Institutionen. Der Mensch hat das schöpferische Wort verloren – und mit ihm den Zugang zur Wahrheit.

1730 Was willst du böser Geist von mir?
Diese Anrufung enthält eine klare Zurückweisung und zugleich eine Diagnose. Faust erkennt Mephistopheles in seinem wahren Wesen: nicht bloß als listigen Gesprächspartner oder Verführer, sondern als »bösen Geist«. Damit betont Goethe die metaphysische Tragweite des Moments – die Szene ist keine bloße intellektuelle Auseinandersetzung, sondern eine Konfrontation mit dem radikal Anderen, mit der dämonischen Seite der Wirklichkeit.
Philosophisch gesehen ist dieser Satz ein Reflex auf Fausts Freiheitswillen. Er möchte sich nicht determinieren lassen, nicht beherrscht oder verführt werden. Die Frage »Was willst du von mir?« klingt nicht wie eine Bitte, sondern wie eine Verteidigung: Es ist der Moment, in dem Faust seine Eigenständigkeit behaupten will. Der »böse Geist« ist nicht einfach das Böse im moralischen Sinn, sondern vielmehr ein archetypischer Ausdruck jener Kräfte, die das menschliche Streben in eine mechanische, bindende, letztlich vernichtende Richtung zu lenken versuchen.

1731 Erz, Marmor, Pergament, Papier?
Dieser Vers besteht aus einer asyndetischen Reihe von vier Materialien: Erz, Marmor, Pergament, Papier. Die Reihe lässt sich auf verschiedene Weise deuten:
1. Symbolik des Besitzes und der Herrschaft
Die vier Materialien stehen für unterschiedliche Formen von Bindung oder Vertrag:
Erz kann auf Waffen oder Münzen hinweisen – Gewalt oder Geld.
Marmor könnte für Denkmäler, Gräber oder dauerhafte Inschriften stehen – Ruhm oder Tod.
Pergament und Papier verweisen klar auf juristische oder magische Verträge, insbesondere auf den Teufelspakt als Schriftstück.
Faust fragt hier also: Willst du mich binden durch Gewalt, durch Ruhm, durch Recht oder durch Worte? In allen Fällen sieht er sich mit äußeren Formen der Begrenzung seiner inneren Freiheit konfrontiert.
2. Abwehr der Materialisierung des Geistes
Die vier Substanzen sind Ausdruck unterschiedlicher Grade von Materialität. Sie stehen in absteigender physischer Härte – von Erz bis zum leichten, vergänglichen Papier. Der Geist (der »böse Geist«) wird durch diese Formen gezwungen, sich in Materie einzuschreiben, sich zu objektivieren. Fausts Frage weist diese Verkörperung des Geistes zurück: Er will nicht, dass das Unsagbare, das Spirituelle in ein festes Medium gezwungen wird.
3. Verweis auf die Magie
In einem weiteren Sinne spielt Goethe auf die magische Tradition an, in der Verträge mit Dämonen durch Inschriften oder bestimmte Materialien fixiert werden. Faust, der selbst zuvor noch mit magischen Zeichen experimentiert hat (vgl. Szene mit dem Zeichen des Makrokosmos), distanziert sich nun plötzlich von genau diesen Mitteln: Er erkennt die Gefahr der dämonischen Schrift, der Zeichen, der Fixierung.

Zusammenfassend 1730-1731
Im Kern geht es hier um die Freiheit des menschlichen Willens im Angesicht metaphysischer Kräfte. Fausts Frage ist nicht naiv – er erkennt sehr wohl, dass jede Bindung an ein Medium (Erz, Marmor, Pergament, Papier) auch eine Form der Selbstaufgabe bedeutet. Im philosophischen Kontext lässt sich das als Kritik an der Objektivierung des Geistes lesen, wie sie später bei Hegel oder in moderner Anthropologie diskutiert wird: Sobald das Subjekt sich durch äußere Zeichen (Verträge, Institutionen, Besitz) definieren lässt, verliert es seine existenzielle Autonomie.
Außerdem ist diese Stelle ein Reflex auf den faustischen Drang nach Transzendenz: Faust will nicht das, was sich niederschreiben oder besiegeln lässt. Er strebt nach dem Unabschließbaren, nach dem offenen Werden. Deshalb lehnt er auch die Fixierung in Materie ab – sei es durch Verträge, Denkmäler oder andere Formen der Verdinglichung des Geistes.
In theologischer Perspektive lässt sich diese Szene als moderne Paraphrase der Versuchungsgeschichte Christi deuten: Auch hier wird eine Bindung angeboten (durch Macht, Besitz, Ruhm), und auch hier wird sie zurückgewiesen. Doch Faust ist kein Christus – sein Abwehrreflex ist zwar aufrichtig, aber er bleibt ambivalent, denn später wird er sich doch auf einen Bund mit Mephistopheles einlassen. Die Ablehnung hier zeigt daher eher einen letzten Moment der inneren Unabhängigkeit – eine Zäsur vor dem Fall.

1732 Soll ich mit Griffel, Meißel, Feder schreiben?
In dieser rhetorischen Frage äußert Faust seine Bereitschaft, sich ganz in den Dienst des Teufels zu stellen – hier Mephistopheles – und ein bindendes Bündnis zu schließen. Die genannten Schreibinstrumente – Griffel (ein antikes Schreibwerkzeug, z. B. auf Wachstafeln), Meißel (der Stein gemeißelt, also dauerhaft und unvergänglich), und Feder (das klassische Schreibgerät für Verträge, literarisch oder juristisch) – symbolisieren unterschiedliche Weisen der Verbindlichkeit und Dauerhaftigkeit.
Goethe spielt mit historischen und materialen Konnotationen: Der Griffel steht für das Vorläufige, vielleicht auch das Schulische oder Literarische; der Meißel für die Ewigkeit, als würde Faust seinen Pakt in Stein ritzen; die Feder für das gewöhnlich Juristische, etwa für Verträge und schriftliche Übereinkünfte.
Faust fragt damit nicht nur nach dem Werkzeug, sondern auch – implizit – nach dem Modus der Selbstbindung: Wie radikal, wie endgültig, wie formell soll sein »Vertrag mit dem Teufel« eigentlich sein? Seine Bereitschaft ist total – das Medium spielt für ihn keine Rolle mehr.

1733 Ich gebe jede Wahl dir frey.
Diese Zeile ist der Höhepunkt dieser totalen Bereitschaft zur Selbsthingabe. Faust überlässt Mephistopheles die Wahl des Mittels – ein Ausdruck maximaler Unterwerfung und ein Akt der Selbstverleugnung. Die Freiheit der Wahl, die Faust eigentlich für sich als autonomes Subjekt beanspruchen müsste, wird hier abgegeben.
Zugleich inszeniert sich Faust als souverän in der Geste der Preisgabe: Er ist es, der »die Wahl frei gibt«. Diese paradoxe Haltung – totale Selbstaufgabe in souveräner Pose – ist typisch für die Tragik seines Charakters.
Mephistopheles als derjenige, der diese freie Wahl erhält, wird somit zum Herr des Verfahrens – der Teufel darf bestimmen, wie der Mensch sich bindet. Damit wird ein fundamentaler Bruch mit dem Ideal der menschlichen Selbstbestimmung inszeniert.

Zusammenfassend 1732-1733
Diese zwei Verse kondensieren zentrale philosophisch-theologische Motive des Faust:
1. Freiheit und Selbstbindung:
Die Abgabe der Wahlmöglichkeit an Mephistopheles stellt die Frage, ob Faust noch als freies Subjekt handelt. Der Mensch, der sich selbst restlos einer Macht übergibt, entäußert seine Autonomie – und gerade darin offenbart sich die Tragik seines Freiheitsdranges. Es ist ein Akt der absoluten Willensfreiheit – aber zugleich der völligen Preisgabe eben dieses Willens.
2. Medium und Wahrheit:
Die unterschiedlichen Schreibwerkzeuge lassen sich auch als Metaphern für verschiedene Wahrheitsebenen deuten: Das Vorläufige (Griffel), das Ewige (Meißel), das Konventionelle (Feder). Goethe stellt damit die Frage: Wie lässt sich ein existenzieller Entschluss überhaupt angemessen fixieren? Ist es das Zeichen, das zählt – oder der Wille dahinter?
3. Faust als moderner Prometheus:
Der Mensch, der sich an die Grenze der Selbstermächtigung wagt, spielt mit den Mitteln des Vertrages, der Symbolik des Bundes. Doch dieser Bund ist nicht mit Gott, sondern mit dem Teufel geschlossen – eine Umkehr der alttestamentlichen Vorstellung vom Bund als Ausdruck göttlicher Treue. Faust ist hier ein Anti-Moses, der die Gesetzestafel nicht empfängt, sondern sie selbst dem Teufel zur Verfügung stellt.
4. Ironie und Maskenspiel:
Schließlich liegt eine tiefe Ironie in der Szene: Die Betonung auf der Freiheit der Wahl wirkt fast übertrieben – sie entlarvt Fausts Hochmut. In seinem Streben, alles zu überbieten, entgeht ihm, dass er sich in einem Spiel der Kräfte verliert, das er nicht kontrolliert.
Fazit
Diese Verse markieren damit den Übergang von innerer Verzweiflung zu äußerer Handlung, von philosophischer Spekulation zu dämonischer Tat – ein Wendepunkt, der den Faust endgültig in den Bereich des Tragischen und Dämonischen führt.

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